| # taz.de -- Roman „Herida Duro“: Nicht Frau und nicht Mann | |
| > Die Virgjineshë in Albanien sind als Frauen geboren, leben aber als | |
| > Männer. Michael Roes schreibt über ihr Leben zwischen den | |
| > Geschlechterrollen. | |
| Bild: Ebenfalls eine albanische Schwurjungfrau: Diana Rakipi, die hier ein Bild… | |
| Es gehört zu den Paradoxien des Patriarchats, dass die Gesellschaften mit | |
| den starrsten Geschlechternormen manchmal die erstaunlichsten Formen von | |
| gender-bending hervorbringen. Neben den afghanischen Batscha Poschi | |
| (wörtlich: „die sich als Männer kleiden“) und den transidenten Hijras, die | |
| auf dem indischen Subkontinent als drittes Geschlecht rechtlich anerkannt | |
| sind, zählen dazu auch die albanischen Schwurjungfrauen. | |
| In einer vom mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht Kanun streng | |
| reglementierten Welt, die sich seit dem Mittelalter kaum verändert hat, | |
| konnten Mädchen und Frauen, um einer arrangierten Ehe zu entgehen oder um | |
| in einer Familie ohne männliche Nachkommen die Stellung des | |
| Familienoberhaupts einzunehmen, bis ins 20. Jahrhundert durch den Eid | |
| ewiger Jungfräulichkeit in die Männerwelt übertreten. | |
| Die Virgjineshë, von denen es heute noch etwa 40 gibt, leben als Männer, | |
| tragen Waffen und haben einen Sitz im Dorfrat, aber kein Stimmrecht. Sie | |
| übernehmen Aufgaben, die als besonders männlich gelten, und unterliegen dem | |
| Gesetz der Blutrache, dürfen aber keine intimen Beziehungen eingehen, keine | |
| eigene Familie gründen und keine Kinder kriegen. Ihre soziale Stellung und | |
| ihre kulturelle Rolle unterscheiden sie von Frauen wie von Männern. | |
| Eine von ihnen ist Herida Duro, deren Geschichte Michael Roes in seinem | |
| neuen Roman erzählt. Herida wächst als einziges Kind von Zef Duro in einem | |
| der unzugänglichen Bergdörfer Nordalbaniens auf. Frauen gelten hier als | |
| „Schlauch“, „in dem Besitz gelagert wird“, dazu bestimmt, die Kinder ih… | |
| Mannes auszutragen. Sie selbst bleiben im Besitz ihrer Väter und Brüder. | |
| Aus dieser Entrechtung befreit sich Herida, als sie durch den Eid ewiger | |
| Jungfräulichkeit zu Marijan wird – und entkommt ihm doch nicht, denn als | |
| Frau bleibt sie den Männern gegenüber verletzlich. Nach dem Tod des Vaters | |
| wird sie von ihrem illegitimen Halbbruder Fisnik vergewaltigt und | |
| geschwängert. Zwar lässt Herida/Marijan das Kind in der nächsten Kreisstadt | |
| abtreiben, doch im Dorf hat sich der Eidbruch längst herumgesprochen. | |
| ## Im italienischen Exil | |
| Mit dem Nachbarsjungen Gjon, mit dem sie eine scheue Liebe verbindet, | |
| flüchtet Marjan in die Hauptstadt Tirana. Während Gjon dort im Schlachthof | |
| schuftet, erlebt Marijan/Herida im neugegründeten Polytechnikum einen | |
| „Wechsel meines Seelengefieders, meiner Sicht- und Denkweisen“, als einer | |
| der Dozenten ihre künstlerische Begabung bemerkt und ihr eine Stelle als | |
| Beleuchterin im neu gegründeten Filmstudio verschafft. | |
| Sie macht rasch Karriere, muss aber für den Propagandafilm „Die Säuberung“ | |
| Verhaftungen von Dissidenten und Sprengungen von Kirchen dokumentieren. Ihr | |
| Roma-Film „Ashkali“ gewinnt in Venedig den Silbernen Bären, doch in | |
| Albanien wird er als formalistisch eingestuft und nach einer einzigen | |
| Aufführung abgesetzt. | |
| Im letzten Teil des Romans lebt Herida als Filmregisseurin im italienischen | |
| Exil. Auch hier gerät sie wegen ihrer unkonventionellen Lebensweise unter | |
| Druck. Ihre Aktfotografien und Filmarbeiten landen wegen Obszönität und | |
| Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht; ein psychiatrischer | |
| Gutachter diffamiert sie als „abnormales sexuelles Zwischenwesen, eine | |
| Perverse im absoluten Sinn des Wortes“. | |
| Es ist nicht einfach, über einen Roman zu schreiben, der Geschlechternormen | |
| konsequent unterläuft. Welchen Namen, welches Pronomen soll die Rezensentin | |
| wählen? Die Erzählerin bezeichnet sich mal als Herida, mal als Marijan, | |
| meist aber einfach als „ich“; andere Figuren sprechen sie gemäß ihren je | |
| eigenen Vorstellungen und abhängig von ihrem Wissen über die besondere | |
| Identität der Virgjineshë als Frau oder als Mann an. | |
| Auch die Rezensentin muss sich entscheiden – aber nach welchen Kriterien? | |
| Spätestens seit der Vergewaltigung ist Herida streng genommen keine | |
| Virgjinesha mehr – für ihre Umwelt und für sich selbst. Durch den Schwur | |
| eines neuen Eides lässt sich das Problem nur vorübergehend lösen. Was ist | |
| Herida in einer kommunistischen Moderne, in der der Kanun keine Bedeutung | |
| mehr hat? Was im oberflächlich freien, aber zutiefst prüden Italien, das | |
| für sie nicht einmal Begriffe hat? | |
| ## Kein Ideal und keine Utopie | |
| Die Untersuchung von Geschlechterkategorien in Gesellschaften, die nicht | |
| (ausschließlich) dem binären Schema von Männlichkeit und Weiblichkeit | |
| folgen, ist seit den siebziger Jahren ein Lieblingskind der Ethnologie, der | |
| feministischen und der Queer Theory. Denn in Gesellschaften mit einem | |
| sozial akzeptierten dritten Geschlecht wird das Auseinanderklaffen von | |
| biologischem sex und kulturellem gender ebenso deutlich wie die kulturelle | |
| Wahrnehmung vermeintlich natürlicher Sexualmerkmale. | |
| Diese Diskussion, aber auch den gegenwärtigen Backlash gegen dekonstruktive | |
| Gender-Theorien muss man sich als Hintergrund zu Michael Roes’ Roman | |
| hinzudenken. Denn die Virgjineshë sind ein Paradebeispiel in Studien wie | |
| „Third Sex, Third Gender“, die sich mit den unterschiedlichen kulturellen | |
| Realitäten transidenter Gruppen beschäftigen. Einer breiteren | |
| Öffentlichkeit wurden die Virgjineshë zudem durch den italienischen | |
| Spielfilm „Vergine Giurata“ bekannt. | |
| In „Herida Duro“wird die Diskussion über sex und gender zwar nirgendwo | |
| direkt angesprochen, doch bildet sie zweifellos den unausgeleuchteten | |
| Bühnenhintergrund der Romanerzählung. Roes ist ein sorgfältig | |
| recherchierender Autor, der die Sozialstruktur eines albanischen Dorfes in | |
| den 1940er Jahren ebenso kenntnis- und detailreich evoziert wie das | |
| stalinistische Terrorregime Enver Hoxhas im Tirana der 1950er. | |
| Wenn er Herida zur Erzählerin der eigenen Geschichte macht und in Worten | |
| und poetisch evozierten Bildern immer wieder über das Erlebte reflektieren | |
| lässt, verdeutlicht er, dass das dritte Geschlecht kein Ideal und keine | |
| Utopie darstellt, sondern ein Zwischenwesen ohne eigene Identität bleibt. | |
| ## „Was ich hier bin, weiß ich selber nicht“ | |
| Herida wird immer wieder mit Frauen und Männern verglichen und ist doch | |
| keins von beidem. Als Virgjinesha hat sie zwar mehr Rechte als die Frauen, | |
| aber um den Preis strikter sexueller Enthaltsamkeit, die von Männern | |
| kontrolliert wird. Ohnehin löst sich die Welt, in der ein drittes | |
| Geschlecht eine Option sein könnte, unter dem kommunistischen Regime gerade | |
| auf. Auf die Frage des Roma-Jungen Moses, ob sie denn nun ein Mann oder | |
| eine Frau sei, antwortet Herida: „In meinem Dorf hat man mich als Mann | |
| betrachtet. Was ich hier bin, weiß ich selber nicht.“ | |
