# taz.de -- Oscar-Kandidat „The Favourite“: 300 Jahre vor #MeToo | |
> Der Film „The Favourite“ stellt drei Frauen und ihre Erfahrungen ins | |
> Zentrum. Das Ränkespiel ist für zehn Oscars nominiert. | |
Bild: Emma Stone im Film „The Favourite“ | |
BERLIN taz | So könnte sexuelle Belästigung im frühen 18. Jahrhundert | |
ausgesehen haben: Da reist eine alleinstehende junge Dame in der | |
Postkutsche; die Sitzverhältnisse sind beengt, die Fahrt ist holprig. | |
Dankbar für das freundlich-verständnisvolle Lächeln des jungen Mannes, der | |
ihr gegenüber sitzt, lächelt sie zurück – um dann mit Schrecken zu | |
erkennen, dass der die Situation dafür nutzt, sich in die Hose zu fassen | |
und einen runterzuholen. Damit nicht genug: Als sie aussteigt, nicht ganz | |
einfach mit den seinerzeit modischen steifen, langen Röcken, kneift ihr | |
jemand kurz in den Hintern, so dass sie vor Schreck auch noch im Dreck | |
landet. Mit der Folge, dass sie sich mit verschmutzter Kleidung bei ihrer | |
neuen Stelle am Hof präsentieren muss. | |
Und das alles sind eigentlich Kleinigkeiten im Vergleich mit den | |
Missbräuchen, die Abigail ([1][Emma Stone]) in ihrem Leben schon erleiden | |
musste: Ihr eigener Vater hat sie regelrecht verkauft, um seine | |
Spielschulden bezahlen zu können. Ihre Haltung gegenüber Männern ist | |
entsprechend abgehärtet: „Wollen Sie mich verführen oder vergewaltigen?“, | |
fragt sie an späterer Stelle den Lord, der sich nachts in ihre Kammer | |
geschlichen hat. Als der antwortet: „Ich bin ein Gentleman!“, gibt sie ein | |
resigniertes: „dann also Vergewaltigung“ zurück. | |
Es sind Stellen wie diese, die einen erst recht darüber staunen lassen, wie | |
es [2][Yorgos Lanthimos]’ „The Favourite“ nun zu zehn Oscar-Nominierungen | |
bringen konnte. Denn der neue Film des griechischen Regisseurs bewegt sich | |
weit abseits von den gängigen Vorstellungen davon, was ein „Kostümfilm“ | |
oder ein „Period Piece“ darstellen sollte. Dass Lanthimos drei | |
Frauenfiguren ins Zentrum stellt, ist dabei noch das Geringste; | |
Königinnendramen wie aktuell „Mary Queen of Scots“ hat es immer schon mal | |
gegeben. Die Art und Weise, wie er ihre weibliche Erfahrung und Identität | |
zeigt und zum Thema macht, hebt „The Favourite“ heraus aus dem Genre. | |
Zwar gibt es auch bei Lanthimos, dessen Film um 1700 am Hof der | |
englischen Königin Anne spielt, üppige Einrichtungen, ausgeklügelte | |
Frisuren und prunkvoll geschnittene Kostüme, aber es gibt auch jede Menge | |
Dreck, Düsternis und körperliches Unwohlsein. Und schnippische Bemerkungen. | |
Was sich zwischen Königin Anne (Olivia Colman), ihrer ersten Favoritin Lady | |
Marlborough (Rachel Weisz) und erwähnter Abigail abspielt, ist weniger ein | |
„Lesbendrama“, wie es dieser Tage allzu oft beschrieben wird, sondern eine | |
Geschichte, die sich aus Schmerzen, Unwohlsein und essenziellen | |
körperlichen Bedürfnissen ergibt. Mit anderen Worten „typisch weiblich“ �… | |
und im Übrigen darin den modernen „zotigen“ Rom Coms im Grunde gar nicht so | |
unähnlich. | |
## Mutter aller Schmerzen | |
Die Königin ist hier die Mutter aller Schmerzen und Unzufriedenheit. Olivia | |
Colman spielt sie als zutiefst unglückliche, unsichere ältere Frau, die | |
über den – historisch verifizierten – Verlust von 17 Kindern, von denen | |
keines das Erwachsenenalter erreichte, nie hinwegkam. Eine Frau wie sie | |
braucht dringend die Unterstützung von einer wie Lady Sarah Marlborough, | |
einer selbstbewusst auftretenden, eleganten Frau, die auch politisch weiß, | |
wo’s langgeht. Sarah lobt ihre Königin, umschmeichelt sie einerseits mit | |
Komplimenten, um sie im nächsten Moment für ihr Make-up herabzusetzen und | |
durch Kritik in ihren Strategien zu verunsichern. Sarah ist hochintelligent | |
und machtbewusst, aber dann unterläuft ihr der Fehler, dass sie ihre kleine | |
Cousine Abigail, die zu Beginn des Films als Haushaltshilfe bei Hof | |
anheuert, unterschätzt. | |
Abigail nutzt ihren durch eingangs erwähnte Erfahrungen geschärften Geist, | |
