| # taz.de -- Dichter Christoph Martin Wieland: Der Platzhirsch vor Goethe | |
| > Zu seinen Lebzeiten war der Schriftsteller Christoph Martin Wieland vorne | |
| > dran. Jan Philipp Reemtsma entdeckt in seiner Biografie einen | |
| > Sprachkünstler. | |
| Bild: Der Aufklärer Wieland sieht, was seine Zeit zu verspielen beginnt: undog… | |
| Christoph Martin Wieland hat heute schlechte Karten. Selbst | |
| literaturbeflissene Kenner runzeln bei seinem Namen die Stirn oder lächeln | |
| ein bisschen verächtlich: Ach, dieser langweilige Rokoko-Schriftsteller und | |
| Provinz-Aufklärer? | |
| Manch einem fallen vielleicht noch Szenen aus der Universität ein, als die | |
| Professoren übergreifende Literaturgeschichtsvorlesungen gaben und bei | |
| „Aufklärung“ ein paar Worte über Wielands „Geschichte des Agathon“ | |
| verloren. Doch angesichts solch dürrer Zusammenfassungen war zu ahnen, dass | |
| man dieses Mammutwerk aus dem Jahr 1767 eh nie in die Hand nehmen würde. | |
| Es gibt allerdings ein paar irritierende Widerhaken. [1][Bei Arno Schmidt | |
| etwa], diesem widerborstigen und auratischen Schriftsteller aus dem 20. | |
| Jahrhundert, finden sich auffällig enthusiastische Hinweise auf Wieland. | |
| Und wo Arno Schmidt ist, ist auch [2][Jan Philipp Reemtsma nicht weit]. Der | |
| bekannte Mäzen, Privatgelehrte und Arno-Schmidt-Forscher hat kürzlich eine | |
| umfassende und verblüffend leicht lesbare Biografie über Wieland vorgelegt. | |
| ## Wieland war vorher, Wieland war vorne dran | |
| Die erste Irritation ist: Christoph Martin Wieland, geboren 1733, gestorben | |
| 1813, überstrahlte zu seinen Lebzeiten alle anderen. Als Napoleon nach | |
| seiner siegreichen Schlacht bei Jena und Auerstädt einen Abstecher nach | |
| Weimar machte, sprach er mit Wieland viel länger als mit Goethe. Die | |
| Nachwelt hat Wieland das übel genommen. Wieland war vorher, Wieland war | |
| vorne dran. Aber wegen Goethe hat das nachher keiner gemerkt. | |
| Dabei ist Wieland es gewesen, der als Erster an den Hof der Herzogin von | |
| Weimar, Anna Amalia, gerufen wurde und damit Goethe den Weg erst bereitet | |
| hatte – Reemtsma wird nicht müde, das zu betonen. Für Wielands Nachruhm | |
| wurde es zum Problem, dass ihn die nächste Generation als Platzhirsch | |
| wahrnahm und aus marktstrategischen Gründen bekämpfte: Goethe bereits 1774 | |
| in einer Satire mit dem Titel „Götter, Helden und Wieland“ und danach die | |
| Romantiker. | |
| Wieland entsprach, und das war sein Pech, noch nicht der deutschen | |
| Vorstellung des Dichtergenies, der durch Goethe und den Sturm und Drang | |
| einsetzenden Individualisierung. | |
| ## Von Anfang an auf der richtigen Seite | |
| Reemtsma rekapituliert die Sache minutiös. Wieland, im oberschwäbischen | |
| Biberach als Sohn eines Dorfpfarrers geboren, erwirbt im Internat die | |
| Grundlagen seiner stupenden Kenntnisse der Antike und der Philologie und | |
| verspürt früh den Drang, Dichter werden zu wollen. Als Erstes nimmt er sich | |
| gleich eine der großen lateinischen Dichtungen vor, „De rerum natura“ von | |
| Lukrez, und liefert mit einem „Lehrgedicht in sechs Büchern“ unter dem | |
| Titel „Die Natur der Dinge“ eine Art christliches Pendant dazu. | |
| Er ist 19 Jahre alt und wendet sich an Johann Jakob Bodmer in Zürich, einen | |
| einflussreichen Intellektuellen mit ausgeprägten pädagogischen Ambitionen. | |
| Damit steht er, obwohl seine ersten Texte durchaus konservativ und strebsam | |
| anmuten, von Anfang an auf der richtigen Seite. | |
| ## Keine Gefühlschübe eines bürgerlichen Ich | |
| Wieland kehrt nach insgesamt zehn Lehr- und Dienstjahren als Hauslehrer in | |
| der Schweiz für eine sichere Stellung in der Biberacher Ratsbürokratie in | |
| seine Heimat zurück, erlebt etliche Gefühlswirren, schwängert eine junge | |
| Chorsängerin, die er aber, weil er Lutheraner ist und sie katholisch, nicht | |
| heiraten kann. | |
| Reemtsma hält sich bei moralischen Bewertungen eher bedeckt, und dass | |
| Wieland sich schließlich ganz konventionell im Sinne seiner Eltern mit | |
| einer patenten, ihm treu ergebenen protestantischen Frau verehelicht, die | |
| ihm etliche Kinder gebären wird, entspricht letztlich doch den | |
| Gepflogenheiten der Zeit. | |
