| # taz.de -- Christian Petzold über seinen Film „Undine“: „Der Mensch geh… | |
| > Der Rhein ist ein Fernweh-Fluss, findet Christian Petzold. Für seinen | |
| > neuen Film blieb er aber an der Spree. Darin verliebt sich eine | |
| > Unterwasserfrau in einen Landgänger. | |
| Bild: Undine (Paula Beer) und Christoph (Franz Rogowski) an der Spree im Regier… | |
| Berlin ist auf Sumpf gebaut und so der ideale Ort für einen weiblichen | |
| Wassergeist. In Christian Petzolds moderner [1][Adaption des Undine-Mythos] | |
| versucht sich die mit vielfältigen Interpretationen aufgeladene | |
| Frauengestalt gegen ihr Schicksal zu wehren. Sie will sich nicht rächen, | |
| will entgegen der Legende nicht den ihr untreuen Mann umbringen. Sie will | |
| lieben und setzt sich zur Wehr gegen den Fluch der Märchenwelt. Wasser war | |
| bereits das Element früherer Petzold-Heldinnen. | |
| taz am wochenende: Herr Petzold, wenn man Ihre Filme Revue passieren lässt, | |
| fällt auf, dass schon vor „Undine“ das Meer, die Flüsse oder Seen mehr als | |
| nur Kulisse waren. | |
| Christian Petzold: Entscheidend ist, glaube ich, dass in allen Geschichten | |
| das Meer der Ort ist, zu dem alles hinstrebt. In „Innere Sicherheit“ wird | |
| einmal erwähnt, dass ein Codewort für die terroristischen Aktionen des | |
| flüchtigen Ehepaars „Moby Dick“ gewesen sei. Der Anfang des Romans ist so | |
| schön, es geht darum, dass alles zum Wasser strebt. Und so ist es auch: Der | |
| Mensch geht ans Wasser – wenn er ein Problem, wenn er einen Konflikt hat, | |
| wenn er irritiert ist. Jeder Spaziergänger geht ans Wasser. Jedes Gemälde, | |
| das eine Traurigkeit in sich hat, hat ein Stück Wasser. Das kann ein Bach | |
| sein, ein kleiner Wasserfall, ein Tümpel oder das Meer. Das sind | |
| Sehnsuchtsorte. | |
| Sie selbst kommen aus dem nordrhein-westfälischen Hilden, sind also in der | |
| Nähe des Rheins aufgewachsen. Inwiefern war der Fluss ein solcher | |
| Sehnsuchtsort? | |
| Der Rhein ist ein Fluss, der auch ein bisschen wie das Meer ist. Wenn man | |
| am Ufer des Rheins steht, kriegt man nicht Heim-, sondern Fernweh. Das | |
| passiert normalerweise an Flüssen nicht. Der Rhein ist ein Fluss, von dem | |
| man weiß, dass er ins Meer mündet. Er kommt aus ein anderem Land, und er | |
| fließt in ein anderes Land. Er verbreitert sich in ein Delta und ist von | |
| Mythen umrankt. Man denkt an die Lorelei. Oder an die Geschichten von | |
| Flößern, die das geschlagene Holz über den Rhein nach Holland transportiert | |
| haben. Dort baute man daraus Häuser und Schiffe. Der Rhein ist bei mir ein | |
| Fernweh-Fluss. Es ist kein Fernweh in andere Zeiten, sondern ein | |
| geografisches. Wer am Rhein steht, der möchte eigentlich weg. | |
| In Ihrem [2][Exilfilm „Transit“] versuchen die Menschen, über das Meer den | |
| Nazis zu entkommen. Die Titelheldin von [3][„Barbara“] will über die Ostsee | |
| in den Westen fliehen. Lange Zeit sieht man in diesem Film das Meer gar | |
| nicht, man hört den Wellenschlag, den Seewind, die Möwen. Die Sehnsucht | |
| nach der Ferne ist akustisch in Szene gesetzt … | |
| Barbara weiß, dass hinter dieser Grenze ein Leben ist, dass sie noch nicht | |
| kennt. Was eine Gefahr ist. Das ist wie eine Seefahrergeschichte. Die | |
| Abenteuerlust bringt die Seefahrer aufs offene Meer, aber die Gefahr, nicht | |
| mehr wiederzukommen oder unterzugehen, ist auch immer da. Sie steckt in | |
| Barbara drin. Wie eine Seefahrerin möchte sie raus aufs Meer, raus aus den | |
| erstarrten Verhältnissen in der DDR. Aber sie weiß, dass das auch ihr Ende | |
| bedeuten könnte. | |
| Ohnehin ist das Meer in meinen Filmen meistens vieldeutig. In „Die Innere | |
| Sicherheit“ verliebt sich die Tochter des früheren Terroristenpaars am Meer | |
| und spürt, dass ihr der Kontakt mit Gleichaltrigen fehlt. Für sie ist der | |
| Atlantik also ein Sehnsuchtsort. Für die Eltern mit ihrer politischen | |
| Vergangenheit ist er eine Gefängnismauer: „Wenn wir die nicht überwinden, | |
| kriegen sie uns.“ Für die Eltern ist der Atlantik also eine Mauer, für das | |
| Mädchen hingegen ein Panorama, eine Projektion, eine Kinoleinwand. | |
| Ihre Heldinnen „Yella“ und „Undine“ kommen beide aus dem Wasser und sind | |