um sich durch geschickte Schachzüge immer näher an die Königin | |
heranzumachen. Sie sammelt Kräuter, die die Gichtanfälle der Königin heilen | |
können, und sorgt dann durch gezieltes Hüsteln an kalkulierter Stelle | |
dafür, dass die Königin auch ja weiß, wer ihr die Kräuter besorgt hat. Als | |
sie schließlich ausspioniert, dass die Königin und Sarah ein Liebespaar | |
sind, stellt sie ihre Strategie pfeilgenau darauf um. | |
Lanthimos inszeniert den Hof und seine Intrigen mit viel Lust an | |
Übertreibung und Groteske. Im Score mischt er Bach, Händel, Vivaldi, aber | |
auch Messiaen und schließlich sogar Elton John. Die Kostüme erscheinen | |
stellenweise wie absichtlich „overdone“ in ihrer barocken Stoffvielfalt; | |
ähnlich die Innenräume, die mit Bildern, Vorhängen und Ornamenten eine | |
Fülle von Details aufweisen, die das Zuschauerauge kaum vollständig | |
erfassen kann. | |
Hinzu kommt die Kamera (Robby Ryan, auch er für einen Oscar nominiert), die | |
agil die Richtungen wechselt und die Räume aus ungewöhnlichen Blickwinkeln | |
aufnimmt, mal aus extremer Untersicht, mal wie von der Decke und oft genug | |
in „Fischaugenperspektive“ mit sich krümmenden Rändern. In | |
Zeitlupen-Sequenzen zeigt Lanthimos ein paar Szenen von höfischen Exzessen, | |
eines Gänserennens etwa und wie sich die Gesichter derer verzerren, die sie | |
anfeuern. Die Männer sind dabei keineswegs weniger aufgemacht als die | |
Frauen; eher im Gegenteil. Ihre sich fast ins Absurde türmenden Perücken | |
kommen als bizarre Kompensation für den Machtverlust daher, den sie unter | |
einer Königin erleiden. Keiner von ihnen wird als Figur plastisch; dieses | |
Privileg lässt Lanthimos einzig seinen drei Frauenfiguren zukommen. | |
## Trio zu Recht nominiert | |
Das Frauentrio und ihr Ränkespiel um Gunst und Einfluss bei Hofe ist der | |
große Trumpf von Lanthimos’ Film. So ungleich sie kämpfen – die eine mit | |
kalter Berechnung, die andere mit ganzem Herzen und die dritte mit | |
manipulativer Bedürftigkeit – , erscheint es völlig gerecht, dass alle drei | |
nun für den Oscar nominiert wurden, Olivia Colman als Hauptdarstellerin und | |
Emma Stone und Rachel Weisz als Nebendarstellerinnen. | |
Obwohl man darüber auch streiten könnte: Zwar steht Colman als Königin im | |
Zentrum, aber es ist der Weg an die Macht von Emma Stones Abigail, der den | |
Handlungsfaden bestimmt, und es ist Rachel Weisz’ Lady Sarah, die ihr als | |
formidable Bösewichtin entgegensteht. Letztlich könnte sich keine der | |
Figuren ohne die andere so famos entfalten, wie es hier geschieht. Den drei | |
Frauen gemeinsam gelingt es, aus einer auf dem Papier recht absehbar und | |
wenig originell wirkenden Geschichte eine fesselnde emotionale Hängepartie | |
zu machen, in der man als Zuschauer seine Sympathien ständig neu verteilen | |
muss. | |
Fiebert man anfangs mit Abigail als taffer Aufsteigerin mit, auch weil man | |
sieht, wie sie die pure Überlebensnot zu ihren Intrigen antreibt, empfindet | |
man am Ende allenfalls noch Mitleid mit ihr. Die Königin, die zuerst als | |
wehleidiges, schwaches und regierungsunfähiges Weib nervt, bekommt dagegen | |
zunehmend psychologische Tiefe als eine Frau, deren Depressionen und | |
Unausgeglichenheit man verstehen kann. Und je näher man Lady Sarahs Kampf | |
um die Macht verfolgt, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass sie | |
vielleicht doch aus Liebe handelt. Wo Lanthimos in seinen bisherigen Filmen | |
wie „Dogtooth“, „Alpen“ oder „The Killing of a Sacred Deer“ mit der | |
Schaffung von Welten mit abstrusen Regeln immer ein bisschen mentalen | |
„Mindfuck“ mit den Zuschauern spielte und sie so auf Distanz hielt, wirkt | |
es in „The Favourite“ fast so, als hätten ihm die Schauspielerinnen dabei | |
einen Strich durch die Rechnung gemacht. | |
Das Ergebnis ist eine faszinierende Mischung aus formaler Spielerei und | |
packendem Drama, so süffisant zusammengebracht, dass eben sogar die | |
Oscar-Akademie davor in die Knie geht. | |
23 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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