# taz.de -- Spielfilm „Malcolm & Marie“ auf Netflix: Sehen ohne Vorurteile | |
> Sam Levinsons Film „Malcolm & Marie“ ist ein Beziehungsdrama. Das | |
> Kammerspiel stellt zugleich Fragen nach gegenseitigem Erkennen. | |
Bild: Coronataugliches Kammerspiel: Malcolm (John David Washington) und Marie (… | |
Malcolm ([1][John David Washington]) und Marie (Zendaya) kommen gegen ein | |
Uhr nachts nach Hause. Während er merklich unter Strom steht, sich Whiskey | |
eingießt, die Musik aufdreht, ist sie verdächtig einsilbig, streift sich | |
die Schuhe ab, macht ihm Mac ’n’ Cheese. | |
Sie kommen von der Premiere seines neuen Films, der die Anwesenden | |
begeisterte, in dessen Dankesrede er jedoch vergaß, seine Freundin zu | |
erwähnen. Die Frage, ob es sich um einen kleinen Fauxpas oder aber um den | |
Ausdruck seiner narzisstischen Gleichgültigkeit handelt, ist der Auftakt | |
einer handfesten Beziehungskrise. | |
Der äußere Aufbau des Films „Malcolm & Marie“ ist denkbar einfach: eine | |
Nacht, ein Schauplatz, zwei Menschen, zwei Gemütszustände – und er ist | |
hervorragend für Corona geeignet. Sam Levinson, der nicht nur Regie führte, | |
sondern auch das Drehbuch verfasste, wandte sich dem Projekt zu, als die | |
Produktion der zweiten Staffel der [2][Serie „Euphoria“] aufgrund des Virus | |
auf Eis gelegt werden musste. | |
Auch in der HBO-Serie spielt Zendaya die Hauptrolle. Für die Darstellung | |
der drogenabhängigen Rue wurde sie mit dem Emmy gewürdigt. Wie sich bald | |
herausstellen soll, hat Marie eine ganz ähnliche Suchtvergangenheit, die | |
Malcolm womöglich als Inspirationsquelle für seinen Film nutzte. Derartige | |
Meta-Zusammenhänge und Bezüge auf die reale Filmwelt im Allgemeinen sind in | |
„Malcolm & Marie“ omnipräsent. | |
Seine Pandemie-Tauglichkeit wird dem Netflix-Film allerdings nie zum Makel, | |
sie wirkt nie aufoktroyiert. Ja, man erklärt lieber, als zu zeigen. Zu | |
sehen ist nur, was unmittelbar in dieser Nacht geschieht, auf Rückblenden | |
wird gänzlich verzichtet. Doch egal ob geplant oder nicht: Der Intensität | |
des Kammerspiels hat es gutgetan, dafür umso stärker auf spitze Dialoge, | |
zwei herausragende Schauspieler und eine einnehmende Ästhetik setzen zu | |
müssen. | |
## Die Kamera weist den Weg | |
Letztere entfaltet sich in einem weitläufigen Haus mit tiefen | |
Fensterfronten, dessen Potenzial Kameramann Marcell Rév voll ausschöpft. | |
Mal zeichnet die Kamera dem streitenden Paar, von draußen durch das Fenster | |
blickend, den Weg von der Küche ins Wohnzimmer vor. Mal wirft sie einen | |
bedrückend langen Blick aus dem Schlafzimmerfenster, bis die Protagonisten | |
davor endlich wieder im Bild erscheinen. Umgeben von einem dunklen Wald, | |
wird immer wieder die Spiegelung anstatt der Figuren selbst gezeigt. | |
So entsteht ein Effekt, der wenig mit dem klaustrophobischen Gefühl gemein | |
hat, das der Lockdown bisweilen hervorruft. Gerade die Distanz und Leere | |
vieler Einstellungen erzeugt – ähnlich wie in den Bildern Edward Hoppers – | |
ein Gefühl von Einsamkeit. Jeder Mensch eine Insel, die Schwierigkeiten im | |
gegenseitigen Erkennen sind das eigentliche Thema von „Malcolm & Marie“, | |
das sich durch alle Aspekte des Films zieht. | |
Die Tatsache, dass in Schwarz-Weiß gedreht wurde, lässt das Geschehen | |
wiederum zeitlos wirken. Einige Themen, die in dieser Nacht verhandelt | |
werden, sind es tatsächlich, wie der Großteil der Punkte im Streit zwischen | |
dem Paar, der bald zu einer Grundsatzdebatte um urmenschliche | |
Angelegenheiten wie Anerkennung und Abhängigkeit ausufert. | |
## Vergleich mit Schwarzen Filmemachern | |
An anderen Stellen tangiert ihr Gespräch aktuelle Debatten. Dann ist der | |
Film ganz auf der Höhe der Zeit. So wird gleich zu Beginn Malcolms Freude | |
