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# taz.de -- Spielfilm „One of These Days“: Drama aus dem Autofenster
> Viel Tragik: Vor der Kulisse eines mehr als verrückten
> Hands-on-Truck-Contests fragt „One of These Days“ nach dem Glück im
> fossilen Kapitalismus.
Bild: Bloß die Hände am Truck lassen: Kyle (Joe Cole) will in „One of These…
Was ist Glück? Einige behaupten, Glück sei die subjektive Empfindung der
drei Gs: Gesundheit, Gesellschaft und Geld. Das Erstaunliche an diesem
Modell ist seine Wechselwirkung. Wenn eines der drei Gs wächst, bleibt der
glückliche Gesamteindruck gleich: Laut Umfragen macht mehr Geld ab einer
gewissen Grenze nicht glücklicher, ebenso wenig wie eine größere Anzahl von
Freundschaften.
Und gesunder als gesund kann man nicht sein. Fehlt oder verschwindet jedoch
eines der drei Gs, trösten die anderen beiden kein bisschen: Was nützt das
Geld, wenn man krank ist, was Gesundheit, wenn man einsam ist. Und bei Geld
(beziehungsweise dem Mangel daran, der Armut) hört die Freundschaft auf.
Glück könnte demnach durchaus ein „nagelneuer Matterhorn 220 Truck mit
V8-Motor“ sein. Den blauen Pick-up gibt es, wie am Anfang von Bastian
Günthers Drama „One of These Days“ ein agitierender Autohändler in die
Kamera eines Lokalsenders schreit, beim alljährlichen „Hands on“-Wettbewerb
in einer texanischen Kleinstadt zu gewinnen. Solche Wettbewerbe finden
tatsächlich seit Jahrzehnten in den USA und anderen Ländern statt, ihr
Prinzip ist so schlicht wie ambivalent: Als „Preis“ winkt ein neues Auto,
und die Aufgabe der ausgelosten Kandidat:innen besteht darin, um diesen
Wagen herumzustehen und das Blech möglichst lange mit mindestens einer Hand
zu berühren.
Der „Wettbewerb“ zehrt somit massiv an Leib und Seele – Menschen stehen
teilweise tagelang, unterbrochen nur von minimalen Toilettenpausen, brechen
vor den Augen der Zuschauer:innen zusammen – oder werden gefeiert. Denn
flankiert wird der Wettbewerb von einer Riesenparty mit Autoangeboten und
Getränken. „That makes everybody a winner“, schließt der Händler seinen
Werbespot.
Die Autohausangestellte Joan (Carrie Preston), neben deren lebensgroßem
Pappaufsteller sich in der ersten Szene Kyle (Joe Cole) um einen Platz bei
dem Wettbewerb bewirbt, zieht Kyles Namen später aus einer Lostrommel. Und
so darf der junge Mann, der in einer Fast-Food-Kette Pommes frittiert und
den neuen Wagen dringend für seine kleine Familie (Frau und Baby) braucht,
ein gelbes Hands-on-Werbe-T-Shirt anziehen und sich zusammen mit 19
weiteren „Glücklichen“ an den Pick-up stellen: Sein Glück ist, im wahrsten
Wortsinn, zum Greifen nah.
Bastian Günther nähert sich dem Drama in seinem konzentrierten, von seinem
Stamm-Kameramann Michael Kotschi mit herausragenden Bildern ausgestatteten
(und von atmosphärischen The-Notwist-Klängen begleiteten) Film mit Bedacht.
Durch wenige, überzeugende Eigenschaften und passende Physis porträtiert er
Kyles Mitbewerber:innen als teils sympathische, teils grausame, ganz
normale Menschen, deren Gründe für die Tortur unter der texanischen Sonne
ebenso verständlich sein mögen wie die wirtschaftliche Zwangslage, in der
sich der Familienvater sieht.
Als Gegenpart zum mehr oder minder mittellosen Kyle, dessen Liebe zur
Ehefrau und dem gemeinsamen Kind und zu einem gehörlosen Bruder deutlich
sichtbar ist, stellt er die Figur Joan: Bei ihr ist es im 3G-Modell der
Punkt „Gesellschaft“, die sie zu einem unglücklichen Menschen werden läss…
Denn Joan ist einsam – das sieht man ihrem Gesicht an, das immer dann in
sich zusammenfällt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt.
Preston spielt die Mittfünfzigerin, die zu Beginn der Geschichte von ihrem
gebundenen Liebhaber verlassen wird (natürlich nach dem Sex), als sensible,
freundliche Person, die bei ihrem verzweifelten Versuch, andere nicht mit
ihren Problemen zu belasten, langsam zu implodieren scheint. Dass beide,
Joan und Kyle, unglücklich sind, hat also unterschiedliche Gründe. Und man
versteht schnell, dass beider Lösungsansätze fragwürdig sind.
