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# taz.de -- Film „Bad Tales (Favolacce)“ im Kino: Der Planet der Kinder
> Der Film „Bad Tales (Favolacce)“ der Brüder Damiano und Fabio D’Innoce…
> spielt in einem Vorort. Kinder und Erwachsene trennen Welten.
Bild: Wenn Vororthölle ist, leiden die Kinder am meisten: Szene aus „Bad Tal…
Im Kino sind Kinder auf der Leinwand selten nur Kinder. Oft genug geht von
ihnen eine regelrecht erpresserische Wirkung aus. So fiebert man als
Zuschauer:in zwar auch mit James Bond mit, aber wenn ein Kind involviert
und gefährdet ist, steigt der Puls noch höher. Wenn es dagegen lacht, das
Kind, entspannen sich selbst diejenigen, die Mutterinstinkte weit von sich
weisen würden.
Kinder sind wandelnde Emotionalisierungsmaschinen – und selten hat jemand
sie so hinterhältig, fast schon bösartig eingesetzt wie die [1][Brüder
Damiano und Fabio D’Innocenzo in ihrem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Bad
Tales (Favolacce)“ von 2020].
Die Hinterhältigkeit beginnt mit dem Voiceover. Eine Männerstimme erzählt
aus dem Off, dass er in der Mülltonne, „neben ein paar
Fernsehzeitschriften“, das Tagebuch eines Mädchens entdeckt habe. Er
beschreibt grüne Tinte und eine „träumerische“ Handschrift. Beim Lesen ha…
ihn aber nicht der Inhalt des Geschriebenen interessiert, sondern das, was
da gerade nicht stand. „Als ob einige Dinge ausgelassen wurden, die
zugleich bedrückend präsent waren.“
Er habe beschlossen, das Tagebuch fortzuführen: „Was folgt, ist inspiriert
von einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte ist inspiriert von einer
falschen. Die falsche Geschichte ist ziemlich uninspiriert.“
Die Kamera zeigt dazu eine Reihe von Aufnahmen, die zu nah, zu detailliert
sind, um zu erfassen, wo und in wessen Geschichte man sich hier befindet.
Ein erleuchtetes Fenster umgeben von Bäumen. Ein Mädchengesicht hinter
einem Vorhang. Ameisen auf einem Stück Mauer. Ein altes Wasserreservoir.
Auf einem Tisch Bruchstücke eines Toastbrots, ein Kronkorken und ein
Feuerzeug.
## Versprechen auf suburbanes Familienglück
Erst nach dem Hinwies auf die „uninspirierte falsche Geschichte“ gibt es
den „Establishing Shot“, eine Drohnenaufnahme von einem Vorort mit
Einfamilienhäusern, die den Einfluss des amerikanischen Traums bis nach
Italien belegen. Die Rede ist nicht vom toten Mantra, dass es jeder
schaffen kann, der hart arbeitet, sondern von jenem viel verlockenderen
Versprechen auf suburbanes Familienglück: Häuschen mit Garten, Auto und
Gartengrill. Und für die besonders Glücklichen ein Pool.
Man will zunächst die Stimme einem der herumsitzenden Männer zuordnen und
gleichzeitig unter den Kindern die ursprüngliche Autorin des Tagebuchs
ausmachen. Aber der Fluss der Bilder, der dieser doch eigentlich vertrauten
Welt eine Aura des Bizarren verleiht, unterbindet das. Was die Männerstimme
eingangs über die Lektüre des Tagebuchs konstatierte, lässt sich gut auf
die Zuschauer:innenerfahrung des ganzen Films übertragen: Das
vordergründig Erzählte ist weniger faszinierend als das, was sich dahinter
zu verbergen scheint.
Vordergründig haben wir es mit einer „Fabel“ aus der Vorstadt zu tun. Erst
nach und nach gelingt es, die einzelnen Familien richtig zu sortieren. Da
gibt es die Eltern mit den zwei Kindern, die Vorbildlichkeit markieren. Den
lockeren, alleinerziehenden Vater mit Sohn. Die Tochter, der die Eltern die
Haare abrasieren, weil sie angeblich Flöhe hat. Die rauchende Schwangere.
Den Mann, der seinen aufblasbaren Pool mit dem Messer aufsticht und die Tat
„den Zigeunern“ anlasten will. [2][Der Umgangston ist grob, aber nicht
durchweg bösartig].
## Die Kinder durchschauen ihre Eltern
Was die Brüder D’Innocenzo atmosphärisch großartig herausarbeiten, ist die
absolute Trennung, die zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt verläuft. Es
finden zwar Interaktionen statt – Zurechtweisungen, Fragen –, aber in
Wahrheit leben sie wie auf unterschiedlichen Planeten. Mit dem großen
Unterschied, dass für die Eltern die Kinder ein fortwährendes Rätsel
darstellen, während umgekehrt die Kinder ihre Eltern nicht nur bis ins
Detail beobachten, sondern auch völlig zu durchschauen scheinen.
Anders als in den meisten „Fabeln“, die Erwachsene gegen Kinder stellen,
sind die Letzteren hier aber weder die einseitigen Opfer noch taugen sie
als Metaphern für Unschuld. Im Gegenteil, sie haben es faustdick hinter den
Ohren. Und ein Lehrer, dessen Motive nie ganz klar werden, stiftet sie zu
unvorhersehbaren Taten an, die wiederum die eingangs beschriebene
Emotionalisierung wie als Farce aufgreifen.
So schwül die dargestellte Atmosphäre ist – die Sommerhitze drückt sich
nicht nur in viel nackter Haut, sondern vor allem auch auf der
grillenzirpenden Tonspur aus –, so unterkühlt ist der Erzählton, der jeden
Versuch der Identifikation mit den Figuren, egal ob erwachsen oder
kindlich, fast unmöglich macht. Das ist auf seine Weise anstrengend und
über die Länge des Films auch frustrierend.
Zugleich halten einen die Aufnahmen bei der Stange, die mit nie
nachlassendem Elan der Alltäglichkeit des Einfamilienhäuservororts etwas
Mysteriöses abgewinnen. Das herumliegende Spielzeug, der nicht geleerte
Aschenbecher, das abgestellte Wasserglas – unablässig stellt sich die Frage
nach dem „bedrückend Präsenten“, von dem hier zugleich geschwiegen wird.
5 Jan 2022
## LINKS
[1] /Iranischer-Film-gewinnt-die-Berlinale/!5668002
[2] /Paolo-Sorrentinos-Film-Die-Hand-Gottes/!5819243
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Familie
Italien
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italienisches Kino
Schwerpunkt Berlinale
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