# taz.de -- Queere Filme und Serien im Streaming: Mehr lesbische Superheldinnen! | |
> Kino und TV zeigen immer noch zu wenige queere Stoffe und Figuren. Besser | |
> ist die Lage beim Streaming. Welche Trends fallen diese Saison ins Auge? | |
Bild: Von der Beziehung Emily Dickinsons zur Frau ihres Bruders erzählt der Fi… | |
Es gibt da ein großes Missverständnis: Weit verbreitet ist inzwischen der | |
Irrglaube, queere Stoffe seien in den Massenmedien angemessen angekommen. | |
Schnell fallen einem die [1][Oscar-Gewinner „Call Me By Your Name“ (2017)] | |
und [2][„Moonlight“ (2016)] ein. Dann ist aber auch schon Schluss. Die | |
MaLisa Studie kam 2017 in einem Prä-Test zu dem Ergebnis, dass queere | |
Stoffe im deutschen Fernsehen und Kino weniger als 0,2 Prozent ausmachen – | |
also so selten vertreten sind, dass man sie statistisch kaum erfassen kann. | |
Das steht in einem peinlichen Missverhältnis zu der Tatsache, dass rund 10 | |
Prozent der Menschen queer sind: nicht-hetero, trans oder intersexuell. | |
Peinlich für die Filmförderung und die Redaktionen, dass sie die | |
Lebensrealität all dieser Menschen anscheinend für nicht oder kaum | |
erzählenswert befinden. Aber auch schmerzlich für ebenjene Menschen. | |
Hoffnung schaffen seit einigen Jahren die Streamingdienste, etwa mit der | |
Golden-Globe-prämierten Amazon-Serie „Transparent“ (2014–2019) über Mau… | |
eine trans Frau im Ruhestand, und ihre jüdische Familie in Kalifornien. | |
Oder seit 2018 die Emmy-nominierte Netflix-Serie „Pose“ über die nichtwei�… | |
queere Voguing-Szene im New York der ausklingenden 1980er. Beide Male klar | |
mit sehr viel Queerness im Fokus. | |
## Queere Charaktere mit lockerer Selbstverständlichkeit | |
Im Jahr 2020 zeichnet sich aber zudem ein anderer Trend ab: | |
Streamingserien, deren zentrales Thema nicht Queerness ist, zeigen trotzdem | |
queere Charaktere, mit einer lockeren Selbstverständlichkeit. Ein | |
herausragendes Beispiel dafür ist die britische tragikomische | |
Teenager-Serie „Sex Education“, deren zweite Staffel 2020 auf Netflix | |
anlief – in ihrem Zentrum steht Otis Milburn, dessen Mama Sextherapeutin | |
ist und der sich deshalb trotz Mangel an Erfahrungen auf eine liebenswerte | |
Weise auch dafür geeignet hält, seine Mitschüler*innen in Sexfragen | |
professionell zu beraten. | |
Otis’ bester Kumpel, mit dem er stets zusammen zur Schule radelt, ist Eric | |
Effiong, schwarz und schwul. Zunächst schien Eric bloß ein dramaturgisch | |
eher unbedeutender Sidekick zu sein, der die hippsten T-Shirts anzieht und | |
die coolsten Witze auspackt. Im Lauf der ersten Staffel bekam er dann aber | |
sehr viel mehr Screentime, wurde phasenweise zur heimlichen Hauptfigur von | |
„Sex Education“ – sodass ein vielschichtiger nichtweißer schwuler | |
Hauptcharakter entstand. | |
Während man „Sex Education“ hoch anrechnen muss, dass es trotz seiner in | |
Leuchtfarben gehaltenen heiteren Grundtonalität die (Gefühls-)Welt seiner | |
Figuren stets ernst nimmt, sollte man für die spanische | |
Teenage-Thriller-Serie „Elite“, ebenfalls Netflix, schon eine gewisse | |
Toleranz für Trash und Telenovela mitbringen. Mord, Drogen, Intrigen und | |
ein bisschen Reichtumskritik treiben hier die Handlung an einer | |
weiterführenden Upperclass-Schule voran, auch in der dritten Staffel von | |
2020. | |
## Bisexuelle Dreierbeziehung | |
Wer damit klarkommt, wird belohnt mit einer wider Erwarten subtil erzählten | |
schwulen Liebesgeschichte zwischen Ander und Omar, dem Sohn eines | |
muslimischen Obsthändlers. „Elite“ dürfte insgesamt die höchste Quote | |
nichtheterosexueller Figuren in einer nicht dezidiert queeren Serie | |
auffahren – darunter auch Polo, der sich in einer bisexuellen | |
Dreierbeziehung versucht, für die seine beiden lesbischen Mütter so gar | |
kein Verständnis haben. Moralisch sind hier die nichtheterosexuellen | |
Figuren oft genauso fragwürdig wie ihre heterosexuellen Gegenparts. Auch | |
das ist gut so, sie werden nicht als Bösewichte herausgestellt, aber auch | |
nicht idealisiert. | |
Das neueste Beispiel einer Serie, die der Nichtheterosexualität viel Raum | |
gibt, obwohl das nicht ihr Hauptsujet ist, ist die Verfilmung der Graphic | |
Novel „I Am Not Okay With This“, die im Februar auf Netflix anlief: Syd | |
Novak, ein 17-jähriges Mädchen, entdeckt, dass sie übersinnliche, | |
telekinetische Superkräfte hat. Der Suizid des Vaters ist tabu in der | |
Familie. Und sozusagen „nebenbei“ hat Syd sich in ihre beste Freundin Dina | |
verknallt. | |
Insgesamt muss sie lernen, mit sich selbstbewusst klarzukommen – der | |
