| # taz.de -- Magdalena Saigers Künstlerroman: Momente der Verzauberung im Dreck | |
| > Selbstermächtigung durch Kunst? Von wegen! Ein Mann bricht seine Karriere | |
| > ab und zieht sich in ein verlassenes Dorf zurück. Ein Debüt-Roman. | |
| Bild: Die Erde ist so unbewohnbar wie der Mond. An so einem Nicht-Ort, hier: Br… | |
| [1][Ein abgebaggertes Dorf], ein abgebrochener Kohleabbau. Ein namenloser | |
| Ich-Erzähler. Er bricht seine erfolgreiche Karriere ab und zieht sich in | |
| dieses abgelegene, verwüstete Gelände zurück. | |
| Dort haust ein ehemaliger alter Dorfbewohner, der den Eindringling von fern | |
| misstrauisch beäugt. Der Neuankömmling richtet sich in einer verlassenen | |
| Lagerhalle ein und beginnt, ein Kunstwerk zu bauen; ein begehbares, | |
| gigantisches Labyrinth aus nichts als Papier. Allmählich kommen die beiden | |
| [2][Outcasts] sich näher; manchmal teilen sie miteinander Dosenfraß. | |
| Nachts am Feuer erzählt der Alte Bruchstücke aus einer wenig heimeligen | |
| Dorfgeschichte. Tagsüber arbeitet der Erzähler an seinem unmöglichen | |
| Kunstprojekt. | |
| Magdalena Saiger wurde 1985 geboren; ihr erster Roman ist keine Ich-Suche | |
| wie viele andere Debüts. Die Autorin begibt sich auf mehrfache Weise ins | |
| Fremde: Da ist ein Nicht-Ort, der nach allen Regeln der Wertschöpfung | |
| verkauft, ausgebeutet und zerstört wurde. Da ist eine männliche Hauptfigur, | |
| die sich grimmig von „euch“, den Zeitgenoss/innen und vor allem den | |
| elitären Kulturmenschen, abgrenzt. Da entsteht ein Kunstwerk, das Grenzen | |
| überschreiten und die Qualität des Magischen annehmen soll: „Kann man einen | |
| brennenden Dornbusch bauen?“ | |
| Der Schöpfer des Labyrinths sucht nach dem Absoluten; er will die | |
| Weltformel, das Zauberwort, die Wahrheit finden. „Meine Kunst der Fuge, | |
| mein Turmbau ohne Sprachverwirrung, mein Großes Orgelkonzert aus nichts als | |
| Raum.“ | |
| ## Ironie ist ein bewährtes Mittel | |
| Wenn eine Autorin solche hohen Töne wagt, ist Ironie ein bewährtes Mittel, | |
| um den Text zu erden. Denn das ironische uneigentliche Sprechen schafft | |
| Distanz, es relativiert. Saiger will aber keine Balance herstellen. Der | |
| Monolog ihres Helden ist enthusiastisch oder schnoddrig, zart oder | |
| höhnisch, analytisch oder verträumt, aber nie ausgewogen oder gar | |
| indifferent. Er ist heiß oder kalt, aber nie lau. | |
| Der Erzähler gehörte früher zu den „Königsmachern“ des Kunstbetriebs; er | |
| war einer der „Vielschwätzer“, der mit Seinesgleichen Namen und Trends | |
| setzte. Mittlerweile verachtet er den Tanz ums Goldene Kalb, angeführt von | |
| Hohepriestern der Kunst: „Habt ihr euch nie gefragt, was die Gioconda | |
| denken muss vor euren hochgereckten Tätzchen mit den Endgeräten?“ Er | |
| versteht, dass sich der Kapitalismus selbst den Akt des künstlerischen | |
| Widerstandes einverleibt. „Es gibt für die Blutleere einen Markt wie für | |
| das Blut.“ | |
| Seine Desillusionierung führt zu Fantasien über das Verschwinden in der | |
| Kunst: Er denkt an übermalte Bilder, zerstörte Partituren, unauffindbare | |
| Manuskripte. Und was nützen die Erzählungen des alten Dörflers über den | |
| verschwundenen Ort? Seine Worte sind so haltbar „wie die eines sprechenden | |
| Fischs“. Nutzen und Haltbarkeit sind keine Kategorien für die beiden | |
| Männer. Trotzdem arbeitet der Held an seinem Papierlabyrinth, das niemals | |
| jemand sehen wird – dafür wird er am Ende des Romans in einer äußerst | |
| gewagten Aktion sorgen. | |
| ## Konsequent im Ausweglosen | |
| Magdalena Saiger hat einen [3][Künstlerroman] geschrieben, der sich | |
| konsequent im Ausweglosen, im Bereich der Aporie bewegt. Ihr Held rackert | |
| aus Leibeskräften auf einem Feld, das längst umstellt und bestellt ist: | |
| Bilderstürmer produzieren neue Bilder. Der Wunsch nach Schönheit verzerrt | |
| sich zum Kitsch oder zur Fratze. Der Erzähler geißelt jedes „Karmagefasel“ | |
| in scharfen Worten. Er arbeitet im Dreck und erfährt Ohnmacht in vieler | |
| Hinsicht. Und doch erlebt er wie Hofmannsthals [4][Lord Chandos], dass eine | |
| Nichtigkeit zu Epihanie wird, zur plötzlichen Offenbarung. | |
| Das kann ein Tier sein, dem er in dem unwirklichen, unwirtlichen Gelände | |
| begegnet. Oder er fantasiert; dann sieht er „einen Tanz, der dieses eine | |
| Mal die Bitte der Füße um Aufhebung der Schwerkraft erhört hat“. Er sieht | |
| „drei Sonnen am Himmel, und der Mond schwimmt als Qualle davon übers | |
| Gebirge“. | |
| Solche Augenblicke der Verzauberung zielen nicht darauf ab, die Leser/innen | |
| ehrfürchtig erstarren zu lassen. Saiger misstraut dem Bann eines | |
| Sirenengesanges, der immer etwas Überwältigendes, Gewaltsames enthält. | |
| Daher entzaubert sie den Monolog des Helden durch das Einfügen von | |
| profanen, staubtrockenen Zitaten über die Materialeigenschaften von Papier | |
| oder die Formprinzipien von Labyrinthen. Da hätte man kürzen können. Egal. | |
| Dieses Buch mag ein Erstling sein; aber es ist kein überstürzter | |
| Schnellschuss. Der Roman ist präzise und poetisch, durchfunkelt von Komik | |
| und in all seiner Wildheit auch ein strenges Exerzitium. Eine konsequent | |
| durchgeführte Übung im Aufrufen und Verschwindenlassen von Bildern. | |
| Schließlich verschwindet selbst der Held im Nirgendwo. | |
| Saiger erzählt hier keine Geschichte von der gelingenden Selbstermächtigung | |
| durch Kunst. Es geht vielmehr um die permanente Praxis der Subversion. Die | |
| zielt nicht darauf ab, einen Thron einzunehmen – diese Praxis bleibt in | |
| Bewegung und im Dazwischen. Saigers Roman ist staunenswert. | |
| 6 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Peters | |
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