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# taz.de -- Queerer Film „Beautiful Thing“ im Stream: Ein Traum von Tanz, d…
> „Beautiful Thing“ war 1996 der erste große Film mit jungen schwulen
> Hauptfiguren. Unser Autor hat ihn, nach über zwei Dekaden, wieder
> gesehen.
Bild: Happy End im Betonbrutalismus ohne Kitsch für Ste (Scott Neal, links) un…
Was für ein Coming-out, diese finale Szene aus „Beautiful Thing“ von 1996!
Coming-out im wahrsten Wortsinn: Im Betonhof einer Sozialbausiedlung tanzen
vier Menschen. Die brutalistische Architektur der Plattenbauten hält sie
nicht vom Trösten und vom Träumen ab, hier im ärmlichen Thamesmead im
Südosten Londons. Auch nicht die anderen Leute um sie herum, die starren,
wahlweise amüsiert, angewidert, akzeptierend oder angetan.
Jamie und Ste, zwei Jungs von 16 Jahren, legen einander ihre Hände auf die
Schulter, auf die Hüfte des jeweils anderen, und sie haben einander, von
ganzem Herzen. Die Welt kann ihnen nichts mehr anhaben in diesem Moment.
Was eine große Überraschung ist: dass auch Jamies Mutter Sandra und das
Nachbarsmädchen Leah schließlich miteinander tanzen, die sich vorher bei
jeder Gelegenheit angekeift haben. Was keine große Überraschung ist: Dass
während dieses Tanzes ein Song von Mama Cass laufen muss – denn quasi der
komplette Soundtrack von „Beautiful Thing“ besteht aus Songs von Mama Cass,
schon vom Vorspann an.
Hier meint es jemand ernst. „Dream a Little Dream of Me“ läuft also am
Ende, Mama Cass intoniert jazzy, optimistisch-sehnsuchtsvoll von den „sweet
dreams that leave all worries behind you“. Kitsch? Mitnichten. Kitsch ist
die sinnentleerte Form von Altbekanntem.
Aber das war 1996 unerhört, wagemutig und seiner Zeit schon weit voraus:
dass zwei Jungs, denen man auf dem Schulhof und zu Hause „Schwuchtel“ ins
Gesicht und in die Seele knallt, während man sie niederdrischt – dass diese
Jungs am Ende miteinander tanzen dürfen. Dass ihre Liebe gefeiert wird als
eine, die sich nicht zu verstecken braucht.
## Hohe Selbstmordquote queerer Jugendlicher
„Beautiful Thing“ hat mein Leben verändert. Und sicher auch das von vielen
anderen schwulen, lesbischen, bisexuellen Teenagern seinerzeit, die den
Film in den späten Neunzigern gesehen haben und sich vorher geschämt
hatten, weil sie dachten, etwas könnte so sehr falsch mit ihrem Körper und
ihren Gefühlen sein, dass sie niemals glücklich werden würden.
Die Selbstmordquote queerer Jugendlicher ist bis heute viel höher als die
ihrer heterosexuellen Peers, je nach Studie zwei- oder dreimal höher, aber
die exakte Zahl ist gar nicht der springende Punkt, sondern: dass die
Gesellschaft diesen queeren Teenagern immer noch zu oft vermittelt, dass
sie falsch sind.
„Die Gesellschaft“ klingt abstrakt und ist doch knallhart konkret: der
Pausenhof, auf dem man „Schwuchtel“ schreit; die Eltern, die das Queersein
ihrer Kinder leugnen und verstecken – als wäre es ein Makel, dessen sie
sich selber schämen. Wäre das heutzutage, ein Vierteljahrhundert nach der
Premiere von „Beautiful Thing“ möglich, dass Jamie und Ste in einem
x-beliebigen U-Bahn-Waggon tanzen ohne Angst und Anfeindungen? Ich würde es
mir so sehr wünschen.
