# taz.de -- Schwuler Coming-of-Age-Film: Für immer 17 | |
> Selten bekam ein Film so viele Vorschusslorbeeren. Doch „Call Me by Your | |
> Name“ ist eine Zeitmaschine, die einen in den Sog des Verliebtseins | |
> zieht. | |
Bild: Die jungen Männer mit aussagekräftigem Anschauungsmaterial | |
Meistens will man mit einer Filmkritik eine neue Perspektive eröffnen, | |
einen persönlichen Blickwinkel oder zumindest eine Meinung klarmachen. | |
Manchmal bleibt aber nur schlichte Zustimmung: Viel ist über „Call Me by | |
Your Name“ schon geschrieben worden, und zwar ausschließlich Gutes oder | |
besser: Begeistertes. | |
Es darf hier noch einmal bestätigt werden: Dieser Film ist wie eine | |
Zeitmaschine. Er versetzt einen zurück in die eigene Jugend, er lässt einen | |
alles erleben, als sei man 17 Jahre alt und frisch und unsterblich | |
verliebt. Er bringt Gefühle hervor, die man schon vergessen haben könnte, | |
Emotionen, die vielleicht verschüttet gegangen sind. Und sollte man – aus | |
welchem Grund auch immer – keine erste große Liebe gehabt haben; nun weiß | |
man mit Sicherheit, was man verpasst hat. | |
Der italienische Regisseur Luca Guadagnino erzählt die Geschichte des | |
17-jährigen Elio (Timothée Chalamet), der – wie jedes Jahr – die | |
Sommermonate mit seiner Familie auf deren Landsitz in der Nähe des | |
Gardasees verbringt. Der Vater (Michael Stuhlbarg) ist Archäologieprofessor | |
und mit antiken Ausgrabungen betraut. Dafür lädt er jeden Sommer einen | |
Stipendiaten zu einem Forschungsaufenthalt. Dieses Jahr ist es Oliver | |
(Armie Hammer), ein blonder Adonis aus Neuengland. | |
Lässig, selbstverständlich und arrogant wirkt er nach seiner Ankunft auf | |
den schüchternen Elio, der ganz in seiner Welt aus Büchern und Beethoven | |
lebt und nur wenig Zeit mit den Gleichaltrigen verbringt. Die Herzen der | |
Mädchen fliegen Oliver im Handumdrehen zu, was Elio zunächst als | |
Außenstehender beobachtet. Ihre erste gegenseitige Unterhaltung ist | |
bezeichnend: „What are you doing here?“, fragt Oliver. „Waiting for summm… | |
to end“, antwortet Elio. Dieses foreshadowing wird Wirklichkeit: „Call Me | |
by Your Name“ dreht sich einzig und allein um diesen Sommer der ersten | |
Liebe, der Liebe Elios zu Oliver. | |
## Wertschätzende Eltern | |
Das Haus ist der Dreh- und Angelpunkt des Films. Von hier aus brechen Elio | |
und Oliver zu ihren Ausflügen auf, sie schlafen Tür an Tür und müssen sich | |
das Badezimmer teilen. Die Eltern hingegen teilen ihre eigenen | |
intellektuellen Leidenschaften mit Elio, sie sind für ihn da, lassen ihm | |
aber auch bewusst Freiraum zur Selbsterkundung. Sie sind eigentlich, wie | |
man sich Eltern nur wünschen kann: Der familiäre Umgang ist liebevoll, | |
etwas Wertschätzendes und Wohlmeinendes haftet den beiden an. | |
Genau diese Tatsache lässt Elio bei dem, was folgt, noch mehr im | |
Mittelpunkt stehen, denn es gibt keine Nebenhandlung, nichts, was die Liebe | |
in ihrem Lauf stören könnte. Erzählerisch begleitet wird die Handlung von | |
den Geräuschen des Sommers: zirpende Grillen, lauer Wind und fließendes | |
Wasser. | |
Zunächst flüchtet Oliver jedoch vor Elios Avancen und behandelt ihn | |
stattdessen von oben herab, wie einen unsicheren Teenager. Während Oliver | |
sich in seiner glatten, yankeehaften Oberflächlichkeit durch die Szenerie | |
bewegt, versucht Elio die in ihm sprießenden Gefühle einzuordnen. Er saugt | |
den Duft von Olivers Unterwäsche auf und bändelt gleichzeitig mit Marzia | |
(Esther Garrel) an, einem Mädchen aus Paris, das ebenfalls die Ferien im | |
Dorf verbringt und in Elio verliebt ist. Sie schlafen miteinander, Elio ist | |
hin- und hergerissen, denn er spürt, dass er sich nur aus Trotz auf Marzia | |
eingelassen hat. | |
Diese Unentschiedenheit der Liebe, dieses Hin-und-Hergerissensein, dieses | |
Verletzt- und Einanderausgeliefertsein wird mit solcher Brillanz auf die | |
Leinwand gebracht, dass man sich an Elios Stelle wähnt. Diese | |