lesbische Crush ist nur ein Teil davon. Man kann natürlich darüber | |
spekulieren, ob die Superkräfte, wie schon bei den „X-Men“-Comics, auch | |
Chiffre für gesellschaftlich verachtetes Anderssein darstellen. Coming-outs | |
am Rande gab es übrigens 2019 sogar in der viel gelobten Mystery-Serie | |
„Stranger Things“ (Netflix) und unlängst 2020 in „Star Trek: Picard“ | |
(Amazon Prime). | |
## Lesbische Sprengkraft | |
Erfreulich, dass die auch im Queer Cinema noch immer unterrepräsentierten | |
Frauen 2020 zunehmend aufholen! Im Februar auf DVD und im | |
Video-on-Demand-Bereich der Edition Salzgeber erschienen ist die lesbische | |
historische Komödie „Wild Nights With Emily“ der Regisseurin Madeleine | |
Olnek, um die Weltklasse-Dichterin Emily Dickinson (1830–1886). Die hatte | |
nicht nur eine historisch verbürgte langjährige Liebesbeziehung zu der Frau | |
ihres Bruders, sondern hat diese auch in Hunderten Gedichten zelebriert, | |
die jedoch im posthumen Lektorat ihrer lesbischen Sprengkraft beraubt | |
wurden. | |
Der Film macht das sehr deutlich, behält dabei aber einen komödiantischen | |
Zugang, der glücklicherweise nie ins Alberne abdriftet. Dieses Rezept ging | |
ja auch schon bei der fast zeitgleich gedrehten [3][lesbischen | |
Liebesgeschichte „The Favourite“ von Yorgos Lanthimos] ausgesprochen gut | |
auf. Und das tut es auch bei der in der ebenfalls im Februar bei Salzgeber | |
erschienenen schwulen brasilianischen Komödie „Cousins“, in der sich eine | |
Romanze und ein aberwitziges Bunny-Rollenspiel unter, ja, Cousins nicht | |
kleinkriegen lässt von provinziell katholisch-frommer Enge. | |
Eine neue Leichtigkeit also: Queers nicht immer nur als leidende Opfer, | |
sondern als Menschen, denen das Drehbuch (des Lebens) auch mal Spaß gönnt – | |
und die Probleme nicht verbannt, aber ihnen doch den Schrecken des | |
Unüberwindbaren nimmt. Diese Heiterkeit tut übrigens auch der gerade erst | |
Mitte März gestarteten Netflix-Serie „Feel Good“ mit der Komikerin Mae | |
Martin sehr gut, bei der zwischen zum Brüllen komischen Szenen dennoch | |
Platz bleibt für Suchtprobleme und Coming-out-Ängste. | |
## HIV und Aids erleben als Topos ein Revival | |
Neben dieser neuen Leichtigkeit und der Queerness in den | |
Mainstream-Streamingserien fällt in dieser Saison auch auf: HIV und Aids | |
erleben als Topos ein Revival. Etwa in Zeitsprüngen zwischen Millennium und | |
1980ern in „The End of the Century“, 2020 digital und auf DVD bei Pro-Fun | |
erschienen. Lange wollte das Queer Cinema damit nicht mehr so viel zu tun | |
haben, weil es bei diesem Thema eben leicht passieren kann, Schwule als | |
Opfer ihrer Lust in Szene zu setzen. | |
Außerdem erscheint Aids heutzutage nicht mehr als Todesurteil. [4][Das | |
französische Drama „120 bpm“ (2017)] hat da wohl einen Turn bewirkt, indem | |
es die HIV-Pandemie auch als historisches Versagen der heteronormativen | |
Politik herausarbeitete, die die Tode einfach hinnahm – und die Kranken | |
schmähte. | |
## Die Krankheit bleibt unaussprechlich | |
Das wird auch in der aktuellen zweiten Staffel von „Pose“ deutlich | |
herausgearbeitet. Auf besonders berührende Weise geschieht dies auch in dem | |
im Winter bei Salzgeber erschienenen Drama „1985“ von Regisseur Yen Tan, in | |
dem der an Aids erkrankte Adrian seine Eltern und seinen jüngeren Bruder | |
ein letztes Mal wiedertrifft und die Krankheit doch unaussprechlich bleibt. | |
Sehr gut gealtert ist der frisch restaurierte Film „Buddies“, der aus dem | |
Jahre 1985 stammt. Hier geht es um das emotionale Band zwischen zwei jungen | |
schwulen Männen, von denen einer todkrank im Hospital liegt. Man sieht | |
diese Filme, bei aller Vorsicht vor vorschnellen Parallelen, in diesen | |
Tagen der Pandemie noch mal anders. | |
Und gibt es nun gar keine klassischen Homo-Coming-out-Geschichten mehr im | |
Jahre 2020? Doch, da ließen sich zum Beispiel „Everything is Free“ (DVD und | |
VoD bei Pro-Fun) oder besonders der gerade Ende März erschienene „Giant | |
Little Ones“ (DVD bei EuroVideo) empfehlen. Aber auch da gib es neben den | |
schwulen Figuren immer noch mehr Diversity, etwa trans Charaktere. Und auch | |
die schwulen Figuren sind gar nicht mehr so unbedingt nur schwul. Gute | |
Zeiten gerade für das Queer Cinema in Streamingzeiten. | |
1 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Schwuler-Coming-of-Age-Film/!5485639 | |
[2] /Oscar-Sieger-Moonlight-im-Kino/!5387559 | |
[3] /Oscar-Kandidat-The-Favourite/!5565333 | |
[4] /Regisseur-ueber-Aids-Film-120-PBM/!5463694 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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