# taz.de -- Abu-Ghraib-Doku-Regisseur Morris: "Ohne Sabrina wüssten wir nichts" | |
> Die erste Doku im Berlinale-Wettbewerb: Regisseur Errol Morris über | |
> folternde Soldaten und die Technik des Reenactment in seinem Abu | |
> Ghraib-Film "Standard Operating Procedure". | |
Bild: Errol Morris bei den Dreharbeiten. | |
taz: Herr Morris, es gibt einen blinden Fleck in Ihrem Film. Warum fehlt | |
die Perspektive der irakischen Häftlinge? | |
Errol Morris: Wenn man einen Film wie diesen dreht, merkt man rasch, wie | |
viel man ausklammert. Man trifft Entscheidungen, man konzentriert sich auf | |
bestimmte Aspekte, man legt fest, wo die Geschichte genau liegt, und diesen | |
Entscheidungen folgt man dann. Zugleich war es fürchterlich schwierig, die | |
Häftlinge aufzuspüren. Ich will das nicht als Ausrede benutzen, denn es ist | |
ja meine Entscheidung, sie nicht im Film vorkommen zu lassen. Unbedingt | |
interviewen wollte ich zum Beispiel den Häftling, dem die amerikanischen | |
Soldaten den Decknamen Gilligan gaben. | |
Gilligan ist der, der auf einer Kiste stehen muss, den Kopf unter einer | |
Kapuze, Drähte an den Händen, die Arme ausgestreckt. | |
Das ist vermutlich das berüchtigste Foto, ein zur Ikone gewordenes Bild vom | |
Krieg im Irak. Ich habe Gilligan nicht finden können. Ich schwörs. Und ich | |
habe es wirklich versucht. | |
Gilligans Aussagen in den Film aufzunehmen, wäre schon deshalb interessant | |
gewesen, weil einer der Ermittler im Film eine enorm problematische | |
Unterscheidung trifft: Dieses berühmte Foto von Gilligan zeigt etwas, was | |
keine Folter, sondern "Standard Operating Procedure" ist, normales, | |
erlaubtes Verhörverfahren also. | |
Im Untersuchungsbericht von Generalmajor Antonio Taguba gibt es ein | |
Interview mit Gilligan, mehr haben wir nicht. Sie können sich vorstellen, | |
dass das amerikanische Militär nicht eben hilfreich ist, wenn es gilt, die | |
ehemaligen Häftlinge aufzuspüren. Vor Ort hatten wir Leute, die | |
Nachforschungen anstellten; Gilligan war auch nicht der Einzige, mit dem | |
ich gerne gesprochen hätte. Ich würde das noch immer gerne tun. Es gab | |
übrigens eine merkwürdige Diskussion, als das Foto auf der ersten Seite der | |
New York Times erschien. Ein Häftling namens al-Qaisi behauptete, er sei | |
der Mann unter der Kapuze. Das stimmte nicht, obwohl al-Qaisi im Herbst | |
2003 in Abu Ghraib war. Ihn habe ich interviewt, und seltsamerweise lag | |
darin für mich etwas Tröstliches. Denn al-Qaisi sprach über Sabrina Harman | |
- und darüber, wie sehr er sie mochte. | |
Harman gehörte zur 372. Kompanie der Militärpolizei, also zu den Soldaten, | |
die folterten und dabei Fotos schossen. | |
Sabrina ist eine überraschende, interessante Person. Ich weiß nicht genau, | |
ob ich ihr mit meinem Film gerecht werde. Sie ist wie eine multiple | |
Persönlichkeit: Sie ist investigative Journalistin, forensische Fotografin, | |
Wächterin, Teilnehmerin, Beobachterin. Manchmal reagiert sie auf das, was | |
sie erlebt, mit Entsetzen, manchmal mit Gleichgültigkeit. | |
Auf einem Foto sieht man sie neben einem Häftling, der bei einem CIA-Verhör | |
zu Tode kam | |
Manadel al-Jamadi | |
sie lächelt breit und macht eine Daumen-hoch-Geste. Später sagt sie dann | |
zur Rechtfertigung, dass sie immer reflexhaft lächele, sobald sie | |
fotografiert werde. Glauben Sie ihr das? | |
Ich kaufe ihr diese Erklärung nicht ab. Ich glaube nicht an allgemeine | |