## Outing per Youtube
Das Medienverhalten hat sich gravierend verändert in den letzten 25 Jahren
und damit, zum Glück, auch die Sichtbarkeit von queeren Jugendlichen. 2013
hat sich [1][Troye Sivan], damals 18 Jahre jung, inzwischen Popstar
weltweit, in einem Youtube-Video als schwul geoutet.
Queere Jugendliche, die dachten, sie wären die einzigen in ihrem Umfeld,
auf ihrer Schule, bekamen Bezugspunkte, role models – inzwischen auch sehr
stark in [2][Streamingserien wie „Sex Education“, „Tote Mädchen lügen
nicht“, „Elite“ oder „Stranger Things“, die, oft ganz nebenbei und da…
ganz selbstverständlich, junge queere Charaktere] zeigen.
Der psychische Effekt, sich nicht mehr allein und makelbeladen zu fühlen,
ist immens. In den späten Neunzigern war das noch ganz anders: Vor
„Beautiful Thing“ hatte ich von keinem einzigen anderen Film gehört mit
jungen schwulen Figuren, die in meinem Alter gewesen wären. Es gab Komödien
wie „Der bewegte Mann“ mit Til Schweiger, aber das war alles so sehr auf
Klamauk gebürstet und hat Schwule so sehr durch den Kakao gezogen, dass ich
mich für keine Minute damit identifizieren konnte, schon gar nicht auf eine
erbauliche Weise.
## Offenbarung für schwulen Teenager im kleinen Dorf
„Beautiful Thing“ hab ich im Nachtprogramm auf VHS-Kassette aufgezeichnet.
Ich hatte Angst, dass meine Eltern sehen, dass der Videorecorder anspringt,
denn der leuchtete dann immer ganz hell auf, sodass es im ganzen Wohnzimmer
in unserem Reihenhaus in der rheinhessischen Provinz sehr sichtbar gewesen
wäre. Dafür war ich definitiv nicht bereit, weshalb ich andere
Videokassetten vor dem Recorder platziert habe, um das Licht zu verstecken.
Am nächsten Nachmittag konnte ich mir „Beautiful Thing“ klammheimlich
anschauen. Was für eine Offenbarung für einen schwulen Teenager in einem
kleinen Dorf, der denkt, allein zu sein!
Nun, 2020, da ich in den letzten Jahren Dutzende Serien und Filme mit
queeren Charakteren gesehen (und darüber geschrieben) habe, hatte ich
zunächst sogar Zweifel, ob ich mir „Beautiful Thing“, just digital
restauriert und neu veröffentlicht, noch einmal anschauen soll. Einerseits
war da eine starke Neugier, auch Nostalgie, natürlich, andererseits die
Befürchtung, ob er mir inzwischen vielleicht altbacken, grobschlächtig
vorkommen würde. Würde ich mir dadurch eine alte, wertvolle Erfahrung
„kaputt machen“?
## Mit alleinerziehendem Vater in der Sozialbauwohnung
Spoiler: Absolut nicht, dieser Film ist immer noch ein Juwel. Auch wenn man
sich, mit all den Netflix-Serien im Kopf, schnell denkt, dass Storyline und
Charaktere in „Beautiful Thing“ eigentlich genug Stoff für eine ganze
Serienstaffel böten: Ste (Scott Neal) lebt in einer Sozialbauwohnung mit
seinem alleinerziehenden Vater, der irgendwie auch kein alleinerziehender
Vater ist, da Stes Bruder auch gerne mal alkoholisiert zuschlägt, wenn der
Verdacht aufkommt, dass Ste zu „weichlich“ ist.
Einmal ist Ste so verletzt, dass die Nachbarin Sandra, die alleinerziehende
Mutter von Jamie, Ste anbietet, er solle bei ihnen übernachten. Jamie (Glen
Berry) hatte ohnehin in der Schule schon ein Auge auf Ste geworfen und
massiert dessen Verletzungen nun liebevoll mit Pfefferminzlotion. Die
Szenen sind mitnichten sexualisiert, sondern einfach zauberschön und
zärtlich. Am nächsten Morgen ist Ste überfordert, zaudert und hadert mit
seinen Gefühlen für Jamie.
