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# taz.de -- Sexszenen am Filmset: Ist das so okay für dich?
> Intimitätskoordinator:innen sorgen dafür, dass Sexszenen
> professionell und einvernehmlich laufen. Hierzulande etabliert sich der
> Beruf noch.
Bild: Léa Seydoux (r.) kritisierte, dass die Arbeit an „Blau ist eine warme …
Otis und Lily sitzen auf dem Bettrand. Das hier soll ihr erstes Mal werden.
Er spricht von Safe Words, sie von Wal-Sperma. Lily zieht ihr Oberteil aus,
fuchtelt mit Kondomen vor Otis Gesicht herum und beginnt, sein Kinn
abzulecken. Er bekommt Schnappatmung, erleidet eine Panikattacke und ruft
nach seiner Mutter.
Diese Fast-Sexszene aus der [1][Netflix-Serie „Sex Education“] ist
unangenehm mit anzusehen und das soll sie auch sein. So schlimm das Ganze
aber aussieht, beim Dreh wurde auf das Wohlergehen der
Schauspieler:innen geachtet. Die Intimitätskoordinatorin (IC) Ita
O’Brien hat die Sexszenen der Serie professionell betreut. ICs
choreografieren intime Szenen und sorgen dafür, dass respektvoll
miteinander umgegangen wird. Ein Beruf, den nicht nur Hollywood immer mehr
zu schätzen lernt, inzwischen tut es auch die deutsche Film- und
Fernsehbranche.
Julia Effertz ist die erste nach US-amerikanischen Branchenstandards
ausgebildete und von der Intimacy Professionals Association IPA
zertifizierte Intimitätskoordinatorin Deutschlands. Ita O’Brien, die als
erfolgreichste IC weltweit gilt, hat sie ausgebildet. Seitdem betreut sie
immer mehr deutsche Filmproduktionen, von Spielfilmen über Netflix-Serien
bis zu einem „Tatort“, der nächstes Jahr erscheint. ICs sorgen dafür, dass
der Dreh respektvoll und einvernehmlich verläuft, wenn sich
Schauspieler:innen vor der Kamera körperlich nahekommen müssen. Denn
bei schlechter Kommunikation oder unsensiblem Verhalten können Traumata
entstehen. Und das passiert beim Dreh häufiger, als man vielleicht vermuten
würde.
In „Der letzte Tango in Paris“ von 1972 gibt es eine Vergewaltigungsszene.
Die Tränen und das Entsetzen der damals 19-jährigen Schauspielerin Maria
Schneider, die man im Film sieht, sind nicht gespielt. Regisseur Bernardo
Bertolucci und Hauptdarsteller Marlon Brando haben die Szene absichtlich
nicht mit ihr abgesprochen. Sie wollten eine besonders „authentische“
Reaktion von Schneider erhalten. Noch Jahre später sprach Schneider von den
traumatischen Folgen dieses Missbrauchs.
## Nach Weinstein
Ein aktuelleres Beispiel von 2013 ist „Blau ist eine warme Farbe“, eine mit
der Goldenen Palme ausgezeichnete lesbische Liebesgeschichte mit einer
sechsminütigen Sexszene. Hauptdarstellerin Léa Seydoux [2][erzählte später
dem Independent], wie demütigend der Dreh mit Regisseur Abdellatif Kechiche
gewesen sei: „Ich fühlte mich wie eine Prostituierte.“
Seit 2017, als öffentlich bekannt wurde, dass der Hollywood-Produzent
Harvey Weinstein zahlreiche Frauen sexuell belästigt und missbraucht hatte,
bekommt der Beruf der Intimitätskoordinator:in immer mehr
Aufmerksamkeit. Ein Jahr nach dem Skandal kündigte der US-Sender HBO an,
von nun an bei jeder Produktion mit intimen Szenen mit ICs zu arbeiten.
Ebenfalls 2018 engagierte Netflix mit Ita O’Brien die erste IC für die
Dreharbeiten von „Sex Education“. Und seitdem auch für andere erfolgreiche
Serien wie „Bridgerton“ oder „Sex/Life“.
Effertz freut sich über die Entwicklung. Schauspieler:innen seien
ständig unterbeschäftigt und davon abhängig, besetzt zu werden. Unter
diesen Umständen willige man eher ein, wenn ein:e Regisseur:in fragt:
„Ist es okay für dich, wenn du dein Top ausziehst?“ Auch wenn man
eigentlich nicht möchte, sagt Effertz. Und das sei noch ein harmloses
Beispiel. Zu viele Menschen am Set, schlechte Kommunikation, Machtgefälle
und Druck können zu traumatischen Erfahrungen führen: „Es können psychische
Verletzungen stattfinden, bis hin zu sexuellem Missbrauch am Set“, sagt
Effertz. Sie und ihre Kolleg:innen sind dazu da, um genau das zu
verhindern.
Während Dialog- und Kampfszenen intensiv geprobt werden, war das bei
Sexszenen, die auch vollen Körpereinsatz fordern, lange nicht so,
kritisiert Effertz. Es hieße dann: Küssen kann jeder, jetzt macht mal! Oder
die Regie ruft: Verdammt noch mal, jetzt reiß ihr endlich die Bluse runter!
