# taz.de -- Russisches Tarkowski-Filmfestival: Das Zentrum in der Peripherie | |
> Das Andrei-Tarkowski-Filmfestival Zerkalo bringt internationales Kino | |
> nach Iwanowo. Die Initiator*innen bewerben das Ganze in Deutschland. | |
Bild: Denkmal in Iwanowo für die Kämpfer der Revolution von 1905 auf dem Plat… | |
Ich brenne für das [1][russische zeitgenössische Kino]“, sagt Alexei, | |
Jurymitglied des Kinofestivals „Zerkalo“ und Betreiber einer angesagten Bar | |
in Iwanowo, während symphonische Orchesterklänge mit E-Gitarren-Verstärkung | |
über den Dorfplatz von Jurjewets schallen. | |
Hier, in dem Dorf an der Wolga, wo der Regisseur [2][Andrei Tarkowski] | |
seine Kindheit verbracht hat, feiern im Sommer einige hundert Festivalgäste | |
und Dorfbewohner die Eröffnung des Filmfestivals Zerkalo, benannt nach | |
Tarkowskis gleichnamigem Film. Der Ort liegt gut dreihundert Kilometer von | |
[3][Moskau] entfernt, wie auch die Stadt Iwanowo, in der ein Großteil des | |
Festivals abgehalten wird. | |
Jede Woche zeigt Alexei einen russischen Film in seiner Bar Tesno, die sich | |
bei Nacht in den einzigen Technoclub der 400.000-Einwohner-Stadt Iwanowo | |
verwandelt – kostenlos und „illegal“, wie er sagt. „Das Festival tut der | |
Stadt gut, spaltet aber immer noch die Bevölkerung. Wichtig ist doch, dass | |
es den Leuten gefällt“, bekräftigt er. | |
Und das sei nicht immer so gewesen. Lange Jahre hatte man das Festival | |
weniger für die Menschen aus der Oblast Iwanowo, dem Verwaltungsbezirk | |
Iwanowo, als für die Elite der russischen Kulturlandschaft organisiert: | |
Einmal im Jahr verlagerte ein geschlossener Expertenkreis seine Gespräche | |
zum zeitgenössischen Kino aus der Hauptstadt in die russische Peripherie, | |
ohne sich dabei für ein lokales Publikum zu öffnen. | |
## Der Ruf des elitären Kulturevents | |
Nicht in Iwanowo, sondern in der Nachbarstadt Pljos trafen sich die | |
privilegierten Festivalgäste – in einer Stadt, die bekannt dafür ist, dass | |
sich hier Datschen reicher Geschäftsleute und Beamter dicht an dicht | |
reihen. | |
„Als wir das Festival vor zwei Jahren übernommen haben, lag diese Stimmung | |
in der Luft, ein Festival für die Menschen zu machen, für die Stadt“, | |
erzählt die hauptsächlich in St. Petersburg arbeitende Festivalproduzentin | |
Alexandra Achmadschina auf dem Weg in die Festival-Location in Iwanowo, das | |
Kino Lodz. Wer mit Gästen aus der Region über das Festival spricht, | |
erfährt, dass Zerkalo noch immer der Ruf anhaftet, ein verschlossenes, | |
elitäres Kulturevent zu sein – eine Altlast der ersten elf | |
Festivaleditionen. | |
Anar Imanow, Slawist und Ko-Drehbuchautor des im Rahmen des Festivals | |
zweifach preisgekrönten Films „End of Season“, der beim Internationalen | |
Filmfestival in Rotterdam 2019 den Fipresci-Preis erhielt, betont, dass das | |
Filmfestival den Menschen die besondere Gelegenheit biete, ihre Stadt aus | |
den Augen der Filmschaffenden zu betrachten. „Iwanowo wartet mit einem | |
unerwarteten kulturellen, historischen Reichtum auf. | |
Es ist eine Stadt der Mythen, die dazu einladen, wiederentdeckt und | |
weitergedacht zu werden.“ Anar Imanow nennt dieses Phänomen in Anlehnung an | |
den Tarkowski’schen Festivalnamen „Spiegeleffekt“ – „Zerkalo“ ist r… | |
für „Spiegel“: Iwanowo werde zu einem Ort der Imagination – eine Stadt, … | |
der die Zuschauer Teil eines fiktiven Raums werden können. | |
## Plattenbauten, orthodoxe Kirchen und sakrale Neubauten | |
Das heterogene Stadtbild Iwanowos mag beim ersten Hinsehen weniger reizvoll | |
erscheinen als das denkmalgeschützte, malerisch auf einer Anhöhe am rechten | |
