| # taz.de -- Roman „Nachhausekommen“: Die Boheme im Zonenrandgebiet | |
| > Jan Peter Bremers ist für seine skurrilen Texte bekannt. Nun erschien | |
| > sein Kindheitsroman aus der Zeit einer Westberliner Künstlerkolonie. | |
| Bild: Der Autor Jan Peter Bremer | |
| Irgendwann, das war zu ahnen, würde Jan Peter Bremer bestimmt die | |
| Geschichte seines Vaters und [1][der in Westberlin berüchtigten Künstler | |
| der „Rixdorfer Drucke“] aufschreiben – mit all ihren Trinkgelagen, | |
| Fußballspielen und Grafik-Happenings. Der 1965 geborene Schriftsteller ist | |
| nicht von ungefähr durch skurrile Texte bekannt geworden. Diesen Stoff | |
| würde er sich nicht nehmen lassen. Und tatsächlich: Auf den ersten Blick | |
| sieht „Nachhausekommen“ auch genauso aus. | |
| Die Künstlerkolonie im Wendland, in die Jan Peter Bremer hineingewachsen | |
| ist, taucht schon in den ersten Zeilen auf, vor allem das Haus seines | |
| Vaters, des bildenden Künstlers und „Rixdorf“-Urgesteins Uwe Bremer: ein | |
| Schlösschen gleich hinter der Zonengrenze, an einem langgestreckten | |
| Badesee, und die vier Grafiker, die in Westberlin schnell berüchtigt waren, | |
| sind auch sofort mit von der Partie: neben Uwe Bremer sind das Albert | |
| Schindehütte, Johannes Vennekamp und Arno Waldschmidt. | |
| In Jan Peter Bremers Buch werden sie aber nicht mit Namen genannt. Auch das | |
| Wendland tritt nicht in Erscheinung, an keiner Stelle ist ein realer Ort | |
| dingfest zu machen. Das Leben der Westberliner Boheme im bundesdeutschen | |
| Zonenrandgebiet, die großen Zecher und Lebemänner aus Neukölln bilden nur | |
| ein interessantes Hintergrundrauschen für eine Sozialisationsgeschichte, | |
| eine Kindheit in den siebziger Jahren. | |
| Jan Peter Bremer schreibt in Ich-Form, und die Gattungsbezeichnung „Roman“ | |
| lädt wieder einmal zu anhaltendem Grübeln ein: Was an dieser deutlich | |
| autobiografischen Geschichte ist vielleicht doch fiktiv, worin besteht die | |
| Literarisierung? Das Weglassen der konkreten Bezeichnungen ist auf jeden | |
| Fall ein Indiz dafür, was der Autor wollte. | |
| ## Autobiographisch oder fiktional? | |
| Es beginnt wie ein Idyll. Das Schlösschen, die Natur, der See – und die | |
| Eltern stehen für ein unkonventionelles, zwangloses Leben. Doch dies alles | |
| prallt schnell auf eine ganz andere Realität: das nahe Dorf, mit den zwei | |
| sich gegenüberstehenden großen Bauernhöfen an der Straße. Wenn der | |
| Ich-Erzähler auf dem Weg zur Schule an dieser Stelle vorbeikommt, schießen | |
| von jeder Seite Schäferhunde hervor und verfolgen mit heißen Atem den | |
| Fahrradfahrer, bis er außer Sichtweite ist. | |
| Die Szene spielt in den siebziger Jahren, und die niedersächsische | |
| Landbevölkerung kann mit den Städtern, die freizügig am See liegen und auf | |
| vermutlich unredliche Weise an ihr Geld gekommen sind, überhaupt nichts | |
| anfangen. Der Lockenkopf des Ich-Erzählers wird zum Objekt des Spotts in | |
| seiner Schule, jeder Morgen ist erst einmal ein Spießrutenlaufen, und die | |
| Bauernkinder stellen klar, dass sie hier die herrschende Klasse sind. | |
| Jan Peter Bremer zeigt das mit den Augen des Kindes. Die Welt wird dadurch | |
| automatisch verkleinert, und die Wahrnehmung richtet sich vor allem auf die | |
| Gleichaltrigen, die Schule und die Demütigungen auf dem Pausenhof, die aber | |
| allmählich doch verebben. Im Vergleich dazu wirken die Eltern typisiert und | |
| plakativ: der übermächtige, berühmte Vater mit seinen vielen Pfeifen, die | |
| Mutter mit ihren langen Beinen und ihrer Zuwendung. | |
| ## Verschiedene Lebenswelten | |
| Und manchmal führt das zu interessanten, verfremdenden Szenen. Die | |
| Diskussionen der Erwachsenen spielen keine Rolle, aber dafür umso mehr ihre | |
| Gesichtszüge, ihre Lautstärke, ihre Körpersprache. Und dass die Tische und | |
| Bänke, überhaupt die ganze Einrichtung der Kunstszene alt und gebraucht | |
| ist, steht in einem auffälligen Gegensatz zu den praktischen Dingen der | |
| Bauern aus Sperrholz und Kunststoff – beides sind bizarre Welten. | |
| Konsequent sucht der Autor nach einer Form des Entwicklungsromans, die auf | |
| kindliche Naivität und Überraschungstechnik setzt und auch nicht dadurch | |
| anders wäre, wenn sie trendgerecht unter dem Etikett | |
| „Coming-of-Age-Geschichte“ liefe. Überhaupt bleibt das Ganze im Rahmen: Mit | |
| der Zeit findet der Ich-Erzähler doch auch Freunde, er gleitet langsam in | |
| das Erwachsenwerden hinüber, und eine große Rolle dabei spielt seine | |
| Entdeckung, gerne Geschichten zu schreiben. | |
| Das Ganze findet in der Hochzeit der Roten Armee Fraktion statt, der Gewalt | |
| der Baader-Meinhof-Gruppe, und im Dorf kommt sofort das Gerücht auf, die | |
| Eltern des Erzählers hätten diesen am Tag der Selbstmorde in Stammheim dazu | |
| gezwungen, in schwarzer Kleidung zur Schule zu gehen. Einen schwarzen | |
| Pullover hatte er zufällig an, das war aber auch alles. So entstehen | |
| Geschichten. | |
| Jan Peter Bremers „Nachhausekommen“ erzählt mehrere dieser Art. Sie | |
| schwanken zwischen Harmlosigkeit und dem Gefühl einer merkwürdigen | |
| Bedrohung, es ist eine Melancholie des Gelingens. Das Buch liest sich | |
| leichter und weniger abgründig, als es die Kluft zwischen Bauern und Boheme | |
| zunächst nahelegte. Vielleicht waren die siebziger Jahre wirklich eine | |
| glückliche Zeit. | |
| 17 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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