über die positiven Reaktionen der Presse dadurch getrübt, dass man ihn mit | |
Spike Lee, Barry Jenkins – und damit ausschließlich mit Schwarzen | |
Filmemachern – vergleicht. Er befürchtet, dass sie in seinem Film über eine | |
Schwarze, drogenabhängige Frau, die einen Entzug durchmacht, allein ein | |
Statement über Rassismus im Gesundheitswesen sehen könnten. | |
Dass Sam Levinson selbst nicht Schwarz ist, bietet Anlass zur Frage, | |
inwiefern er sich zum Thema äußern kann und weshalb er seinem Protagonisten | |
besagte Worte in den Mund legt. Dazu lässt sich zunächst festhalten: Seine | |
Figur Malcolm wäre bereits über die Frage empört. | |
Denn als bei der Los Angeles Times die langersehnte erste Kritik erscheint, | |
die seinen Film zwar als Meisterwerk bezeichnet, aber auch moniert, er habe | |
zwar „das Stilmittel des weißen Retters brillant umschifft“, zugleich | |
jedoch zu lang im durch geschlechtsspezifische Gewalt hervorgerufenem Leid | |
seiner Protagonistin geschwelgt, folgt ein rasender Monolog. | |
## Identitäten und ihre Motive | |
Malcolm echauffiert sich, dass man ihm als Schwarzen Filmemacher besagtes | |
Stilmittel nicht vorwerfen könne, als männlichen Filmemacher den „male | |
gaze“ aber unbedingt unterstellen müsse. Er moniert, statt des Films würden | |
ausschließlich die darin vorkommenden und daran beteiligten Identitäten und | |
ihre Motive gesehen, die in ihrer Gänze sowieso nie greifbar seien. | |
Warum habe sich David O. Selznick so lange mit „Vom Winde verweht“ | |
herumgeschlagen? Und könnte es sein, dass „Moonlight“ so universell und | |
genial ist, weil Barry Jenkins nicht schwul ist? Für Malcolm lautet die | |
Antwort auf die Frage, was Filmemacher antreibt, dass man es schlicht nicht | |
wissen kann. | |
Man kann darin ein vernichtendes Urteil Sam Levinsons über den Sinn von | |
Kritik an sich sehen. So tut es ironischerweise die im Film angesprochene | |
Los Angeles Times – diesmal real – in ihrem Artikel über „Malcolm & Mari… | |
der laut überlegt, ob das Motiv des Regisseurs und Autors ein so | |
kleinliches wie Rache sein könnte – für eine schlechte Kritik der Zeitung | |
zu Levinsons Thriller „Assassination Nation“. | |
## Jenseits von vorurteilsbehafteten Zuschreibungen | |
Oder man sieht in Malcolms Monolog auch ein Nachdenken über das menschliche | |
Bedürfnis, in Gänze, jenseits von vorurteilsbehafteten Zuschreibungen, zu | |
sehen und gesehen zu werden. Für ihn bleibt es ein Mysterium, wie es | |
gelingt, dem Publikum einen Schmerz nachempfindbar zu machen, mit dem man | |
selbst nichts zu tun hat. | |
Was also kann ein jeder erkennen – und was nicht? Welche Erfahrungen | |
verbinden uns – und welche sind bestimmten sexuellen, geschlechtlichen, | |
kulturellen Identitäten vorbehalten? Und was qualifiziert uns dazu, über | |
bestimmte Erfahrungen zu sprechen? | |
Um das Ringen um gegenseitiges (An-)Erkennen geht es schließlich auch | |
zwischen Malcolm und Marie. Während er ihr vorwirft, von seinem Schaffen | |
zehren zu wollen und seine Unterstützung während des Entzugs nicht zu | |
würdigen, leidet sie darunter, dass er ihr ihre Geschichte genommen habe, | |
ohne sie für die Rolle zu besetzen oder ihr wenigstens dafür zu danken. | |
Für seine sonstige Nuanciertheit kommt das Finale nach etwas über 100 | |
Minuten recht plötzlich – und mit einem Song, in dem es heißt, „There’s… | |
fine line between love and hate, you see“ („Liberation“ von Outkast), | |
unnötig vereindeutigend daher. Ob man an den vorangegangenen Dialogen | |
Freude hat, hängt wohl auch davon ab, ob man sich in Malcolms und Maries | |
Auffassungen zu Kunst und Zwischenmenschlichem wiederfindet oder zumindest | |
bereit ist, sich beherzt daran zu stören. | |
4 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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