Wolga-Ufer gelegene Pljos: Fabrikarchitekturen aus Backstein vermischen | |
sich mit sowjetischen Plattenbauten und neueren Interpretationen derselben. | |
Hier und da schälen sich archaische Türme orthodoxer Kirchen aus den | |
Hinterhöfen, während schillernde sakrale Neubauten den zentralen Plätzen | |
der Stadt ihren Stempel aufsetzen. | |
Auf einem Spaziergang mit einer Gruppe internationaler Festivalgäste | |
entschlüsselt Michail Timofejew, Experte für die lokale Stadtarchitektur | |
und Philosophieprofessor an der Staatlichen Universität von Iwanowo, diese | |
urbane Assemblage. Zwar sei Iwanowo Teil des sogenannten goldenen Rings, | |
zugleich unterscheide sich die Industriestadt substanziell von den übrigen | |
Städten der beliebten Reiseroute. Anders als das sich nordöstlich von | |
Moskau erstreckende historische Städtenetz ist Iwanowo nicht gespickt mit | |
altrussischen Kathedralen mit ihren charakteristischen Glockentürmen. | |
Zwei Architekturen verleihen der Stadt ihren eigenwilligen Charakter, | |
verweisen auf die beiden prägenden Erzählungen der Stadtgeschichte, die | |
sich diskursiv wie materiell durch den Stadtraum ziehen – von Iwanowos | |
Beinamen „Stadt der Bräute“ und „Stadt des ersten Sowjets“ überschrie… | |
Rote Fabrik- und Backsteinbauten und herrschaftliche neoklassizistische | |
Stadtvillen zeugen einerseits vom vergangenen Ruhm der Stadt als Zentrum | |
der russischen Textilindustrie. | |
Andererseits ist der Stadtraum von eindrücklichen Avantgardearchitekturen | |
durchsetzt: Arbeiterhäuser, Schulen und Theater, Hotels und institutionelle | |
Einrichtungen im Stil des Konstruktivismus erinnern daran, dass Iwanowo in | |
den Geschichtsbüchern einst als „dritte proletarische Hauptstadt“ geführt | |
wurde. | |
## Periphere Provinzen rücken ins Zentrum der Kultur | |
„Für einige Tage stehen ausnahmsweise die armen Provinzen an der Peripherie | |
im Zentrum des kulturellen Geschehens“, sagt Alexandra Achmadschina, | |
während neben ihr die alten Motoren der im Berufsverkehr stehenden | |
Kleinbusse, genannt Marschrutkas, aufheulen. „Es kommen Besucher aus der | |
Region und aus anderen Städten, man hört sich gegenseitig zu und tauscht | |
sich aus.“ Als Stanislaw Woskresenski, neuer Gouverneur der Region, vor | |
zwei Jahren verkündete, das Filmfestival Zerkalo müsse erneuert werden, | |
fiel die Wahl auf Iwanowo als passende Spielstätte. | |
„Hier in Iwanowo gibt es eine tolle Zusammenarbeit mit den städtischen | |
Behörden“, sagt Achmadschina. Ihnen sei viel daran gelegen, dass es ein | |
städtisches Filmfestival mit einem anspruchsvollen Programm gebe, das dem | |
Niveau anderer europäischer Filmfestivals entspreche. | |
Die Öffnung der Festivalveranstaltungen für ein durchmischtes Publikum | |
sowie die regionale Kreativenförderung sind grundlegende Bausteine des | |
Festivalreglements, seitdem das St. Petersburger Kommando die Produktion | |
übernommen hat. Damit trifft das Filmfestival einen Nerv der Zeit: | |
Filmfestivals auf der ganzen Welt öffnen sich verstärkt für junge Leute und | |
potenziellen Nachwuchs der Branche. So organisierte das Filmfestival in | |
Locarno in diesem Jahr erstmals ein Basecamp für junge Kreative – ein Raum | |
für Austausch und für Experimente. | |
Dass das Festivalbudget von staatlichen Geldern getragen werde – vom | |
Kulturministerium der Russischen Föderation und von der regionalen | |
Regierung der Oblast Iwanowo nämlich –, werde in Deutschland nicht gerne | |
gehört. „Faktisch entscheiden wir aber alles selbst“, sagt Achmadschina | |
