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# taz.de -- „Roter Himmel“ von Christian Petzold: Der Sommer seines Missver…
> Christian Petzolds „Roter Himmel“, ausgezeichnet auf der Berlinale,
> verknüpft die Klimakrise mit Künstlernarzissmus und Leichtigkeit.
Bild: Eigentlich lässt die Arbeit es nicht zu: Leon (Thomas Schubert) mit Nadi…
Die Arbeit lässt es nicht zu“, ist sein Schlüsselsatz. Gerade, weil er
eigentlich so gar nicht zu Leon (Thomas Schubert) passt. Der Satz klingt
nach Beamtendeutsch, bestes Verstell-Sprech, dass Sachzwänge behauptet, wo
in Wahrheit ein kleines unsicheres Ich nicht zugeben kann, dass es
prokrastiniert, statt zu „arbeiten“.
In diesem Sinne passt der Satz auch wieder sehr gut zu Leon. Der junge
Mann, so erfahren wir nebenbei in [1][Christian Petzolds „Roter Himmel“],
hat ein erstes Buch veröffentlicht, offenbar mit guten Besprechungen. Nun
sitzt er am zweiten und kämpft. Mit seinem Stoff, seinem Selbstbewusstsein
und seiner Sicht auf die Welt.
Dass Leon wie gefangen ist in seiner Blase aus Selbstliebe und
Selbstzweifel, bringt der Film schon in der allerersten Szene auf den
Punkt: Da dämmert Leon im Wagen auf der Fahrt durch den lichten Küstenwald
zum Ferienhaus an der Ostsee. Sein Jugendfreund Felix (Langston Uibel)
sitzt am Steuer und reißt ihn mit einem „Irgendwas stimmt nicht“ aus dem
Halbschlaf. Der Motor habe Aussetzer. „Ich hör nichts“, sagt Leon.
Einen Schnitt später sind die beiden mit dem Auto auf der Strecke
liegengeblieben. Felix kann dem Motor ein letztes explosives Aufbäumen
entlocken, dann heißt es Koffer raus und zu Fuß durch den Wald. „Ich kenne
eine Abkürzung“, verspricht Felix, aber Leon bleibt skeptisch. Es ist der
Sommer seines Missvergnügens.
Im Film sind da noch keine fünf Minuten vergangen, und dennoch fühlt man
sich mittendrin als Zuschauer*in. Juni an der Ostsee, das Rascheln der
Blätter, das milde Blau des Himmels, die Stille im Wald, das angenehme
Gefühl von Abgeschiedenheit: Petzolds atmosphärische Beschreibung ist
ungeheuer dicht und einnehmend. Gerade deshalb fällt Leons Unwohlsein so
auf, und zwar nicht als rebellisches Nichtangepasstsein, sondern als träge
Unfähigkeit, sich ein bisschen treiben zu lassen, mal mit dem „Flow“ zu
gehen, mit dem Sommer und seinen Launen.
## Immer etwas gequälte Mimik
Thomas Schubert bringt das Unbehagen von Leon großartig zum Ausdruck. Nicht
nur in der Mimik, dem immer etwas gequälten Gesichtsausdruck, der zu sagen
scheint: „Ich bemühe mich doch!“, sondern in der ganzen Körpersprache, dem
stets etwas krummen Herumstehen in der Landschaft, den verkrumpelten
Kleidungsstücken, die an ihm herunterhängen und wohl die leichte Überfülle
zu tarnen versuchen. Dabei dosiert Schubert sein Abbild von Miesepetrigkeit
so präzis, dass er doch nie ganz zur Witzfigur wird.
Man lacht über ihn und seine demonstrative schlechte Laune, aber selten
laut heraus. Man versteht ihn nämlich gleichzeitig fast zu gut. Um ihn
herum genießen alle den Sommer, gehen Schwimmen, schließen Freundschaften,
machen sich nichts aus den ganzen Unannehmlichkeiten, seien es Mücken,
ungebetene Mitbewohnerinnen oder nächtliche Sexgeräusche aus dem
Nebenzimmer. Wie soll man sich da nicht ausgegrenzt fühlen?
Die Stichworte von Sommer, Laune und Missvergnügen lassen an [2][Eric
Rohmer] denken, der es so meisterhaft verstand, den Ausnahmezustand der
Ferien als Hintergrund zu nehmen für komplexe Erzählungen über zwiespältige
Gefühle und wie sie unser Leben prägen. Marie Rivière in „Das grüne
Leuchten“, Amanda Langlet als 15-jährige „Pauline am Strand“ oder auch
Melvil Poupaud als ratlos zwischen zwei Frauen stehender Gaspard in
„Sommer“.
## Das erotische Zentrum des Films
Die Figurenkonstellation, die Petzold in „Roter Himmel“ einsetzt, gleicht
auch deshalb dem von Rohmer, weil sie so bezogen auf Literatur- und
Bildungsreferenzen ist. Leon, der an seinem zweiten Roman arbeitet, Felix,
der als Fotograf eine Mappe für die Bewerbung an der Universität der Künste
erstellen will, Helmut (Matthias Brandt), der als Leons Verleger anreist,
um mit ihm das Manuskript durchzugehen.
