# taz.de -- Film über Atomraketen-Stützpunkte: Höllenhammer und Misere | |
> „Nuclear Family“ ist ein Filmessay. Darin wird eine Kleinfamilie mit der | |
> Tristesse an Raketen-Standorten der US Air Force konfrontiert. | |
Bild: Wilkerson bringt scheinbar triviale Bilder zum Sprechen: Szene aus „Nuc… | |
„Was denkst du, wie viele Sowjets würde sie töten?“ Gut gelaunt dreht sich | |
die Mutter des Filmemachers fragend zu ihrem Begleiter. In ihrem Rücken der | |
Zaun um das Silo einer nuklearen Interkontinentalrakete. Für die Mutter | |
des US-Regisseurs Travis Wilkerson waren Atomraketen ein Fixpunkt. | |
Wiederholt machte die Familie Ausflüge zu Raketensilos der Air Force. Um | |
die Albträume nuklearer Vernichtung zu vertreiben, die ihn seit [1][der | |
Wahl von Donald Trump zum Präsident] drücken, beschließt Wilkerson, mit | |
seiner Familie eine nukleare Rundreise zu machen: Daher auch der | |
doppeldeutig Filmtitel „Nuclear Family“. | |
Weit kommen die Wilkersons nicht. Im Nirgendwo des Mittleren Westens will | |
ihr Auto nicht mehr. Sie sitzen fest in einem Motel, während ihr Auto | |
repariert wird. Marode Neonreklame zeugt davon, dass es am Ort mal ein | |
Restaurant gab. Ein Schild weist eine Brache als Hundeauslaufgebiet aus. | |
Das Schwimmbad umgibt ein Zaun. Ein markanter Baum ruft schließlich die | |
Erinnerung wach, wo das Auto stehen geblieben ist. Flache Graslandschaft, | |
so weit das Auge reicht. | |
Am 29. November 1864 überfielen Freiwilligeneinheiten aus Colorado, | |
befehligt vom Pastor und Nordstaatenoffizier John Milton Chivington, | |
Gebiete der Cheyenne und Arapahos. Mit kolonialem Furor töteten die | |
Soldaten mehrere Hundert Frauen und Kinder. Wilkersons Auto ist genau in | |
der Kleinstadt im Platte Valley stehen geblieben, in die die Überlebenden | |
nach dem Massaker zogen, um sich an weißen Siedlern zu rächen. | |
## Politischer Filmemacher | |
Dunklere Flecken in der Landschaft lassen die Feuchtigkeit des Bodens | |
erkennen, dazwischen schwankt golden das Gras. Während Papa über den | |
Bildern der Landschaft Geschichte referiert, sitzt seine Tochter in einem | |
Aufenthaltsraum am Tisch und isst Eis. Über einen Monitor an der Wand des | |
Raums zieht „Star Wars“. | |
Seit gut 20 Jahren ist Wilkerson einer der interessantesten politischen | |
Dokumentarfilmer der USA. 2002 widmete er sich in einem Film dem Lynchmord | |
an einem Gewerkschafter. „Did You Wonder Who Fired the Gun?“, | |
[2][Wilkersons Werk von 2017], beginnt mit den Worten: „1946 ermordete mein | |
Urgroßvater einen schwarzen Mann mit Namen Bill Spann und wurde nie für die | |
Tat belangt.“ Viele von Wilkersons Filmen kreisen um das ländliche Amerika. | |
„Nuclear Family“ realisierte Travis Wilkerson nun gemeinsam mit seiner Frau | |
Erin. Die These, die der Film entfaltet, ist, dass es eine Linie gibt, die | |
den Landraub durch weiße Siedler in den USA mit dem Atomprogramm des Kalten | |
Kriegs und den Raketensilos auf dem geraubten Land verbindet. „Nimm das | |
Land mit der Waffe in der Hand, mach das Land zur Waffe, halte die Waffe | |
allen an den Kopf.“ | |
Die Orte, an denen interkontinentale Atomraketen stationiert sind, haben | |
sprechende Namen: Höllenhammer, Feuersturm, aber auch Hungersnot, Misere, | |
Verwünschung. An all diesen Standorten grassiert unter den dort | |
stationierten GIs Alkohol- und Drogensucht, sexuelle Übergriffe. Nirgendwo | |
sonst gibt es so viele Militärgerichtsverfahren wie an den Raketensilos der | |
U. S. Army. Die grauenhafte Langeweile der angedrohten Apokalypse. | |
Vom Sand-Creek-Massaker über die Raketensilos und eine Plutoniumfabrik in | |
Rocky Flats geht es weiter zur Air Force Academy und nach Los Alamos als | |
Wiege der US-Atomwaffen. Stück für Stück fügt Wilkerson eine | |
Gegengeschichte zu den Großerzählungen der US-Geschichte zusammen, formt | |
eine Erzählung als bewusste Herausforderung. | |
Wilkerson bringt scheinbar triviale Bilder, Landschaften, die oft wie | |
unberührt scheinen und doch von Geschichte und nicht selten Blut | |
durchtränkt sind, zum Sprechen, gibt ihnen seine Erzählung mit gegen die | |
Assoziationen, die sie wach rufen. | |
Anders als in früheren Filmen klingen in der Gegengeschichte durchaus Humor | |
und Selbstironie an: Während die Familie im See planscht, sucht Wilkerson | |
den Strand mit einem Geigerzähler ab. Der Humor zeigt sich auch im | |
Soundtrack, vor allem Sun Ras „Nuclear War“, aus dem Wilkerson die | |
Textzeile wiederholt: „If they push that button, your ass gotta go.“ | |
10 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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