über die Kuratierung des Festivalprogramms, der Andrei Plachow als | |
Programmdirektor vorsteht. „Von den Förderern kommt nur das Geld. Gott sei | |
Dank, noch kontrollieren sie das Festivalprogramm nicht, es gibt keine | |
Zensur.“ | |
## Filmen, um den Blickwinkel zu erweitern | |
Wichtiger Akteur ist dabei „Russian Seasons“, ein Projekt der russischen | |
Regierung, das Veranstaltungen fördert, die die russische Kultur zum Inhalt | |
haben. „Russian Seasons basiert unter anderem auf der ausgezeichneten Idee, | |
dass es junge Menschen braucht, die sich mit der russischen Kultur | |
beschäftigen. Dieser Dialog ist wichtig“, betont Achmadschina. So konnte | |
auch der Festivalbesuch einer Gruppe von Slawistik-Studierenden der | |
Berliner Humboldt-Universität und Filmexpert*innen aus Berlin finanziert | |
werden. | |
Die junge Generation aus der Region solle merken, dass sie wichtig ist, | |
gesehen wird und etwas verändern kann. „Wenn man Filme macht, kann man | |
anders sehen lernen und versuchen, den Blickwinkel zu weiten“, sagt die | |
Festivalproduzentin. Deshalb gibt es in Iwanowo seit vergangenem Jahr | |
parallel zum offiziellen Festivalprogramm einen Dokucampus, der sich am | |
Lehrprogramm der Moskauer Schule für Dokumentationsfilm der russischen | |
Filmemacherin Marina Rasbuschkina orientiert, und in diesem Jahr kam noch | |
ein Animationsfilmcampus dazu. | |
Jugendliche aus dem Gebiet zwischen den Flüssen Wolga und Oka werden im | |
Auswahlverfahren um die Campusplätze bevorzugt. Einen hohen inhaltlichen | |
Anspruch mit der Integration der lokalen Kulturszene zu vereinen – das | |
scheint ein Hauptziel der neuen Festivalmacher*innen zu sein. „Für Iwanowo | |
ist Zerkalo das einzige kulturelle Ereignis im Jahr und die einzige | |
Möglichkeit für die Menschen, mal etwas anderes zu sehen – anders zu sehen | |
und zu denken.“ | |
## Statt Propaganda gegen LGBT soll Toleranz gelehrt werden | |
Normalerweise lebten sie in einem Nachrichtenstrom, der vor allem | |
Intoleranz verbreite, Propaganda gegen [4][LGBT], so Achmadschina. | |
„Einzusehen, dass Iwanowo auch eine Stadt sein kann, in der man geduldig, | |
umsichtig und tolerant miteinander umgeht – das wäre wichtig.“ Nach der | |
Abreise aus Iwanowo wartete auf die Festivalproduzenten um Alexandra | |
Achmadschina und Konstantin Schawlowski die Organisation des nächsten | |
Filmfestivals – dieses Mal nicht an der Peripherie, sondern in der | |
Kulturmetropole Berlin. | |
Im Oktober und November präsentierten sie gemeinsam mit der Filmzeitschrift | |
Revolver im Rahmen des Festivals des russischen Films „Kurze Begegnungen“ �… | |
benannt nach einem sowjetischen Filmklassiker der Nach-Tauwetter-Periode | |
von Kira Muratowa – eine Reihe sorgfältig kuratierter Filmprogramme mit | |
Screenings und öffentlichen Gesprächen. Das Festival wird bis zum Ende des | |
Jahres noch in München und St. Petersburg gastieren. | |
Auch diese Veranstaltungsreihe wurde von den Russian Seasons, jenem | |
Kulturförderungsprogramm der russischen Regierung, gefördert. Der | |
Hintergrund: In diesem Jahr ist Deutschland – nach Japan und Italien in den | |
vergangenen zwei Jahren – Austragungsort des Brückenbau-Projekts, das – | |
laut Selbstauftrag – die Beziehungen zwischen den Ländern auf kultureller | |
Ebene stärken soll: In 77 deutschen Städten finden bis Ende des Jahres noch | |
Dutzende Kulturveranstaltungen statt. Die russische Regierung hat insgesamt | |
120 Millionen Rubel (rund 1,5 Millionen Euro) beigesteuert. | |
3 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Elisabeth Bauer | |
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