# taz.de -- Oscar-Sieger „Moonlight“ im Kino: Es brodelt nur so vor Gefühl | |
> Regisseur Barry Jenkins macht in „Moonlight“ aus der Geschichte einer | |
> schwierigen Kindheit und Jugend in Miami ein echtes Ereignis. | |
Bild: Ein schweigsamer Junge, von seinen Mitschülern als „Schwuchtel“ geh�… | |
„Es war chaotisch, aber irgendwie auch großartig“, so kommentierte | |
„Moonlight“-Regisseur Barry Jenkins seine eigene, missglückte | |
Oscar-Verleihung. Es ist die schönste und gerade in ihrer Schwammigkeit | |
auch zutreffendste Beschreibung eines verpatzten Moments, der viel | |
Aufregung, aber kein echtes Unglück hergebracht hat. Zumal sie von | |
demjenigen kommt, dem man auch die bittere Klage darüber nachsehen würde, | |
„beraubt“ worden zu sein. | |
Schließlich hätte es nach Protokoll eigentlich so verlaufen müssen: Faye | |
Dunaway und Warren Beatty verkünden „Moonlight“ als Sieger der | |
Königskategorie „Bester Film“. Es folgen Applaus, Rührung und ergreifende | |
Dankesreden. Hollywood gratuliert sich dazu, dass der Film eines schwarzen | |
Regisseurs über das Aufwachsen eines schwulen schwarzen Drogenhändlers | |
gewonnen hat. Triumph der Diversität im Jahr eins der | |
Trump-Präsidentschaft! | |
Verschiedenste Rekorde werden vermeldet: der erste „Best Picture“-Oscar für | |
einen Film mit einem (offenen) LGTB-Protagonisten im Zentrum! Der erste | |
Hauptpreisträger ohne einen einzigen weißen Helden! Der mit einem Budget | |
von bescheidenen 1,5 Millionen Dollar wahrscheinlich billigste Film, der je | |
den Top-Oscar davongetragen hat! All das ist wahr (und kann gefeiert | |
werden), trotz der missratenen Preisübergabe. Aber es fehlt eben der | |
demonstrative Moment des Triumphs dazu. Und eigentlich passt das so viel | |
besser zu „Moonlight“ als Film. | |
Nicht nur, weil mittlerweile die Aura des Ungeschicks, des Fehlerhaften | |
unweigerlich ersetzt wurde durch die Tatsache, dass es so, wie es lief, die | |
„bessere Geschichte“ ist und sich allein deshalb an „Moonlight“ in den | |
nächsten Jahren mehr Menschen erinnern werden als etwa an den letzten | |
Triumph eines „schwarzen“ Films, Steve McQueens „12 Years a Slave“. Nei… | |
das Ausbleiben des Triumphs schaffte bei der diesjährigen Oscarverleihung | |
eine Situation, in der der Wettstreitaspekt des „Rennens“ um die | |
Goldmännchen sich auflöste fast in eine Art Pattsituation. | |
So wenig Missgunst war selten, und so sehr man im Vorfeld die Konkurrenz | |
von „La La Land“ und „Moonlight“ zur ideologischen Konfrontation auflad… | |
wollte – Eskapismus gegen Realismus, Kommerz gegen Kunst, Traum gegen | |
Erfahrung –, blieb von dieser Frontstellung am Ende kaum ein besetzter | |
Posten übrig. Oder anders: Fast war es so, als hätte die Bedachtsamkeit, | |
die Sorgfalt, die Sensibilität und die Großzügigkeit, die die ästhetische | |
Seele von „Moonlight“ ausmachen, schon die Atmosphäre bestimmt. | |
## Viel mehr als seine Labels | |
Und nicht zuletzt ist Barry Jenkins’ Film mit der verpatzen Übergabe auch | |
etwas erspart geblieben, nämlich einmal mehr durch die Etikettierung als | |
„Diversity“-Film, als „Problemfilm“ mit wichtigem Thema gelenkt und | |
eingeschränkt zu werden. Denn das Tolle an „Moonlight“ ist, dass er so viel | |
mehr ist als seine Labels. | |
Gleich die ersten Szenen führen das vor Augen. Darin stellt der Film den | |
Drogenhändler Juan (Mahershala Ali) vor, in dem die Kamera ihn in seiner | |
Welt, an seinem „Spot“ einkreist. Juan, wie er aus dem Auto steigt an einer | |
Straßenecke, die auf sehr amerikanische Weise nur das ist, eine | |
Straßenecke, bar jeden urbanen Lebens, ist einerseits erkennbar als das | |
Stereotyp eines Drogenhändlers mit Goldkette und Do-rag, und andererseits | |
wird sofort klar, dass seine Figur darüber hinausgeht. | |
Mahershala Ali verleiht diesem Juan eine magnetische Präsenz, in der | |
Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Humor und erhöhte Aufmerksamkeit für die | |
Umgebung mitspielen. Und während sich die Kamera um Juan dreht und seine | |
Welt mit ihm als Zentrum zeigt, trägt es einen als Zuschauer hinein in | |
diese Welt, während die üblichen Filmklischees wie außen vor bleiben. Und | |