| auf der Suche nach einem anderen, eigentlichen Leben. Auch wenn Yella keine | |
| mythische Figur ist, hat der Anfang des Films etwas Märchenhaftes. Wie | |
| durch ein Wunder überlebt sie einen Autounfall, bei dem sie in einen Fluss | |
| stürzt … | |
| In „Yella“ habe ich die Ströme des Geldes und die Ströme des Flusses in | |
| Verbindung gebracht. Der Plot erinnert an den Horrorfilm „Carnival of | |
| Souls“ von 1962. Da ist der Fluss, die Brücke, der Tod. Man kommt noch | |
| einmal an die Oberfläche und darf noch einen Tag leben. Yella kommt aus der | |
| DDR und glaubt, dass sie den westlichen Kapitalismus begriffen habe, aber | |
| sie hat nichts begriffen. Deshalb muss sie sterben. [4][In „Undine“] | |
| spielen der Kapitalismus und auch Geld überhaupt keine Rolle. Es gibt auch | |
| keine Liebesökonomie, die beiden sind jenseits der Ökonomie. | |
| Statt von Tauschgeschäften könnte man von einem Austausch im schönsten | |
| Sinne sprechen: Undine, die Frau aus dem Wasser, arbeitet in Berlin als | |
| Stadthistorikerin und begegnet einem Mann, der als Industrietaucher sein | |
| Geld verdient. | |
| Beide sind in einem Element, das nicht ihr eigenes ist, aber das ist ihre | |
| Profession. Dadurch entsteht ein Neugierverhältnis zueinander. Er zeigt | |
| einer Unterwasserfrau das Wasser, ohne zu wissen, dass sie da herkommt. Und | |
| die Unterwasserfrau zeigt einem Mann, der ein Landgänger ist, eine Stadt. | |
| Das Schöne ist, dass er ihr zuhören möchte, ihren Geschichten zur Stadt | |
| Berlin. Er ist der erste Mann, der sie als Subjekt wahrnimmt. | |
| Die meisten Wasserwesen sind weiblich, inwiefern sind sie Männerfantasien? | |
| Sie sind verführerisch, tödlich. Ob es nun die Sirenen sind, die Lorelei | |
| oder Undine. Ihre Geschichten wurden von Männern geschrieben. Geschichte | |
| wird von Männern gemacht. Sie erschaffen sie an Orten, wo sie im Grunde | |
| alles zerstören, wo sie das Goldene Vlies stehlen, andere Länder | |
| überfallen. Im Gegenzug erschaffen sie immer wieder weibliche Figuren, die | |
| sich für einen Moment gegen die absolute Beherrschung zur Wehr setzen. Und | |
| diese Frauen müssen sie vorführen, stehlen, beschlafen, vergewaltigen, um | |
| Geschichte zu machen. | |
| Aber diese alte Geschichte – durchrationalisierte Männer, Ökonomen und | |
| Alphatiere, die sich eine Undine erfinden – hat mich an dem Stoff nicht | |
| interessiert. Genauso wenig wie die Männer, die sich in der Odyssee Wachs | |
| in die Ohren stopfen, um den Verlockungen der Sirenen nicht zu erliegen. | |
| Erst durch Ingeborg Bachmann und ihre Kurzgeschichte „Undine“ wurde mir | |
| klar, dass es darum gehen muss, der Frau, die von den Männern erschaffen | |
| wurde, eine weibliche Stimme zu geben. Und die Sehnsucht nach | |
| Selbstbestimmung. | |
| Einmal spaziert das Paar eng umschlungen entlang der Spree, die | |
| Regierungsgebäude spiegeln sich im Wasser und nicht nur die Politik, die | |
| dort gemacht wird, die Stadt Berlin wirkt seltsam entrückt. | |
| Ich bin viel durch Berlin gegangen und habe darüber nachgedacht, wo die | |
| beiden flanieren könnten. Dann dachte ich mir, dass es ja nicht darauf | |
| ankommt, einen schönen Hintergrund dafür zu finden. Vielmehr sollen die | |
| beiden so miteinander flanieren, dass ihnen die Welt egal ist. Mir gefällt | |
| die Asozialität von Liebe. In dem Augenblick, in dem man sich verliebt, ist | |
| man in einer Blase, in der einem egal ist, wer gerade Bundeskanzlerin ist, | |
| oder ob am Samstag Borussia Mönchengladbach spielt oder nicht. | |
| Die beiden sollten in einem Wasserglas der Liebe durch Berlin gleiten. So | |
| wollte ich das filmen und habe darüber auch viel mit meinem Kameramann Hans | |
| Fromm gesprochen. Die Stadt sollte den Liebenden zurufen „Aber hey, schaut | |
| mich doch an. Ich bin auch da, ich bin im Aufbau! Hier ist alles toll, hier | |
| bauen wir eine Ansichtspostkarte nach der anderen!“ Es ist ein strahlend | |
| blauer Sommertag. Die Welt ist leicht und schön. Die beiden zeigen der | |
| Stadt die kalte Schulter. Daher kommt, glaube ich, der Zauber der Szene. | |
| 27 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anke Leweke | |
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