## Dem Glück hinterherjagen
Die Dramaturgie von Günthers Film folgt nur zum Teil ähnlichen Storys wie
zum Beispiel Sydney Pollacks 1970 mit einem Oscar prämierten „Nur Pferden
gibt man den Gnadenschuss“: In beiden Geschichten ist es die
wirtschaftliche Not, die Menschen ihre Gesundheit gefährden lässt, um dem
Geld – oder dem Glück – hinterherzujagen. Pollacks Geschichte spielte
während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, in der hungrige
Kandidat:innen mit der Aussicht auf Verpflegung und ein Preisgeld
reihenweise bei Tanzwettbewerben mitmachten, um sich am Ende völlig
erschöpft über die Tanzflächen zu schieben.
Doch der Blick Günthers, dessen Film samt der am Ende lauernden Katastrophe
ebenfalls auf wahren Begebenheiten basiert, geht weiter: „One of These
Days“ erzählt über die bloßen, den Tatsachen immanenten Fakten hinaus.
Neben erwartbaren Konflikten, neben den verschiedenen Typen, die aus
verschiedenen Gründen zusammenbrechen, und neben deren sich einstellenden
Halluzinationen (und einem verblüffenden Trick mit einem erstaunlicherweise
immer frischen und ausgeruhten Kandidaten) macht er in einer zweiten Ebene
das personifizierte, besser gesagt durch eine Karosserie verkörperte Glück
selbst zur handelnden Person. Denn irgendwann beginnt der Pick-up zu
sprechen. Ob er nur mit Kyle spricht oder vielleicht auch mit den anderen –
wer weiß das schon.
Dass er spricht, ist folgerichtig: Welche Bedeutung das Auto nicht nur für
Kyles Chance auf Glück (Mobilität, bessere Jobs) im Autoland USA hat, zieht
sich von Anfang an durch den Film. Immer wieder hat Günther
Google-Earth-Kamera-ähnliche Sequenzen eingestreut, die sich langsam und
verpixelt auf die Umgebung mit ihren breiten Straßen und den kleinen,
flachen Häuschen scharfstellen, vor denen natürlich Autos stehen – es gibt
keine andere Möglichkeit, sich zu bewegen, und ohne Mobilität kann man
nicht leben.
Als Kyles Frau die kaputte, alte Familienkarre in eine teure
Reparaturwerkstatt bringen lässt und Kyle zu Fuß durch das verlassene Kaff
laufen muss, ruft der ungewöhnliche Anblick eines Gehenden einen Polizisten
auf die Spur: Was machst du denn da, fragt der erstaunt. Und dass die
Fast-Food-Filiale, in der Kyle zu wenig verdient, um sich einen neuen Wagen
leisten zu können, ein Drive-Through-Restaurant ist, versteht sich von
selbst.
## Bitterer Kommentar
„One of These Days“ ist somit – nach Günthers hervorragenden Werken
[1][„Autopiloten“ (2007)] und [2][„Houston“ (2013)], die ihre Dramen
ebenfalls zum großen Teil aus Autofenstern heraus entwickeln und um das
Thema Einsamkeit kreisen, auch ein bitterer Kommentar zum nicht nur
hierzulande viel diskutierten Strukturwandel: Selbst wenn man sich einig
ist, dass der Individualverkehr (bis auf Ausnahmen) abgeschafft gehört,
vergrößert man mit dem notwendigen Versuch, den Transport nachhaltiger zu
machen und letztlich die Welt vor dem Klimakollaps zu retten, in manchen
Fällen die Kluft zwischen Arm und Reich. Denn so zu leben, dass man kein
(oder selten ein) Auto braucht, können sich in kapitalistischen
Gesellschaften nur die Reichen leisten.
Das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ bekommt in Bastian
Günthers tragischer Geschichte zudem eine handfeste Note: Ein Schmied
schmiedet Eisen. Ein Auto besteht aus Blech (eigentlich aus
Eisenlegierungen wie Stahl). Kyle, der von dem aus der [3][Serie „Peaky
Blinders“] bekannten Briten Joe Cole mit einer verstockten, anrührenden
Verletzlichkeit gegeben wird, hat also nur versucht, seinem Glück auf die
Sprünge zu helfen – auf die einzige Art und Weise, die ihm möglich
erscheint. Obwohl er irgendwo im tiefsten Inneren weiß, dass der blaue
Pick-up ihm nicht wirklich helfen kann. Allein: Was soll er sonst tun.
18 May 2022
## LINKS
[1] /Liebe-war-frueher---Middleager-auf-Arte/!5185465
[2] /Ulrich-Tukur-in-Houston/!5219393
[3] /Arte-Serie-Peaky-Blinders/!5284785
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Film
Auto-Branche
USA
Sozialdrama
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Familie
Tatort
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