Ohne Handwerk kann einiges schief gehen. Deshalb werden Sexszenen von ICs
vor dem Dreh bis ins Detail choreografiert und geprobt. So sorgt man dafür,
dass nichts Unvorhergesehenes passieren kann. Dafür führt sie Vorgespräche
mit Schauspieler:innen, fragt nach deren Grenzen. Zum Beispiel, wo sie
nicht angefasst werden möchten oder welche Worte sie triggern. „Sie trauen
sich dann viel eher zu sagen: Ich möchte aber nicht, dass diese
Körperstelle gefilmt wird.“
## Grenzüberschreitung und Grenzziehung
Doch nicht alle Filmschaffenden sehen in dem Einsatz von ICs einen
Fortschritt. Man halte sie oft für „die Zensur“, sagt Effertz: „Es kommt
aus der Problematik der Grenzüberschreitung und deswegen wird meine
Position jetzt eben als Grenzziehung wahrgenommen.“ Manche
Regisseur:innen sind skeptisch gegenüber so einer Position an ihrem
Set. Der Regisseur von „Call Me By Your Name“, Luca Guadagnino, [3][sagte
beispielsweise im taz-Interview], er sehe keine Notwendigkeit, eine:n IC
zu engagieren.
Doch ICs sind nicht nur dafür da, ein besseres Arbeitsklima zu schaffen,
sondern gestalten auch das Endprodukt mit. „Die Qualität ist höher, wenn
ein Storytelling erarbeitet wird und man genau schaut, wie sich eine Figur
körperlich ausdrücken würde.“ Das klärt Effertz im Gespräch mit
Regisseur:innen. Welche Stellung siehst du, wenn es zum
Geschlechtsverkehr kommt? Siehst du Penetration? Siehst du einen Höhepunkt
und wenn ja, für wen? Wie lange soll die Sequenz dauern? Was ist hier die
Geschichte? Wer hat hier die Oberhand? Ist es Zärtlichkeit? Ist es
Triebbefriedigung?“
Mithilfe dieser Fragen sollen Sexszenen realistischer werden. Zum Beispiel
bei der Darstellung weiblicher Lust. Effertz nennt eine wohlbekannte Art
von Filmsex, über den viele Frauen den Kopf schütteln: „Wie realistisch ist
es, wenn eine weibliche Figur nach 30 Sekunden Penetration einen Höhepunkt
erlebt?“ Genauso weist Effertz Regisseur:innen darauf hin, wenn in
einer Stellung so gar kein Sex stattfinden könnte oder eine Frau sich
anders bewegen würde, um Lust zu gewinnen.
Dass ein Großteil der Filme, bei denen Effertz koordiniert hat, noch gar
nicht veröffentlicht sind, zeigt auch, wie neu der Einsatz von ICs bei
deutschen Produktionen ist. Aber auch hierzulande scheint das Interesse zu
wachsen.
## Viel Handlungsbedarf
Das Medienbord Berlin-Brandenburg fördert seit April 2021 die Kosten für
Intimitätskoordinator:innen. Christoph Müller, Geschäftsführer der
Constantin-Film-Produktion, sagt der taz, er befürworte ICs am Set,
verpflichtend seien sie jedoch nicht. Und auch öffentlich-rechtliche
Anstalten nutzen gelegentlich ICs, wie Effertz für den NDR-„Tatort“ „All…
kommt zurück“ oder andere bei der ARD-Serie „All You Need“ sowie bei der
rbb-Koproduktion „Legal Affairs“ und der Serie „Wild Republic“, einer
Koproduktion von WDR und Magenta-TV.
Die Rückmeldungen der Sender sind positiv. Doch warum gibt es ICs dann
bislang erst bei einzelnen Produktionen? „Es ist ein Beruf, der neu
entsteht. Erst muss ein Angebot geschaffen werden. Deshalb wird Intimacy
Coordinating noch ein bisschen Zeit brauchen, bis es sich durchsetzt“, sagt
Barbara Rohm. Sie ist Kulturmanagerin und ehemalige Vorsitzende von Pro
Quote Film, einem Verein, der sich für eine Erhöhung des Frauenanteils in
der Filmbranche einsetzt.
Auch hat sie Themis mit aufgebaut, eine unabhängige Vertrauensstelle, an
die sich Filmschaffende im Falle sexueller Übergriffe wenden können. In
Kooperation mit dem Bundesverband Schauspiel (BFFS) baut Rohm das erste
deutsche Ausbildungsprogramm für Intimitätskoordination auf. Dort
lernen Filmschaffende ab diesem Winter verschiedenste Fähigkeiten, von
Choreografie über Arbeitsrecht und Trauma-Awareness bis hin zu
Kommunikation mit Regisseur:innen.
Rohm schätzt die Zahl der aktuell in Deutschland arbeitenden
Intimitätskoordinator:innen noch gering ein: „Bisher sind es
nicht sonderlich viele. Hundert ist auf jeden Fall viel zu hoch. Eine
genaue Zahl gibt es nicht, da es Spezialisierung für Menschen ist, die
bereits in anderen Berufen in der Branche tätig sind.“ Die Koordination bei
intimen Szenen sei zwar wichtig, sagt Rohm, „aber es ist nur ein Baustein“.
Für den Umgang mit der Darstellung von Intimität brauche man durch den
gesamten Produktionsprozess hindurch Standards. Daran arbeitet sie aktuell
mit dem BFFS.
Auch Effertz sieht noch viel Handlungsbedarf, vor allem bei dem Schutz vor
Missbrauch am Set: „Ich würde mir wünschen, dass alle Sender einfach mal
sagen: Wir fahren ab jetzt eine Nulltoleranzpolitik“, sagt sie, „und vor
allem sollte Intimitätskoordination einfach Normalität sein.“
31 Aug 2021
## LINKS
[1] /Kolumne-Die-Couchreporter/!5567474
[2] https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/features/blue-warmes…
[3] /Regisseur-ueber-Serie-We-Are-Who-We-Are/!5709583
## AUTOREN
Emeli Glaser
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