| # taz.de -- Abschiebung nach Albanien: Zurück unter Wellblech | |
| > Als Kind verlor Fllanxa Murra ihre Beine, als Erwachsene floh sie nach | |
| > Deutschland – und wurde abgeschoben. Ist Albanien für eine lesbische | |
| > Romni sicher? | |
| Bild: Fllanxa Murra auf dem Weg zum Haus ihrer Schwester | |
| Im Norden Tiranas liegt das Mutter-Theresa-Krankenhaus, es ist das größte | |
| in ganz Albanien. Hunderte Menschen eilen zwischen Notaufnahme und | |
| Fachzentren hin und her. Nur eine Straßenkreuzung weiter, vom | |
| Krankenhausgelände ausgelagert, begrüßen ein müder Wachmann und ein Hund | |
| die BesucherInnen des Gebäudes V. „Spitali Psikiatrik“ steht auf einer | |
| braunen Marmorplatte geschrieben: die Psychiatrie. | |
| Eine Krankenschwester sitzt bei der improvisierten Anmeldestation und | |
| prüft, wer das Gebäude betritt, mehr symbolisch als pedantisch. Glatte | |
| Steintreppen führen in den ersten Stock. Hinter einer weißen Eisentür, die | |
| nur von innen oder mit einem Schlüssel geöffnet werden kann, befindet sich | |
| die Frauenstation, auf der seit dem 6. Dezember auch Fllanxa Murra liegt. | |
| Grelle Leuchtstoffröhren erhellen den langen Gang, die Wände sind gelb | |
| gestrichen. Getönte Fensterscheiben und Gitterstäbe trennen die | |
| Patientinnen von der Außenwelt. Die karge Einrichtung sei Konzept, sagt die | |
| Ärztin – Sicherheitsvorkehrungen, damit sich die Patientinnen nicht | |
| umbringen. | |
| Fllanxa Murra, die junge Frau, die hier von allen beim Vornamen genannt | |
| wird, sitzt auf einem Metallbett und schaut auf ihr Handy. FreundInnen aus | |
| Deutschland schicken ihr Nachrichten. Sie fragen, wie es ihr geht, und | |
| schreiben, sie solle durchhalten. Was Murra nicht versteht, übersetzt sie | |
| mit einer App. | |
| ## Sie war aus ihrer Gemeinde nicht mehr wegzudenken | |
| Vor ihr steht ein Rollstuhl. Die Prothesen, die in einer Ecke in einer | |
| Mülltüte verpackt stehen, sind zu alt, als dass sie sich schmerzfrei mit | |
| ihnen bewegen könnte. Murra sagt, sie habe als Kind ihre Beine bei einem | |
| Unfall mit einer Landmine verloren. Sie zieht eine Decke bis zur Hüfte, | |
| eine Strickjacke schützt sie gegen die Zugluft. | |
| Zwei Wochen zuvor [1][wurde Fllanxa Murra abgeschoben]. Im Oktober 2016 war | |
| sie nach Deutschland geflohen. Die 29-Jährige ist Balkanägypterin, eine | |
| Minderheit der Roma in Albanien, und wuchs in einer armen Region unweit der | |
| Kleinstadt Burrel auf. Als Murras Familie herausfand, dass sie lesbisch | |
| ist, sperrte sie sie für mehrere Tage in ein Zimmer ein, bis sie versuchte, | |
| sich umzubringen, erzählt Murra. | |
| Im November [2][hat sie der taz ihre Lebensgeschichte erzählt], ihre Pläne | |
| für die Zukunft. Sie hatte in Taucha, einer kleinen Stadt unweit von | |
| Leipzig, ein Zuhause gefunden. Eine eigene Wohnung, regelmäßige | |
| medizinische und psychologische Betreuung, ein Deutschkurs und | |
| Gemeindefeste gehörten zu ihrem Alltag. „Fllanxa ist fester Bestandteil | |
| unserer Gemeinde. Gar nicht mehr wegzudenken“, sagte Lothar Trinks damals, | |
| ein ehemaliger Friedhofsgärtner, der Murra in ihrem Alltag half, zusammen | |
| mit anderen BürgerInnen aus Taucha und dem Queer Refugees Network in | |
| Leipzig. | |
| Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat Murras Asylantrag als | |
| „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt, da keine „begründete Furcht vor | |
| Verfolgung“ bestehe und sie in Albanien keine „Gefahr eines ernsthaften | |
| Schadens“ zu befürchten habe. Nicht als Romni, nicht wegen ihrer | |
| Homosexualität und auch nicht wegen ihrer Behinderung. 2015 ist Albanien | |
| von der Bundesregierung [3][in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten | |
| aufgenommen worden], eine Aussicht auf Asyl haben nur die allerwenigsten. | |
| Fllanxa Murra gehörte nicht dazu: Am Nikolaustag um drei Uhr morgens begann | |