Hinzu kommen Devid (Enno Trebs), der Rettungsschwimmer vom Strand, der Leon
durch die Flexibilität seiner sexuellen Neigung irritiert. Und dann
natürlich noch Nadia (Paula Beer), zuerst die ungebetene Mitbewohnerin und
dann ganz schnell das eigentliche erotische Zentrum des Films.
Wie der Film Nadia als Figur einführt, ist so raffiniert wie auch ein
bisschen abgeschmackt: Als Felix und Leon nach der Autopanne und ihrem
„Waldspaziergang“ zum Ferienhaus kommen, müssen sie entdecken, dass es
nicht wie erwartet leer steht. In der Küche stapelt sich das dreckige
Geschirr, eine nicht ganz fertig gegessene Lasagne steht auf dem Tisch,
zwei Weingläser in Sofa-Nähe lassen auf einen vergnüglichen Abend zu zweit
schließen.
## Der unbekannte Hausgast
Während Felix, dessen Familie das Haus gehört, seine Mutter antelefoniert,
um zu fragen, was Sache ist, wirft Leon einen Blick in dem Raum, in dem der
unbekannte Hausgast allem Anschein nach übernachtet hat: ein paar
hochhackige Schuhe auf dem Boden, ein Stück Lingerie auf dem ungemachten
Bett verraten, dass es sich um eine Frau handelt – und man wünscht sich,
Petzold hätte das vielleicht etwas weniger „klassisch“ männerfantasiemä�…
inszeniert.
Der Fakt, dass Leon nämlich, noch bevor er ihren Namen erfährt – „Nadia�…
erzählt Felix nach dem Telefongespräch mit der Mutter, sie sei die Nichte
einer Arbeitskollegin –, bereits fasziniert ist von der Unbekannten, hat
seinen Anlass weniger in so offensichtlichen Reizen als in der Architektur
der ganzen sommerlichen Atmosphäre.
Leon, so stumpf ihn sein „Ich bin Künstler!“-Narzissmus in vielerlei
Hinsicht macht, ist doch gleichzeitig auch ungeheuer empfindsam und
aufnahmegierig. Was seinen Freund Felix bewegt oder was mit seinem Verleger
los ist, bekommt er nicht mit, aber der Zauber, den Nadia auf ihre
unmittelbare Umgebung ausübt, der trifft ihn fast schmerzhaft ins Mark.
## Waldbrände in der Nähe
Diese Zwiespältigkeit macht den Film zu einem großartigen Porträt nicht nur
eines Autors in kreativen Nöten, sondern des Zeitgeists schlechthin. Zwar
führt der Film wie als Signal von Anfang an den titelgebenden „Roten
Himmel“ ein, den die Waldbrände in der Nähe erzeugen. Felix und Leon
erleben ihn in ihrer ersten Nacht vom Dach des Ferienhauses aus noch als
zwar Ehrfurcht gebietendes, aber doch bloß ästhetisches Spektakel.
Während hin und wieder ein Löschflugzeug krachend die Urlaubsstille
durchbricht, beruhigen sie sich gegenseitig, dass die Brände sie nicht
beträfen, weil besondere Meereswinde ihre Ecke schütze. Man könnte dieses
Gerede als völlig unsubtile Anspielung auf unser aller Haltung zur nahenden
Klimakatastrophe entschlüsseln – nur dass es da nichts zu „entschlüsseln�…
gibt, handelt es sich doch um ein Eins-zu-eins-Porträt.
Würde es der Film dabei belassen – fasziniert vom Spektakel der Gefahr,
lassen wir sie geschehen, während wir uns in falscher Sicherheit wähnen –,
käme es einem ziemlich billig vor. Aber tatsächlich erzählt „Roter Himmel�…
eben nicht nur von Leons Blindheit, sondern zugleich von seiner
Sensibilität. Dass er nicht mitgeht im „Flow“ dieser Sommertage, dass ihn
immer etwas stört und von der falschen Seite erwischt, entpuppt sich
zuletzt als seine besondere Gabe.
Der Film setzt darüber die anderen, diejenigen, die den Sommer genießen
können, nicht ins Unrecht, das ist das Schöne, aber er schlägt sich am Ende
doch überraschend auf Leons Seite. Das Buchprojekt muss er aufgeben, aber
die, die wirklich etwas verlieren, sind andere. Man kann darin eine Aussage
über Kreativität und ihre moralische „Messiness“ erkennen, oder auch eine
Aufforderung dazu, mehr achtzugeben, so gut man eben kann.
19 Apr 2023
## LINKS
[1] /Berlinale-Film-Roter-Himmel/!5914247
[2] /Zum-Tod-des-Regisseurs-Eric-Rohmer/!5149599
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Paula Beer
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