| # taz.de -- Paul Schraders Spielfilm „First Reformed“: Den inneren Frieden … | |
| > Paul Schraders Film „First Reformed“ ist wunderbar karg. Er bringt in | |
| > fast unerträglicher Verdichtung die Konflikte der Gegenwart auf den | |
| > Punkt. | |
| Bild: Trotz des Klimawandels Kinder gebären? Ernst Toller (Ethan Hawke) und Ma… | |
| Die Austerität hat sich durch falschen Umgang in Verruf gebracht. Bevor sie | |
| zum Inbegriff einer unsozialen Sparpolitik wurde, konnte Austerität noch | |
| für eine besondere Art der Schönheit stehen. Zwar eine strenge, karge, | |
| gewissermaßen sparsame Schönheit, aber doch unverkennbar das: Schönheit. | |
| Paul Schraders „First Reformed“ liefert dafür ein so wunderbares Beispiel, | |
| dass man sie rehabilitieren möchte, die Austerität, als Beschreibung einer | |
| Methode, die Disziplin und Verzicht einmal nicht gegen andere wendet, | |
| sondern den geistigen Konflikt nackt macht, im wahrsten Sinne des Wortes | |
| enthüllt. In „First Reformed“ geht es um die ganz, ganz großen Fragen. | |
| Darum, was wir, die Menschheit, mit dieser Erde anstellen, wie wir in | |
| Zeiten der Klimaerwärmung vor den drohenden Katastrophen die Augen | |
| verschließen und wie solche Aussichten unser jetziges, aktuelles Fühlen und | |
| Denken bestimmen. | |
| Die meisten Filme, die in den letzten Jahrzehnten an diese Fragen rührten, | |
| haben das mit viel Getöse und großen Storys getan, die oft das gesamte | |
| Weltall, einiges an Katastrophenlust und Unmengen an CGI (Computer | |
| Generated Imagery) erforderten. Schrader dagegen macht alles im Kleinen | |
| fest, mit wenigen Figuren und wenigen Schauplätzen. Gedreht ist sein Film | |
| im „Akademie-Format“, das unseren Flatscreen-, Imax- und 3-D-verwöhnten | |
| Augen heute wie reinster Pauperismus vorkommt. | |
| Diese ästhetische Askese geht innerhalb der Bilder weiter: Der Film spielt | |
| im schneelosen Winter, Bäume ragen mit schwarzen Ästen in einen dauergrauen | |
| Himmel; Ort der Handlung ist eine kleine Gemeinde in der Provinz nördlich | |
| von New York, wo die Straßen nur wenig befahren sind und es nirgendwo | |
| Fußgänger gibt. Selten sind mehr als zwei Menschen im Bild. Man hört so gut | |
| wie keine untermalende Filmmusik. Aber statt abzuschrecken strahlt diese | |
| formale, schmucklose Strenge eine Konzentration aus, die von der ersten | |
| Einstellung an fesselt. Man hat augenblicklich das Gefühl, dass hier keine | |
| Zeit vergeudet wird, dass es um etwas Wichtiges geht. | |
| Ethan Hawke spielt Ernst Toller, Pfarrer in einer kleinen Kirche, die von | |
| puritanischen Kolonisten im 18. Jahrhundert erbaut wurde: weiß gestrichenes | |
| Holz, zwei Reihen Kirchenbänke, alles sehr übersichtlich. Längst ist die | |
| Kirche mehr touristische Sehenswürdigkeit als Mittelpunkt einer | |
| Glaubensgemeinde. Man bereitet sich auf ihre 250-Jahr-Feier vor. Trotzdem | |
| versammelt Toller in seinem Gottesdienst kaum mehr als sechs bis acht | |
| Leute. | |
| ## Er möchte sich kümmern | |
| Darunter befindet sich Mary (Amanda Seyfried), die nach der Predigt mit | |
| einer Bitte auf ihn zukommt. Er soll mit ihrem Mann sprechen, mit dem sie | |
| einen Konflikt hat: Sie sei schwanger, er aber möchte abtreiben lassen, | |
| weil er findet, dass man es keinem Kind mehr antun kann, in diese Welt | |
| gesetzt zu werden. Toller zögert keinen Moment damit, sich auf eine | |
| Verabredung einzulassen, nicht weil er sich seiner Argumente so sicher | |
| scheint, sondern weil er sich kümmern möchte. | |
| Zuvor hat Schrader seinen nicht mehr ganz jungen Pfarrer als Mann in | |
| geistiger Krise vorgestellt. Aus dem Off spricht Hawke mit brüchiger Stimme | |
| vom Vorhaben, ein Tagebuch schreiben zu wollen. Handschriftlich, um alles | |
| Durchstreichen, alle Irrtümer und Korrekturen sichtbar zu lassen. Man hört | |
| das Ansinnen der strengen Selbstbeobachtung heraus und sieht ihn in seiner | |
| kargen Stube bei dämmrigem Licht sitzen, wie er die linierten Zeilen eines | |
| Schulhefts füllt und sich dazu recht großzügig Whiskey einschenkt. So | |
| friedlich die Szene wirkt, so deutlich spürt man die Kantigkeit dieses | |
| Mannes, der offenbar seinen inneren Frieden verloren hat. | |
| Im Gespräch mit Marys Mann Michael (Philip Ettinger), zu dem Toller sich am | |