| Michael Roes gießt Heridas Geschichte in die Gattung des Entwicklungs- und | |
| Künstlerromans, bringt innerhalb des etablierten Erzählmusters aber eine | |
| neuartige Perspektive zum Ausdruck. Wie die Schwurjungfrau dabei selber | |
| spricht, wie sie sich und ihre Lage zu verstehen sucht, wie sie ihren | |
| Körper und ihre Sexualität erfährt – das wird erfahrbar und verständlich. | |
| Die Verletzungen, die Herida erlebt, ihre Vergewaltigung und die Abtreibung | |
| werden mit Empathie dargestellt. Dabei wird der Roman nie voyeuristisch | |
| oder denunziatorisch gegenüber seiner Heldin, sondern verdeutlicht | |
| vielmehr, welch hohen Preis Herida für ihre non-konforme Identität zahlt. | |
| Zahlreiche Brüche in der Erzählchronologie und die Parallelmontage mit zwei | |
| Spiegelgeschichten eröffnen zusätzliche Möglichkeiten der Einfühlung in die | |
| existenzielle Fremdheit Heridas. Besonders die Steinzeit-Geschichte über | |
| den Neandertaler Tawo und das Sapiens-Mädchen Chawa, die anfangs unpassend | |
| und entbehrlich scheint, entwickelt im Verlauf des Romans eine immer | |
| stärkere Erklärungskraft für diejenigen Seiten Herida/Marijans, die ihr | |
| selber unverständlich bleiben: ihre fluide Sexualität, ihre Faszination für | |
| Traum- und Anderswelten. | |
| Am Ende bleibt offen, was in den drei ineinander verwobenen Geschichten | |
| Realität, was Fantasie ist. Damit folgt der Roman Heridas Regiekonzept, | |
| „den Realismus, den Eindruck des Wirklichen zu dämpfen und den Dingen ihr | |
| Geheimnis, ihren Wahnsinn zu lassen. Oftmals suggeriert es eine Tiefe, die | |
| das Fotografierte in Wahrheit gar nicht hat.“ | |
| 9 Apr 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Silke Horstkotte | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Albanien | |
| Trans | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Künstlerroman | |
| Albanien | |
| Dritte Option | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Albanien | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Albanien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Magdalena Saigers Künstlerroman: Momente der Verzauberung im Dreck | |
| Selbstermächtigung durch Kunst? Von wegen! Ein Mann bricht seine Karriere | |
| ab und zieht sich in ein verlassenes Dorf zurück. Ein Debüt-Roman. | |
| Albanien und die EU: Die verkannte Nation | |
| Unendlich cool: Albanien könnte Europa noch etwas mehr Gelassenheit lehren. | |
| Warum es falsch wäre, dem Land die EU-Mitgliedschaft zu verwehren. | |
| Namensgebung in Island: Nicht mehr nur Sohn und Tochter | |
| Namen definieren das Geschlecht. Deshalb sind Wechsel und nichtbinäre | |
| Optionen bisweilen lebenswichtig. In Island wird der Sache nachgegangen. | |
| Zwischen den Geschlechtern: Wann ist ein Mann ein Mann? | |
| Unser Autor hat ein X-Chromosom zu viel. Rein biologisch ist er kein Mann, | |
| aber er fühlt sich wie einer. Wie lebt er damit? | |
| Proteste vor Regierungssitz in Albanien: Es scheppert in Tirana | |
| Demonstranten durchbrachen in Albanien Absperrungen vor dem Amtssitz des | |
| Ministerpräsidenten. Anhänger der Opposition werfen der Regierung | |
| Korruption vor. | |
| Abschiebung nach Albanien: Zurück unter Wellblech | |
| Als Kind verlor Fllanxa Murra ihre Beine, als Erwachsene floh sie nach | |
| Deutschland – und wurde abgeschoben. Ist Albanien für eine lesbische Romni | |
| sicher? | |
| Abschiebung nach Albanien: Schutzlos ausgeliefert | |
| Am Donnerstagmorgen wurde die Albanerin Fllanxa Murra abgeschoben. Das | |
| Vorgehen der Behörden und der Polizei wird scharf kritisiert. |