Einfühlsamkeit ist ein impressionistischer Kraftakt, den Guadagnino in | |
naturalistischen, fließenden Pinselstrichen Leben einhaucht. Eines Abends | |
am nahegelegenen See versucht Elio dann Oliver zu verführen – mit Erfolg. | |
Doch Oliver weist Elio zunächst ab. Was ab diesem Zeitpunkt passiert, möge | |
jede und jeder für sich selbst herausfinden, das allgegenwärtige Gefühl des | |
Films dauert von Anfang bis Ende an. | |
Das Ensemble der Schauspieler verfällt dabei in einen wahren Spielrausch: | |
Der 20-jährige Timothée Chalamet spielt Elio so überzeugend, dass man sich | |
so nah dran fühlt wie vielleicht zuletzt an der Adèle aus Abdellatif | |
Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ (auch eine | |
Same-Sex-Liebesgeschichte). Wenn Chalamet alias Elio seine Hand gegen den | |
Kehlkopf presst, um ein Weinen zu unterdrücken und geradezu nach Olivers | |
Zärtlichkeit dürstet, ist jegliche Distanz, jegliche Beobachtungsposition | |
und Ratio passé. Armie Hammer als Oliver hingegen versucht verzweifelt eine | |
Distanz aufrechtzuerhalten, die seinem Gefühl widerspricht. Bis auch er | |
langsam beginnt, sich hinzugeben. | |
Das ist eigentlich das Schönste an „Call Me by Your Name“: Man wird | |
förmlich in den Film hineingesogen, tief in den taumelnden Sog des | |
Verliebtseins, in dem es kein Halten und keine Logik mehr gibt. Dabei ist | |
der Film ein stimmiges Ganzes, dessen Teile so kunstvoll harmonieren, dass | |
sie kaum als solche wahrnehmbar sind. | |
## Simple Filmsprache | |
Die Filmsprache Guadagninos ist nicht kompliziert, in gewisser Weise ist | |
seine Einfachheit, seine Simplizität das Alleinstellungsmerkmal von „Call | |
Me by Your Name“: Das Anwesen hat etwas bukolisch Selbstverständliches, die | |
Feldwege sind schnurgerade, die ist Landschaft flach. Der Ausflug zum | |
Gardasee endet in flächiger Dunkelheit, nicht in einem romantischen | |
Sonnenuntergang. | |
So vermeidet Guadagnino geschickt jeden Anflug von Kitsch und nutzt | |
stattdessen die Umgebung als Tableau für Elios sich entfaltende | |
Gefühlswelt. Überhaupt hat „Call Me by Your Name“ etwas Blühendes, etwas | |
unauffällig, aber intensiv Sommerliches – ein Spiegel der Sexualität, die | |
in dem Film eine so zentrale Rolle spielt. Bildsprache und Kameraführung | |
stehen damit in erotischer Symbiose. Der thailändische Kameramann Sayombhu | |
Mukdeeprom dürfte Cineasten ein Begriff sein: Er hat mit Regisseur und | |
Cannes-Gewinner Apichatpong Weerasethakul (der ebenfalls für seinen | |
fließenden Stil bekannt ist) bereits mehrere Filme gedreht. | |
Der Soundtrack stammt aus der Feder von Sufjan Stevens, der in | |
entscheidenden Momenten wie eine Off-Stimme funktioniert und die Bilder | |
verstummen lässt. Während des famosen Tracks „Mystery Of Love“ fährt die | |
Kamera sogar für lange Zeit einen ziemlich schnöden Waldweg entlang. Diese | |
Szene ist mustergültig für einen Film, in dem sich die verschiedenen | |
Elemente stets gegenseitig Platz zum Atmen lassen und trotzdem in eine | |
verführerische filter bubble verpackt sind, die jede Bewegung ins Licht der | |
ersten Liebe taucht. | |
Ja, der Film ist übervoll mit Schönheit, mit Sinnlichkeit, mit Erotik. Doch | |
er macht keine Schauwerte daraus, stellt seine Figuren und seine Geschichte | |
nicht aus und ist gerade deshalb ein so zutiefst modischer Film, dass er | |
einen wahrhaftigen Hype verursacht hat. Die Fähigkeit zur Dezenz, zur | |
sinnhaften, maßvollen Sinnlichkeit, ist offenbar ein Bedürfnis, das gut in | |
die heutige Zeit passt. | |
Es gab schon mal einen Regisseur, der sich sein Leben lang diesem Momentum | |
verschrieben hat: Éric Rohmer. Seine „Erzählungen der vier Jahreszeiten“ | |
und filmischen Sittenbilder, die „Contes moraux“, sind am ehesten damit zu | |
vergleichen, was „Call Me by Your Name“ so unbestreitbar anmutig macht wie | |
lange kein Film mehr: das unhintergehbare Gefühl der Liebe. | |
1 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Johannes Bluth | |
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