| nächsten Tag aufmacht, erfährt man mehr. Dass er geschieden ist, dass er | |
| seinen Sohn verloren hat, der in Fortsetzung einer Familientradition als | |
| Freiwilliger in den Irakkrieg zog und dort ums Leben kam. Nichts könne | |
| schlimmer sein als der Verlust eines Kindes, hält er seinem | |
| Öko-Aktivisten-Gegenüber vor, auch nicht die Aussicht der nahenden | |
| Klimakatastrophe, die Michael ihm zuvor in absolut sachlichen Termini | |
| ausgemalt hat. | |
| ## Bemerkenswert floskellos | |
| Wunderbar nüchtern filmt Schrader dieses Gespräch: als ein Hin und Her | |
| zwischen sehr, sehr ernsthaften Männern, die einander zuhören und | |
| respektieren, ohne sich gegenseitig überzeugen zu können. Beide sind sie | |
| von Schmerz gezeichnet, wobei den einen die Vergangenheit und den anderen | |
| die Zukunft quält. Alles, was Drehbuchautor Schrader ihnen in den Mund | |
| legt, macht Sinn und ist bemerkenswert floskellos. | |
| Es ist ein Gespräch, das viele auf die eine oder andere Weise, auf der | |
| einen oder anderen Seite stehend wohl schon geführt haben: die Welt und wie | |
| sie 2050 bei zwei Grad Erwärmung aussehen wird. Die Tatenlosigkeit unserer | |
| Mitbürger und Politiker. Die Frage, ob man überhaupt noch hoffen darf. Oder | |
| gar hoffen soll? Dem Kinozuschauer ergeht es an der Stelle fast wie Toller | |
| selbst, der nach der Diskussion aus dem Off schildert, wie er nachts wach | |
| gelegen habe mit dem Wunsch nach besseren Worten, besseren Argumenten. Doch | |
| zum verabredeten zweiten Gespräch kommt es nicht. | |
| Die disziplinierte Zurückhaltung, in der Schrader erzählt, suggeriert ein | |
| Tempo der Ruhe, an dem sich die inneren Brüche und Konflikte der Figuren um | |
| so deutlicher reiben. Einerseits scheint Toller noch ganz seiner Arbeit | |
| unterworfen, den Vorbereitungen auf das Jubiläum, den Hilfeleistungen für | |
| die schwangere Mary. Andererseits haben Michaels Argumente in ihm etwas | |
| angestoßen. Er googelt und findet heraus, dass ausgerechnet der | |
| Hauptförderer seiner Kirche, ein Industrieller namens Balq (Michael | |
| Gaston), zu den großen Umweltverschmutzern gehört. | |
| ## Verantwortung, die der Mensch hat | |
| Aber auch diesen Konflikt inszeniert Schrader im kleinstmöglichen Format: | |
| Um den Ablauf der Feierlichkeiten zu besprechen, treffen sich Toller, sein | |
| Vorgesetzter Jeffers (Cedric the Entertainer) und Balq in einem Diner zum | |
| Kaffeetrinken. Sie sind die einzigen Gäste und kommen schnell zum Thema. | |
| Balq verwehrt sich gegen jede Art von „politics“ bei der von ihm | |
| gesponserten Feier. Toller spricht von der Verantwortung, die der Mensch | |
| der Erde gegenüber hat. | |
| Die Unterhaltung verläuft sehr gesittet, sie ist kein dramatischer | |
| Höhepunkt, und doch bringt die Szene in fast unerträglicher Verdichtung den | |
| gesellschaftlichen Konflikt der Gegenwart auf den Punkt: nicht als einen | |
| zwischen vermeintlich bösen Kapitalisten und wohlmeinenden Bürgern, sondern | |
| als den zwischen Arroganz und Gleichgültigkeit auf der einen und Zweifel | |
| und Schuldgefühl auf der anderen. | |
| „First Reformed“ ist ein geschliffener, harter kleiner Diamant von einem | |
| Film. Je mehr man schaut, desto mehr Facetten entdeckt man. Der Schluss ist | |
| verrückt, in mehrfacher Hinsicht. So ausführlich hier Argumente | |
| ausgesprochen werden, so wenig wird doch erklärt. Ähnliches gilt für das | |
| Netz von Verweisen, das sich durch den Film zieht. Da gibt es Anklänge an | |
| Ingmar Bergmans „Licht im Winter“ und an Robert Bressons „Tagebuch eines | |
| Landpfarrers“, der Name Ernst Toller dürfte so wenig zufällig gewählt sein | |
| wie die Tatsache, dass Toller Thomas Merton liest: beides schwierige | |
| Männer des 20. Jahrhunderts, deren spirituelle Suche zu politischem | |
| Engagement führte. | |
| Aber vor allem ist dies ein Paul-Schrader-Film: Noch in keinem seiner | |
| Drehbücher und Filme hat der „Taxi Driver“-Autor die calvinistische Strenge | |
| seines eigenen Aufwachsens so produktiv eingesetzt. Als Erzählmethode | |
| entfaltet sie hier eine Unerbittlichkeit, die trifft und nachwirkt. | |
| 18 Apr 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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