| ihre Abschiebung. | |
| ## War die Abschiebung rechtmäßig? | |
| Dass eine lesbische Frau im Rollstuhl abgeschoben wird, hat viele Menschen | |
| in Deutschland bewegt, Berichte über Murras Abschiebung wurden hundertfach | |
| in sozialen Netzwerken geteilt. Seitdem stellen sich ihr Anwalt und ihre | |
| FreundInnen in Taucha und Leipzig Fragen: Wie lief die Abschiebung ab, war | |
| sie rechtmäßig? Warum wurde Murra in Albanien in eine Psychiatrie gebracht? | |
| Und vor allem: Wie geht es ihr dort? | |
| Einen Tag nach dem ersten Besuch steht Fllanxa Murra mit lila Krücken vor | |
| ihrem Bett und lächelt. Sie wirkt viel aufgeweckter als am Tag zuvor. „Wie | |
| geht es dir?“, fragt sie auf Deutsch, und beantwortet die Gegenfrage: „Es | |
| geht mir gut.“ Sie zeigt auf die Prothese und die Krücken, die ihr aus | |
| Deutschland mitgebracht wurden. | |
| Sie weiß, wie wichtig es ist, dass sie die Details der Abschiebung genau | |
| und wahrheitsgetreu schildert. Sie hat Angst davor, Fehler zu machen. Angst | |
| vor einer „Rache“ der deutschen Behörden. Inzwischen hat sie sich auf ihr | |
| Bett gesetzt, das Stehen auf der Prothese strengt sie an. Die Ärztinnen | |
| glauben, dass Murra mit einer Bekannten aus Deutschland spricht. Wüssten | |
| sie von dem Interview, hätten sie es verhindert, sagt die Übersetzerin. | |
| Um drei Uhr nachts habe es an der Klingel ihrer Wohnung in Taucha | |
| geklingelt, erzählt Murra. Drei Mal. Durch den Spion in der Wohnungstür | |
| habe sie gesehen, dass PolizistInnen vor der Tür stehen, eine Frau und fünf | |
| oder sechs Männer. Sie habe Angst bekommen und nicht gewusst, was sie tun | |
| solle. Um zu vermeiden, dass die BeamtInnen die Tür aufbrechen, habe sie | |
| entschieden, sie selbst zu öffnen. | |
| ## Sie schrie – die Polizisten schrien zurück | |
| Ein Polizist habe Murra auf Deutsch gesagt, man habe den Befehl zur | |
| Abschiebung. „Ich habe gesagt, dass ich niemanden in Albanien habe, dass es | |
| gefährlich ist, zurückzukommen“, sagt Murra. Immer wieder wiederholt sie | |
| die Worte, mit denen sie versucht habe, das Gesagte zu vermitteln: „Ich | |
| Anwalt“, „nicht Albanien“, „bitte helfen“, „Gefahr“. Sie habe ges… | |
| und die PolizistInnen hätten zurück geschrien: Sie solle sich beruhigen. | |
| Murra erzählt, dass sie den BeamtInnen die ärztlichen Gutachten gezeigt | |
| habe. „Sie haben sie nicht durchgelesen, sondern einfach in meine Tasche | |
| gepackt.“ Dann habe man sie auf den Boden gedrückt und in Handschellen | |
| gelegt. Sie sagt, sie habe sich wegen ihrer fehlenden Finger an einer Hand | |
| befreien können und es geschafft, in die Küche zu fliehen. „Da habe ich ein | |
| Messer genommen und gedroht, mich umzubringen.“ | |
| Die PolizistInnen hätten ihr das Messer abgenommen, sie sei von vier | |
| Männern in einen Polizeiwagen gebracht worden, in ihrer Schlafkleidung. | |
| Ihre neue Prothese habe man nicht eingepackt, sondern nur die beiden über | |
| zehn Jahre alten, mit denen sie nicht richtig laufen kann. „Ich habe | |
| versucht, es zu erklären“, sagt Murra, „aber es war zu chaotisch.“ Die | |
| Beamtin sei gefahren, zwei Männer hätten sie festgehalten und ihr wehgetan. | |
| Später zeigt sie Fotos, die sie am Tag nach der Abschiebung gemacht hat. Zu | |
| sehen sind Hämatome an Murras Armen. | |
| Am Flughafen in Leipzig hätten die PolizistInnen sie in ihrem Rollstuhl an | |
| die Bundespolizei übergeben, sagt Murra. Erst zu diesem Zeitpunkt sei eine | |
| Dolmetscherin dazugekommen. Murra sagt, sie habe versucht ihr zu erklären, | |
| dass sie mit ihrem Anwalt sprechen müsse. Die Dolmetscherin habe für die | |
| PolizistInnen übersetzt: „Nein, du hast keinen Anwalt. Wir brauchen nicht | |
| mit einem Anwalt reden.“ Sie solle sich benehmen, habe man ihr gesagt. | |
| ## Medikamente wider Willen | |
