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# taz.de -- Spielfilm „The Card Counter“: Die unerträgliche Last der Taten
> Der US-amerikanische Regisseur Paul Schrader reflektiert in seinem Film
> „The Card Counter“ die Schuld eines Mannes, der andere gefoltert hat.
Bild: William Tell (Oscar Isaac) und Cirk (Tye Sheridan) in „The Card Counter…
„Jegliche Art von Gefängnis schien mir entsetzlich.“ Mit der Haftstrafe von
zehn Jahren, die William Tell (Oscar Isaac) auferlegt worden ist, kam er
allerdings gut zurecht. Er lernte zu schätzen, alles stets zur selben Zeit
in immer gleich bleibender Umgebung zu tun. Diese festen Strukturen hat er
auf sein Dasein nach der Entlassung übertragen, hat aus einem Leben in
Freiheit eines in eigens orchestrierter Sicherheitsverwahrung gemacht.
Nachdem er in Gefangenschaft das Kartenzählen gelernt hat, reist Tell nun
von Casino zu Casino, wo er stets nur geringe Gewinne erspielt, um keinen
Verdacht bei den Betreibern zu erwecken. Er übernachtet in billigen Motels,
deren Mobiliar er penibel mit weißen Tüchern überzieht, sodass jeder Ort
dem letzten gleicht.
Seinen Mitmenschen versucht er, so gut es geht, auszuweichen. Das
graumelierte Haar trägt er immerzu feinsäuberlich zurückgekämmt, seine
Garderobe scheint einzig aus eleganten grau-schwarzen Anzügen zu bestehen.
Die zahlreichen Drinks einmal ausgenommen, ist Tell ein vollendeter Asket.
Allerdings ein solcher, unter dessen Oberfläche ein gewaltiger Sturm tobt.
Mit „The Card Counter“ kehrt ein Enfant terrible der New-Hollywood-Ära
erneut zu jenem Figurentypus zurück, der sein Schaffen seit jeher umtreibt.
Wenige Filmemacher haben sich mit derartiger Empathie den Verlorenen und
Einsamen verschrieben wie Paul Schrader. Obwohl die Isolation längst nicht
das einzige Motiv seiner nun schon fast fünf Jahrzehnte währenden Karriere
ausmacht, zieht sie sich als roter Faden durch seine Filmografie.
## Dem Leben einen Sinn verleihen
Bereits in „Taxi Driver“ – jenem von Martin Scorsese verfilmten Drehbuch,
das Schrader zum Durchbruch verhalf – ist sie Achillesferse des
mittlerweile ikonischen Travis Bickle (Robert De Niro). Von Schlaflosigkeit
geplagt, schlüpft er nachts in die Rolle des Fährmanns, der seine Fahrgäste
durch die nächtliche New Yorker Unterwelt steuert und dabei doch allein
bleibt.
Was Schraders Figuren in die Einsamkeit treibt, ist eine explosive Mischung
aus Kapitulation vor dem Versuch, dem eigenen Leben angesichts der
Schlechtigkeit der Gesellschaft einen Sinn zu verleihen, einerseits. Und
dem Gefühl, aufgrund der Schuld, die sie durch ihr Handeln auf sich geladen
haben, auch gar keine Gesellschaft verdient zu haben, andererseits.
Dominierte in seinen früheren Filmen noch ersterer Aspekt, spielt die Last
der Taten, die ein Mensch im Lauf seines Lebens auf sich lädt, in seinem
Spätwerk die größere Rolle. Aus dem Leiden an der Welt ist zunehmend ein
Leiden am Selbst geworden.
Spätestens mit [1][dem Film „First Reformed“ (2017)] offenbarte sich
Schrader endgültig als Apologet der Auffassung, dass der Mensch, auf sich
und seine Schuld zurückgeworfen, allmählich „verrückt“ wird. Egal ob das
nun eine Verrückung in der Seele, ein verrücktes Verhältnis gegenüber der
Welt oder das buchstäbliche Verrücktwerden bedeuten mag.
In „First Reformed“ geht es um Priester Ernst Toller (Ethan Hawke), der
seinen Sohn in den Irak-Krieg und damit auch in den Tod schickte. Er stürzt
sich voll in seine Arbeit, die ihn vor der ständigen Selbstzerfleischung
bewahrt. Einzig seinem Tagebuch vertraut er sich an. Selbst dann, als ihn
der Selbstmord eines Gemeindemitglieds, das sich aus der Verzweiflung am
Klimawandel das Leben nahm, aus der Bahn wirft. Über dessen Tod brütend,
beginnt er sich selbst zu radikalisieren.
In seinem neuesten [2][Film „The Card Counter“] erzählt Schrader nicht nur
von einer Einsamkeit, sondern auch einer Schuld, die unwesentlich größer
ist. William Tell wird während eines Poker-Turniers auf den Vortrag eines
gewissen Major John Gordo (Willem Dafoe) aufmerksam. Ein Name, der so
großes Unbehagen auslöst, dass er den Saal umgehend wieder verlässt, vorher
aber von einem jungen Mann namens Cirk (Tye Sheridan) auf seine
Erinnerungen an den Mann angesprochen wird und eine Visitenkarte zugesteckt
bekommt.