| Umso fantastischer sind die „Komischen Erzählungen“, die Wieland in den | |
| ersten Jahren seiner Biberacher Ratszeit schreibt und die im klassischen | |
| Versmaß gehalten sind. Es handelt sich um Adaptionen antiker griechischer | |
| Mythen. Wieland versetzt diesen Stoff mit für die damalige Zeit unerhörten | |
| erotischen Freizügigkeiten, gesteigert durch Klangmalereien, | |
| Diphtong-Spielereien und Alliterationen, und hat damit großen Erfolg. | |
| In Reemtsmas Analysen der Wieland’schen Versromane kommt eine Begeisterung | |
| für sprachlichen Klang zum Vorschein, für am antiken Maß geschulte Rhythmik | |
| und Reimschemata, die die Möglichkeiten der Sprache auf ästhetisch | |
| raffinierte Weise ausloten und vor der Epoche der identifikationsstiftenden | |
| Gefühlschübe eines bürgerlichen Ich stehen. | |
| ## Er trat als Autor hinter den Text zurück | |
| Was Wieland aber vor allem auszeichnet, ist seine ungeheure | |
| Wandlungsfähigkeit. Das war, von Goethe ausgehend, später auch der größte | |
| Vorwurf an ihn. Man stieß sich an etwas, was man als Wielands | |
| „Sprunghaftigkeit“ bezeichnete. Goethe nannte es in seiner Totenrede auf | |
| Wieland verklausuliert „vielseitig“ und „beweglich“. Wieland wurde es, … | |
| er einmal etwas erprobt und durchgeführt hatte, schnell langweilig. Er trat | |
| als Autor immer hinter der jeweiligen Form und den damit transportierten | |
| Diskursen zurück. | |
| Seine „Geschichte des Agathon“ indes wurde zu einem literarischen | |
| Quantensprung. Es handelt sich, nach den bis dahin üblichen Gedichten, | |
| Dramen oder Vers-Epen, um nichts weniger als den ersten ernstzunehmenden | |
| deutschsprachigen Roman. Allerdings – und das ist für heutige Leser | |
| durchaus eine Hürde – ist es ein Buch, das mit seinen Figuren vor allem | |
| philosophische Fragestellungen durchdekliniert. | |
| Reemtsma hebt die Vorliebe Wielands für Dialoge hervor, für die Form des | |
| Zwiegesprächs, in der verschiedene Positionen aufeinanderprallen, | |
| durchdiskutiert werden und sich nicht in einem Konsens auflösen müssen. Als | |
| mittlerweile erfolgreicher Autor erhält Wieland anschließend eine Berufung | |
| als Philosophieprofessor nach Erfurt, bevor er 1772 als Erzieher des | |
| Erbprinzen Carl August nach Weimar zieht und damit, zunächst völlig | |
| unscheinbar, eine herausragende Epoche der deutschen Geistesgeschichte | |
| eröffnet. | |
| ## Wald vor lauter Bäumen | |
| Es ist nicht ohne Witz, die große Zeit Weimars aus der Perspektive Wielands | |
| wahrzunehmen und nicht aus derjenigen Goethes. Der berühmte Dichterfürst | |
| wird dadurch ein bisschen geerdet, ohne dass seine Bedeutung rundheraus | |
| abgeschwächt würde. | |
| Reemtsma beschreibt Wieland als einen, der noch von einer anderen | |
| Weltwahrnehmung geprägt wurde, und er benennt das Neue der Goethe-Zeit | |
| durchaus genau. Das „Kehrstück“ zu Wielands „Weltzugehörigkeit“ sei d… | |
| die „Einsamkeit, grundsätzliche Nicht-Zugehörigkeit“. Wieland stehe „no… | |
| vor dieser Schwelle der Rollentransformation“. | |
| Und wie nebenbei zeigt Reemtsma auf, was im deutschen Sprachgebrauch von | |
| Wieland herrührt. Vieles davon ahnt man nicht einmal im Ansatz: dass man | |
| den „Wald vor lauter Bäumen nicht sieht“ zum Beispiel, oder dass „jeder | |
| Topf seinen Deckel bekommt“. | |
| ## Das letzte Wort ist nie gesprochen | |
| Reemtsmas Schlusspointe aber ist Wielands letzter großer, weithin unbekannt | |
| gebliebener Roman mit dem Understatement-Titel „Aristipp und einige seiner | |
| Zeitgenossen“. Am Beispiel des klassischen Griechenlands verhandelt Wieland | |
| hier die gesamte Philosophie- und Menschheitsgeschichte. | |
| Er wehrt sich gegen Verfestigungen, gegen das Schulmäßige und sucht die | |
| Verankerung im praktischen, sinnlichen Leben. Reemtsma aktualisiert das: | |
| „Mit seinem Aristipp lässt Wieland einen Griechen sprechen, der sieht, was | |
| seine Zeit zu verspielen beginnt: undogmatisches Denken.“ | |
| Man ist geneigt, dieses Statement sofort im Sinne Wielands zu lesen: Das | |
| letzte Wort ist nie gesprochen, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken. | |
| 25 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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