Regeln - jemand tut dies und das, weil er das immer tut - das erklärt | |
nichts. Ich will wissen, warum jemand etwas in einem ganz konkreten | |
Augenblick tut. Sabrina ist gar keine Soldatin, sondern ein kleines | |
Mädchen. Sie ging zur Armee, weil sie das Geld fürs College | |
zusammenbekommen wollte. Ihr Vater war Polizist, und sie wollte Fotografin | |
in der Gerichtsmedizin werden. Ist das nicht ironisch? Als sie den | |
ermordeten al-Jamadi fotografierte, hat sie damit ein Verbrechen | |
dokumentiert. Ohne sie wüssten wir nichts über den Mord an al-Jamadi. Dabei | |
sagt ein Teil von ihr: Ich wünschte, ich wäre härter. Ich wünschte, ich | |
hätte weniger Empathie für die Häftlinge. Ich wünschte, ich hätte mehr von | |
einer Soldatin in mir. An ihr spüre ich den Wahnsinn des Krieges - sie ist | |
ein kleines, spielendes Kind, und zur gleichen Zeit ist sie entsetzt von | |
dem, was sie umgibt. Sie ist eine komplexe Person. | |
Wenn Sie an andere Angehörige der 372. Kompanie denken, an Lynndie England | |
oder Megan Ambuhl, würden Sie dann das Gleiche sagen? | |
Ich kenne sie nicht so gut. Lynndie ist so merkwürdig. Wenn sie lächelt, | |
schwingt etwas Perverses mit. Ich kann mir gar nicht vorstellen, in welcher | |
Lage sie heute ist. Sie ist ja für das Scheitern des Kriegs im Irak | |
verantwortlich gemacht worden, sie war im Gefängnis, wurde von ihrem Sohn | |
getrennt, von Graner verlassen. | |
Charles Graner gilt als Anführer der Gruppe, er ist im Januar 2005 zu zehn | |
Jahren Haft verurteilt worden. | |
Und er ist mittlerweile mit Megan Ambuhl verheiratet. Lynndie hat kaum | |
Aussichten für ihre Zukunft. Die Rede, die sie am Ende des Film hält, ist | |
sehr traurig, bewegend und verstörend. Ich glaube, auch sie ist eine | |
komplexe Person. Nur verstehe ich sie nicht so gut. | |
Das Perverse in Lynndie Englands Lächeln habe ich auch wahrgenommen, konnte | |
es aber nicht auf einen Begriff bringen. Können Sie mir helfen? | |
Offenbar findet sie vieles von dem, was geschehen ist, noch heute lustig. | |
Es war ein Spiel, das Graner und sie spielten, ein groteskes Spiel, dem sie | |
am Ende zum Opfer fiel. Es ist diese Mischung aus bodenloser Traurigkeit | |
und Frohsinn, die so befremdlich ist. | |
Sie arbeiten oft mit den Mitteln des Reenactment, das heißt, Sie stellen | |
die Folter in Spielszenen nach. Dabei arbeiten Sie immer wieder mit | |
extremen, auffälligen Nahaufnahmen, zum Beispiel vom aufgerissenen Maul | |
eines Hundes, der einen Gefangenen angreift. Warum? | |
In "Standard Operating Procedure" betritt man ja die Geschichte | |
gewissermaßen durch Fotografien hindurch. Das Reenactement nimmt | |
Bruchstücke der Realität, verlangsamt sie - wenn auch nicht bis zum Punkt | |
des Stillstands wie bei der Fotografie. So kann man in diese Welt | |
eintreten; man kann diese Welt nachempfinden. Nehmen Sie die Szene, in der | |
es um Gilligan geht. Sie sehen nie das Ganze, sondern Fragmente, analog | |
dazu, dass sich unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit aus Details | |
zusammensetzt. Das Reenactment gibt nicht vor, die Welt zu zeigen, wie sie | |
ist. Es verschafft vielmehr ein Bewusstsein von den Rätseln der Welt. Denn | |
es lässt Sie darüber nachdenken, warum Sie glauben zu wissen, was da | |
draußen wirklich vorgeht. | |
INTERVIEW: CRISTINA NORD | |
13 Feb 2008 | |
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