# taz.de -- Michel Decar „Kapitulation“: 7.500 Euro und die Folgen | |
> Michel Decar hat einen hochkomischen Künstlerroman geschrieben: | |
> „Kapitulation“. Er handelt vom versuchten Aufbruch eines prekären Poeten. | |
Bild: Das Buch „Kapitulation“ von Michel Decar ist im März Verlag erschien… | |
László Carassin ist ein Loser. Nein, das ist eine gemeine Übertreibung. | |
László hat sich dem Künstlerdasein verschrieben, und diesem ist es nun | |
einmal eigen, dass man zumeist verkannt und verarmt endet. László hat sich | |
schon damit abgefunden, dass seine Dinosaurierlyrik und seine | |
Weltraumnovellen weder bei Verlagen noch beim Publikum Anklang finden. | |
Da erhält er eine Auszeichnung für sein Schaffen: Die Sparkasse | |
Celle-Gifhorn-Wolfsburg verleiht ihm einen Förderpreis, 7.500 Euro in | |
Hundert-Euro-Scheinen. Was macht László mit dem Geld? Er besteigt einen Zug | |
in Richtung der Bulgarischen Riviera, um das verdammte Dichterdasein für | |
immer hinter sich zu lassen. | |
Das ist die [1][Exposition zu Michel Decar]s grandios-komischem | |
Künstlerroman „Kapitulation“. Nun gibt es gar nicht wenige Texte, die sich | |
auf die eine oder andere Art mit dem prekären Poetendasein beschäftigen, | |
mit der Vereinbarkeit von Brotjobs und Literatur. Decars Twist besteht | |
darin, dass sein Protagonist, für sich selbst undurchsichtig, für die Leser | |
aber sehr offensichtlich, an Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung | |
leidet. Das ist die berühmte Fallhöhe eines Textes, die in Decars Fall | |
schreiend komisch anmutet. | |
## Von Bulgarien an den Balaton | |
Man verliebt sich unmittelbar in László, der von Bulgarien aus an den | |
Balaton reist, wo er bei seinem Onkel unterkommt. Hier will er sich | |
dichterisch frühverrenten, doch wie soll das Geld für den Lebensabend | |
reichen? Es verflüchtigt sich schneller, als er „Sparkasse | |
Celle-GifhornWolfsburg“ sagen kann. | |
„Mich kotzte es an, arm zu sein. Warum hat mir die Sparkasse | |
Celle-GifhornWolfsburg nur 7.500 Euro in den Umschlag gesteckt, dachte ich | |
an einem dieser verregneten Septembertage, warum nicht 10.000 oder 15.000? | |
Mit 15.000 Euro hätte ich jetzt weniger Probleme. 15.000 oder 20.000 wären | |
eine anständige Preissumme gewesen, aber nein, sie haben mir nur 7.500 Euro | |
in ihren Umschlag getan, weil sie mich mit dieser absurd schiefen Summe | |
demütigen wollten.“ | |
Da sitzt er, der arme Poet, und statt von Sommer, Sonne und einer Ahnung | |
von Unendlichkeit umgeben zu sein, hockt er auf Plastikstühlen und sinniert | |
über Nintendo-Spiele. „Dafür bin ich nicht Dichter geworden. Dichter bin | |
ich geworden, um auf Wildeseln über die kasachische Hochebene zu reiten und | |
wahnsinnig arrogante Topmodels auf der Piazza di San Silvestro | |
abzuknutschen, aber sicher nicht, um in Wolfsburg als Pausenclown | |
aufzutreten.“ | |
Die gekränkte Eitelkeit macht László in Augen des Lesers, der ja in | |
abgeklärter Manier dem Typus des gescheiterten Poeten bei seinen Abenteuern | |
beiwohnt, nur nahbarer. Einmal überlegt er, ob er nicht eine Bank ausrauben | |
soll, aber seine kleinbürgerliche Erziehung reicht nur für kleinkriminelle | |
Akte. | |
## Das Eine-Million-Euro-Gedicht | |
Da schlägt ihm Onkel Bernát vor, ein Eine-Million-Euro-Gedicht zu | |
schreiben. Warum denn nicht! Sogar an einer göttinnengleichen Diotima | |
mangelt es László nicht, nur heißt sie bei ihm Mercedes Czeminski. Die hat | |
er angebetet, während er, 29-Cent-Netto-Spaghetti essend, das Dasein als | |
armer Poet fristete. Nur am Rande: Die Netto-Spaghetti, die scheinbar jeder | |
gute Dichter konsumiert haben muss, haben ihren Auftritt auch in einem | |
Martin-Piekar-Gedicht, sie sind literarisch und lyrisch also voll | |
satisfaktionsfähig geworden. | |
Jetzt nur nicht abschweifen! Die eigentlich ernst gemeinte Frage nach der | |
dichterischen Kapitulation in Zeiten der massenmedialen Dauerbeschallung, | |
in denen die Vorstellungen von Dichterfürsten uns nur mehr von | |
George-Buchcovern entgegenwehen, mutet hier so komisch an, weil dem Leser | |
sofort durchsichtig ist, dass László kein großer Dichter ist. | |
## Nicht nur Kalauer | |
Doch liefert dieser Künstlerroman nicht nur Kalauer; er spielt vielmehr | |
literarische Verfahren durch. Allerdings versanden auch diese wie Lászlós | |
Pläne. Gleich zu Beginn begegnet er im Zug zwei Herren mit | |
Bürstenhaarschnitt; da kommt doch noch was, denkt man, das ist der Auftakt | |
zu einen Krimi, mindestens einem im Stile von Emil und die Detektive. Aber | |
die Männer verschwinden. | |
Dann sind da Dingsymbole, die wiederholt auftauchen und von denen der Leser | |
unbedingt wünscht, dass sie Signifikantenstatus erhalten. Was ist etwa mit | |
den seltsamen Uhrenmagazinen, die permanent gelesen werden? László ist | |
sicher, dass sie „(a)ls Reiseführer in die Tiefen des | |
bundesrepublikanischen Unterbewusstseins, als Sternenkarte und Kodex für | |
das Unaussprechliche“ fungieren. Wenn er das sagt! | |
Nichts ist signifikant, alles ist überdeterminiert. Alles und nichts, darum | |
geht es in der Literatur. Einnehmender könnte die Kapitulation vor der | |
Literatur nicht sein. | |
18 Oct 2023 | |
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[1] /Regie-Newcomer-Ersan-Mondtag/!5363630 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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