# taz.de -- Berlinale-Film „Welcome to Chechnya“: Die „gesäuberte“ Rep… | |
> In „Welcome to Chechnya“ zeigt David France die verheerenden | |
> Menschenrechtsverletzungen gegenüber LGBTQI+ in Tschetschenien. | |
Bild: Still aus „Welcome to Chechnya“ von David France | |
Ein Mann telefoniert über Lautsprecher. Die Stimme am anderen Ende ist | |
weiblich, spricht russisch. Sie hat Angst, denn ihr Onkel hat | |
herausgefunden, dass sie lesbisch ist, und droht sie zu verraten. Auf dem | |
Display steht „A8“. A8 heißt eigentlich Anya – so wird sie jedenfalls in | |
„Welcome to Chechnya“ genannt – dem Panorama-Beitrag des US-amerikanischen | |
Investigativreporters David France. | |
Anyas wahren Namen erfahren wir nicht – wie auch die der meisten anderen | |
Protagonist*innen bleibt ihre Identität geschützt. Denn sie alle teilen ein | |
ähnliches Schicksal: Als [1][queere Menschen] werden sie in ihrer Heimat, | |
der russischen Teilrepublik Tschetschenien, verfolgt, gefoltert und | |
getötet. | |
In seinem dritten Dokumentarfilm begleitet France die beiden | |
LGBTQI+-Aktivist*innen David Isteev und Olga Baranova, die tagtäglich ihr | |
Leben aufs Spiel setzen, um Menschen bei der Flucht aus dem Land zu helfen. | |
Alles begann 2017 mit einer Drogenrazzia, bei der Mitarbeiter*innen der | |
Behörden „schwule Fotos und Nachrichten“ auf einem Handy fanden, erzählt | |
Isteev zu Beginn. Der Besitzer des Telefons wurde so lange gefoltert, bis | |
er andere denunzierte. | |
Was darauf folgte, wird als „Säuberungsaktion“ beschrieben: Homosexuelle | |
Männer und Frauen wurden verhaftet und übel zugerichtet – viele erst zum | |
Sterben wieder freigelassen. In einigen Fällen sollen gar Familien | |
gezwungen worden sein, ihre Verwandten zu töten, um „die Schande mit Blut | |
wegzuwaschen“. | |
## „Solche Leute“ gibt es nicht bei uns | |
In einem Interview mit dem US-Sender HBO im Juli 2017 dementierte der | |
tschetschenische Staatspräsident Ramsan Kadyrow jegliche Repression gegen | |
homosexuelle Menschen. Er ging sogar so weit zu behaupten, dass es „solche | |
Leute“ bei ihnen im Land gar nicht gäbe. „Wir haben keine Schwulen. Und | |
wenn es sie gibt, nehmt sie mit […], weit weg von uns, damit unser Blut | |
gesäubert wird“. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass sich France filmisch mit Themen aus der | |
queeren Community befasst. Für sein 2012 erschienenes Werk „How to Survive | |
a Plaque“, in dem er die Anfänge des HI-Virus dokumentiert, erhielt er 2013 | |
eine Oscar-Nominierung. | |
In seinem aktuellen Werk macht er auf fortwährende Missstände aufmerksam | |
und gewinnt damit völlig zu Recht den diesjährigen Teddy Activist Award. | |
Mithilfe von Handyaufnahmen, die schreckliche Gewaltszenen offenbaren und | |
Interviews mit Betroffenen dokumentiert France jene | |
Menschenrechtsverletzungen, von denen vor Ort niemand wissen will. | |
Die Rettungsaktionen, bei denen er Isteev und Baranova begleitet, sind | |
derart riskant, dass es fast schwer fällt zu glauben, sie seien nicht bloß | |
inszeniert. Doch die Angst, mit der die Befragten hier ihre Erlebnisse | |
preisgeben, ist nicht gespielt. Das zeigt sich unter anderem darin, dass | |
die Betroffenen mittels Deep-fake-Technologie verfremdet werden müssen. | |
Erst gegen Ende löst sich bei einem jungen Mann, der bis dahin Grisha | |
genannt wurde, das verfälschte Antlitz auf. Maxim Lapunov, wie er wirklich | |
heißt, ging bereits 2017 mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit und | |
vor ein Moskauer Gericht, um Gerechtigkeit zu fordern. Bis heute hat er | |
keine bekommen. Bleibt zu hoffen, dass Frances eindrücklicher Film dazu | |
beiträgt, ihm und anderen diese endlich widerfahren zu lassen. | |
29 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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