Als ob das nicht genug für einen Film von 90 Minuten wäre, tun sich auch
noch allerlei Nebenplots auf mit so lebhaften Nebenfiguren, dass man kaum
noch von „neben“ sprechen möchte.
Erstaunlicherweise wirkt der Film damit trotzdem zu keinem Zeitpunkt
überladen, alles fügt sich organisch zusammen: In den hellhörigen
Sozialbauwohnungen, die ohnehin über einen gemeinsamen langen
Beton-„Balkon“ zu den jeweiligen Eingängen verbunden sind, sind auch die
Schicksale eng miteinander verwoben – zum Beispiel auch das des schwarzen
Nachbarmädchens Leah, das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit
Songs von Mama Cass performt, auch mal unter zu viel Drogen.
## An toxischer Maskulinität „geschult“
Warum Mama Cass, warum nicht Madonna? „Madonna ist ’ne Schlampe“, erwidert
Leah (Tameka Empson) auf die Frage von Sandra (Linda Henry). (Beide tollen
Schauspielerinnen sind übrigens inzwischen TV-Stars der in England sehr
bekannten Serie „EastEnders“.)
Sowieso fällt mir jetzt, nach all den Jahren, auf, wie grob bis aggressiv
die Figuren, auch die Frauen in „Beautiful Thing“ oft miteinander sprechen,
wie sie sich, an toxischer Maskulinität „geschult“, gegenseitig sexuell
diskriminieren, indem sie das Lust- und Liebesleben der je anderen
abwertend kommentieren – was hart kontrastiert mit der Beziehung von Jamie
und Ste, die auf Respekt gründet.
Es stimmt sicherlich, dass „Beautiful Thing“ 1996 Pionierarbeit geleistet
hat, basierend auf dem Theaterstück von Jonathan Harvey (der kürzlich
übrigens auch für die Pet Shop Boys einen Musicalstoff geschrieben hat), in
Szene gesetzt von der Regisseurin Hettie Macdonald.
## Der Umgangston in „Beautiful Thing“ ist oft ruppig
Schaut man sich die aktuelle britische Netflix-Serie „Sex Education“ an,
fällt das ganz besonders auf. Anders als im fabelhaften Pfirsichgarten von
[3][„Call Me By Your Name“ (2017)] oder bei den super verständnisvollen
Eltern von Simon in „Love, Simon“ (2018), der ersten Produktion eines
Major-Hollywood-Studios mit einer jugendlichen schwulen Hauptfigur, ist der
Umgangston in „Beautiful Thing“ oft ruppiger und das Setting
sozialrealistischer: Man lebt nicht bürgerlich-privilegiert, sondern im
Plattenbau.
Trotzdem kann auch Sandra, die Mutter, die schließlich das Schwulsein ihres
Sohnes akzeptiert, als gutes role model für Eltern queerer Jugendlicher
gelten. Und weil dieser Text, etwas verquer, mit dem Ende begonnen hat,
soll er auch mit dem Anfang enden: Zum Vorspann singt, natürlich, Mama Cass
„Make Your Own Kind of Music“, darüber, wie wichtig das ist, seinen eigenen
Song zu singen, seine eigene Story zu erzählen: „Nobody can tell ya /
There’s only one song worth singing.“
In diesem Sinne: „Beautiful Thing“ ist nicht die einzige queere Story, die
wir brauchen, aber war eben doch, in vielerlei Hinsicht, die erste, was
junge Figuren betrifft. Ein absolut sehenswerter, liebenswerter
Meilenstein, der vieles später möglich oder zumindest einfacher machte und
macht.
9 Jul 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Hochgesand
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