# taz.de -- Film „100 Tage, Genosse Soldat“ im Stream: Ort ohne Entkommen | |
> Der Spielfilm „100 Tage, Genosse Soldat“ von Hussein Erkenov ist ein | |
> Klassiker des schwulen sowjetischen Kinos. Jetzt ist er im Stream zu | |
> sehen. | |
Bild: In „100 Tage, Genosse Soldat“ kümmern sich die Männer umeinander od… | |
Manchmal findet man noch Filmplakate, die gezeichnet sind. Für den Film | |
„100 Tage, Genosse Soldat“, den die Edition Salzgeber in einer digital | |
restaurierten Fassung in ihrem Salzgeber Club zur Verfügung stellt, gibt es | |
ein solches. Es zeigt den Oberkörper eines jungen Mannes bis knapp unter | |
die Brustwarzen und endet kurz unter seinen Augen. | |
Der Mann ist nackt. Aber zwei Knöpfe mit eingeprägten Sternen haften an der | |
Stelle, wo sonst ein Hemd gewesen wäre, und zwei Schulterklappen sind auf | |
die blanken Schultern genäht. Blutspuren laufen von Knöpfen und Klappen | |
hinunter. Der Mund des Mannes ist starr, ein zarter Bartflaum ist | |
erkennbar, im Hintergrund deprimieren trostlose Kacheln. | |
Es ist eine Zeichnung, die viel von dem preisgibt, womit man es in „100 | |
Tage, Genosse Soldat“ (UdSSR 1990) des usbekischen Regisseurs Hussein | |
Erkenov zu tun bekommt. Der Film spielt Ende der achtziger Jahre auf einer | |
Militärbasis der Roten Armee. Einige der Soldaten werden in Hussein | |
Erkenovs Geschichte, die auf einer Erzählung des russischen Schriftstellers | |
Juri Poljakow fußt, ein wenig näher vorgestellt, aber im Grunde kann davon | |
keine Rede sein. Genauso wie das Wort „Geschichte“ auf ein Narrativ | |
verweist, das man hier vergeblich sucht. Möchte man doch eines finden, muss | |
man erfinderisch werden. | |
Anhaltspunkte, um sich eine Geschichte zu bauen, gibt es genug. Seien es | |
die Bilder von Kameramann Vladislav Menshikov, die zwischen ornamentalen | |
Gruppenaufnahmen (Hundertschaften traben über einen Pfad und schlängeln | |
sich in ein Dorf) und so rätselhaften wie kraftvollen Porträts wechseln und | |
dabei eine Welt erzeugen, die realistisch und gleichzeitig traumartig | |
anmutet. Oder die mehrfach aufblitzenden Hinweise auf eine Bibelgeschichte | |
über den heiligen Georg und den von ihm getöteten Drachen. | |
Nicht zu vergessen der Psalm, mit dem „100 Tage, Genosse Soldat“ eröffnet: | |
„Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch – der Leute Spott und verachtet vom | |
Volk.“ | |
## Kein Film zum Löffeln wie Eiscreme | |
Erkenov hat ein dunkles, schönes Poem geschaffen. Es wird all jene | |
überfordern, die einen Film gerne löffeln wie eine Packung Eiscreme. Denn | |
in der schönen Creme dieser Bilder verbergen sich Splitter, die keine | |
Schokolade sind. Es wird gestorben, immer wieder, aber Ursachen und Anlässe | |
bleiben vage. Mal liegt einer tot im Bett (die blasse Leiche springt einem | |
Soldaten entgegen, als er die Bettdecke hebt), dann baumelt einer am | |
Strick. | |
Die Männer kümmern sich zwar umeinander, seifen sich gegenseitig die | |
makellosen Körper in Waschsälen ein, aber es kommt auch vor, dass einer | |
angepinkelt wird oder man ihm eine Schüssel Suppe ins Gesicht kippt. | |
„100 Tage, Genosse Soldat“ ist Chernukha, ein Begriff, der auf das | |
russische chernyy (schwarz) referiert und mit dem vor allem Filme, | |
Literatur und Reportagen aus der Zeit von Glasnost und Perestroika gemeint | |
sind. Es sind der Realität entnommene Geschichten, die sich aber vor allem | |
auf deren pessimistische Aspekte konzentrieren. | |
Vasilii Pichuls herausragender Film „Kleine Vera“ (UdSSR 1988), der das | |
Heranwachsen einer jungen Frau zwischen Alkoholismus und Gewalt schildert, | |
ist Chernukha. Genauso wie noch heute populäre Dokumentarformate, die etwa | |
Autounfälle zum Inhalt haben. | |
Chernukha an „100 Tage, Genosse Soldat“ ist die dargestellte | |
„Dedowschtschina“, eine besonders in Militärstrukturen verbreitete Gangart, | |
die mit „Herrschaft der Großväter“ zu übersetzen wäre. Sadistisch | |
operierende Hierarchien, die den Einzelnen in die Verzweiflung treiben. | |
Erkenovs Militärbasis ist ein Ort, von dem es kein Entkommen gibt. Wenn auf | |
einem Gemälde zum Schluss dann doch ein sehr blasser Regenbogen | |
aufschimmert, könnte damit eine Hoffnung verbunden sein. Allerdings prangt | |
er hinter einer Selbstmörderbrücke. | |
28 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
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