dann stellt sich heraus, dass es im Folgenden gar nicht um Juan gehen wird, | |
sondern um seine Rolle im Leben eines anderen. | |
## Licht auf den Jungen | |
Diesen vertrackten wie geschickten Auftakt setzt Jenkins ein, um seinem | |
eigentlichen Helden das ihm gemäße Intro zu verschaffen: einem kleinen | |
Jungen namens Chiron, der schweigsam und ängstlich ist und seinerseits die | |
Aufmerksamkeit Juans braucht, um überhaupt ins Bild zu kommen. Gejagt von | |
einer Kinderschar, sucht Chiron am Anfang schwer atmend in einem | |
verlassenen Haus Zuflucht, in das kurz darauf Juan wie ein Verbrecher | |
einbricht. Mit dem Brett, das er vom Fenster reißt, fällt Licht auf den | |
Jungen. Es ist der Beginn einer Freundschaft, wie man sie nur selten im | |
Kino gesehen hat. | |
In drei Teilen erzählt „Moonlight“ von Chirons schwierigem Aufwachsen. Im | |
ersten Teil wird er „Little“ genannt, und die Freundschaft mit Juan erweist | |
sich als einer der wenigen Ankerpunkte im Leben des schweigsamen, der | |
Willkür seiner drogensüchtigen Mutter ausgesetzten kleinen Jungen, der | |
zusätzlich von seinen Mitschülern als „Schwuchtel“ gehänselt wird. | |
Das Mobbing ist im zweiten Teil, Chiron ist ein hagerer, | |
trotzig-verschlossener Jugendlicher, noch schlimmer geworden. Hier bildet | |
die Freundschaft zum Mitschüler Kevin ein rares Gegengewicht, aber zugleich | |
muss Chiron erleben, wie Freundschaft in Begehren und dann Verrat umkippt. | |
Im dritten Teil schließlich sieht man Chiron, inzwischen ein | |
muskelbepackter Mann Mitte 20 und selbst Drogendealer, für einen Besuch bei | |
Kevin nach Miami zurückkehren. | |
## Chirons schwieriges Aufwachsen | |
In allen drei Teilen markiert der Film mit seinem dialogarmen, aber dadurch | |
nicht weniger sorgfältig ausgearbeiteten Drehbuch Chirons schwieriges | |
Aufwachsen mit verschiedenen sinnlichen Kontrasten. Da gibt es | |
albtraumhafte Szenen mit der Mutter, die mit verzerrtem Gesicht den | |
Jugendlichen um sein letztes Geld angeht, um Drogen zu kaufen. | |
Es gibt aber auch geradezu elegische Szenen, wie die, in der Juan den | |
kleinen Chiron das Schwimmen beibringt: als Akt des Loslassens und | |
Vertrauenfassens. „Wie hat’s dir gefallen“, fragt Juan den Kleinen, bevor | |
er ihn bei der Mutter abgibt. Der nickt nur wortlos. „Ah, so gut also!“, | |
lacht Juan. | |
Es sind diese Kontraste und wie Jenkins sie in seiner flüssigen, gleichsam | |
musikalischen Bildsprache zum Ausdruck bringt, die „Moonlight“ zu etwas | |
ganz anderem machen als das, was man gemeinhin unter „sozialem“ Kino | |
versteht. | |
## Blick auf Körper und Gesten | |
An keiner Stelle verfällt „Moonlight“ ins Beispielhafte. Was Chiron erlebt, | |
vom Schrecken der drogensüchtigen Mutter bis zum schwierigen | |
Erkenntnisprozess der eigenen sexuellen Identität, zeigt der Film immer als | |
Persönliches und Privates. Die Kamera (James Laxton) akzentuiert das durch | |
ihren konzentrierten Blick auf Körper und Gesten. | |
Der Score (Nicholas Britell) setzt mit sinfonischen Klängen Spitzen zum aus | |
Lautsprechern tönenden Rap. Bei all dem räumt die Regie den kleinen, | |
alltäglichen Momenten, den kurzen Vorbereitungen vor einer Begegnung, dem | |
Wachliegen und Nachdenken die ihnen gebührende Zeit ein. | |
Obwohl die drei Schauspieler, die Chiron verkörpern – Alex Hibbert, Ashton | |
Sanders und Trevante Rhodes – nicht nur im Alter sehr verschieden sind, | |
sondern auch in der Gestalt, gelingt es ihnen auf großartige Weise, einen | |
gemeinsamen Charakter auf der Leinwand zu kreieren. Dem Wie-gelähmt-Sein in | |
einer Welt, die aus Widrigkeiten zu bestehen scheint, der Unfähigkeit und | |
Unlust, sich zu äußern über die eigenen Gefühle, dem Gepanzertsein, das im | |
Übergang vom Kind zum Jugendlichen zum jungen Mann mehr und mehr zunimmt, | |
verleihen alle drei in eigenen Nuancen Ausdruck. | |
An der Oberfläche mag „Moonlight“ wie ein Film ohne echte Handlung | |
erscheinen. Darunter aber brodelt es nur so vor Gefühl. Diese Emotionalität | |
ist es, die jede Diskussion um den besseren oder den besten Film obsolet | |
erschienen lässt. „Moonlight“ ist einfach ein Erlebnis. | |
8 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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