## Vielsagende Angstträume
Bevor der Film Tells Sündenfall offenbart, verwendet er in aufgeräumten
Einstellungen einige Zeit darauf, den Trott zu schildern, der ihm hilft,
weiterzumachen. Auffällig oft findet sich ein resigniert aussehender Oscar
Isaac zentriert im Bildfeld, bewegt sich so durch die von künstlichem Licht
erleuchtete, symmetrisch angeordnete Vorhölle aus Roulette- und
Black-Jack-Tischen, das beständige Rattern, Klimpern und Piepsen der
Spielautomaten im Hintergrund.
Einzig in Tells vielsagenden Angstträumen fängt die Kamera keine
kartesische Sterilität, sondern das Gegenteil davon ein. In surrealen, mit
Fischaugenobjektiv gefilmten Bildern, bewegt sie sich durch einen Limbus
der ganz anderen Art: Zu ohrenbetäubender Metal-Musik werden in Overalls
gekleidete Menschen von Uniformierten mit Schlagstöcken malträtiert, die
Köpfe in Säcke gehüllt. Andere werden, mit Exkrementen beschmiert, über den
Flur getrieben, man geht mit Hunden auf sie los.
Wie sich am Tag darauf im Gespräch mit Cirk herausstellt, wurde dessen
Vater während des Irak-Krieges vom selben Mann in „erweiterten
Verhörtechniken“ – eine euphemistische Umschreibung für Foltermethoden
während des „Kriegs gegen den Terror“ – geschult wie Tell: von besagtem
John Gordo. Cirk sinnt nach dem Selbstmord seines Vaters auf Rache und
möchte den Major der gleichen Tortur unterziehen, die dieser
US-amerikanische Soldaten lehrte.
Damit greift „The Card Counter“ auf den Abu-Ghraib-Folterskandal zurück,
der Mitte der 2000er die Öffentlichkeit erschütterte. Tell ist lose
inspiriert von [3][Charles Graner], dessen hämisches Grinsen beim Posieren
neben nackten oder getöteten Häftlingen um die Welt ging. Auch er wurde von
einem Militärgericht zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Film
wie in der Realität beschränkte sich die juristische Aufarbeitung vor allem
auf die Ausführenden.
Dass „The Card Counter“ nochmals auf diese empörende Ungerechtigkeit
verweist, ist richtig. Zugleich besitzt das Mitgefühl, das der Film seinem
Protagonisten entgegenbringt, einen bitteren Beigeschmack. Er zeichnet
seinen Protagonisten ausschließlich als Verführten. Schrader scheint es mit
Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ zu halten, wonach eine Facette des
Übels darin besteht, dass Menschen lediglich Befehlen folgen, statt nach
eigenen moralischen Maßstäben zu entscheiden.
## Perverser Stolz
Tell aber ging, wie Garner, weiter, befolgte eben keine Anweisungen, als er
mit perversem Stolz seine Taten bildlich festhielt. Die Gebiete seiner
Persönlichkeit, die ihn zu diesem Tun veranlassten, übergeht der Film und
porträtiert ihn nur im Jetzt als selbstpeinigenden Geläuterten.
Als solcher versucht er, Cirk nicht nur von seinem Vorhaben abzubringen,
sondern ihm darüber hinaus einen Neustart zu ermöglichen. Entgegen seinen
eigenen Grundsätzen lädt er ihn ein, ihn zu begleiten, und schließt sich
bald schon mit Sponsorin La Linda (Tiffany Haddish) zusammen, die ihn in
ihren Spielerstamm für die „World Series of Poker“ aufnehmen soll. Dort
möchte er genug Geld gewinnen, um Cirk einen Neustart zu ermöglichen.
Die eigentümliche Einsamkeit von Schraders Figuren ist ihnen Verhängnis und
Schutz zugleich. Sobald sie diese, wie Tell mit diesem Schritt, aufgeben,
blühen sie zunächst auf: Travis Bickle entdeckt neuen Lebensmut, als er in
einer zufälligen Bekanntschaft eine Verbündete zu finden scheint, ebenso
Ernst Toller, als er auf einen Leidensgenossen trifft, der ebenso
verzweifelt zu sein scheint wie er.
Kurz darauf erleben sie jedoch stets eine Katharsis. Der Sturm, der sorgsam
unter Verschluss gehalten wurde, wird freigesetzt: Der Taxifahrer schießt
um sich, um eine jugendliche Prostituierte (Jodie Foster) zu befreien, der
Pastor plant, zunächst seine Kirche und dann sich selbst in Brand zu
stecken, um einen Unternehmer zu töten – und Tell sieht sich letztlich doch
noch mit dem Major konfrontiert.
Bei allem Fatalismus gehört auch das zu Paul Schraders Werk: Wo
Verzweiflung herrscht, gibt es Grund zur Zuversicht. Auch wenn
Aussichtslosigkeit die Stimmung des Films bestimmt, ist die Erlösung immer
schon darin angelegt. Und die besteht auch hier in der angedeuteten
Befreiung aus der unerträglichen Einsamkeit des Seins.
Sooft Paul Schrader diese Motive bereits behandelt haben mag: Man hat das
Gefühl, dass er mit jedem neuen Film einen Schritt näher an das gelangt,
was zu beschreiben seine ganze Karriere prägt.
3 Mar 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
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