| Dann habe man sie auf dem Boden festgehalten, ihren Kopf fixiert, den Mund | |
| zugehalten und Medikamente durch die Nase gespritzt. Murra imitiert den | |
| Ablauf, greift sich an den Hals und auf den Mund. Sie hat gegen ihren | |
| Willen Medikamente bekommen? Murra nickt. „Ja, ein flüssiges Mittel.“ | |
| Zwei Polizisten und ein Arzt hätten sie in das Flugzeug gebracht, wo man | |
| sie angeschnallt und erneut das Medikament verabreicht habe. Was es gewesen | |
| sei, wisse sie nicht. Sie sei müde geworden, habe Kopfschmerzen bekommen. | |
| „Es hat sich angefühlt, als hätte ich zwei Köpfe.“ In Albanien hätten d… | |
| deutsche Arzt und die beiden Polizisten sie an die albanische Polizei | |
| übergeben, die schon gewartet habe. In einem Krankenwagen sei sie | |
| schließlich in die Psychiatrie gebracht worden. | |
| Der Sprecher der Landesdirektion Sachsen sagt, man habe nicht entschieden, | |
| dass sie in eine Psychiatrie gebracht werde. „Die albanischen Behörden | |
| wurden allerdings vor Start des Flugzeugs über den Zustand von Frau Murra | |
| informiert.“ | |
| Der Sprecher der Bundespolizeiinspektion Leipzig bestätigt: „Nach der | |
| Landung in Tirana ist Frau M. an die örtlichen Grenzschutzbehörden | |
| übergeben worden.“ Dies entspreche den standardisierten Verfahren bei | |
| Rückführungen. Er rechtfertigt die Zwangsmaßnahmen damit, dass die Beamten | |
| Murra vor der Gefahr schützen wollten, aus dem Rollstuhl zu stürzen und | |
| sich dabei selbst zu verletzen. Dafür hätten die Beamten sie „soweit | |
| erforderlich und verhältnismäßig am Oberkörper“ festgehalten. | |
| ## Ein Anwalt prüft die Rechtmäßigkeit | |
| Zu dem Vorwurf, dass Murra gegen ihren Willen Medikamente bekommen habe, | |
| gibt er keine Auskunft. Er selbst sei nicht dabei gewesen, auch sonst wisse | |
| „jetzt keiner mehr was darüber.“ Dem Vorwurf, Murra habe keinen Anwalt | |
| kontaktieren dürfen, hält die Bundespolizei entgegen: „Es bestand am 6. | |
| Dezember 2018 anwaltlicher Kontakt mit der Bundespolizei.“ Murras Anwalt | |
| Franz Schinkel bestätigt zwar, dass es den Kontakt gegen 9 Uhr 25 am Morgen | |
| gegeben habe, jedoch auf seine „eigene Initiative“ hin. Mit Fllanxa Murra | |
| selbst habe er nicht gesprochen. | |
| Nach dem sächsischen Gesetz über die Hilfen und Unterbringung bei | |
| psychischen Krankheiten wäre eine Zwangsmedikamentierung in Ausnahmefällen | |
| tatsächlich legal, wenn „der Patient krankheitsbedingt nicht fähig (ist), | |
| Grund, Bedeutung und Tragweite der Behandlung einzusehen oder seinen Willen | |
| nach dieser Einsicht zu bestimmen“. Ob das bei Murra gegeben war, prüft nun | |
| ihr Anwalt. | |
| Er prüft auch, ob die Abschiebung zu diesem Zeitpunkt rechtlich in Ordnung | |
| war. Murras Anwalt kritisiert, dass sie nicht ausreichend Gelegenheit | |
| hatte, juristisch gegen die Ablehnung ihres Asylantrags vorzugehen. Am 20. | |
| November hatte er einen Duldungsantrag gestellt, um die Abschiebung | |
| auszusetzen. Am 29. November reichte er neue ärztliche Dokumente nach – | |
| unter anderem ein Schreiben der Universitätsklinik Leipzig. | |
| Darin wird Murra eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert: „Die | |
| Gefahr einer deutlichen Verschlechterung der Symptomatik bis hin zum | |
| weiteren Suizidversuch“ sehen die Ärzte im Fall einer Abschiebung als „sehr | |
| wahrscheinlich“ an. Diese Gutachten sind allerdings nicht bindend – nach | |
| geltendem Recht muss ein von der Ausländerbehörde beauftragter Arzt eine | |
| Reiseunfähigkeit feststellen. | |
| ## Murra könnte nach Deutschland zurückgeholt werden | |
| Murra erfuhr erst in der Nacht ihrer Abschiebung von den PolizistInnen, | |
| dass die Ausländerbehörde ihren Antrag auf Duldung abgelehnt hatte. Ihr | |
| Anwalt erfuhr es erst am nächsten Morgen. Und klagt nun nicht nur gegen die | |
| Ablehnung ihres Asylantrags, sondern auch gegen die Abschiebung. „Nach | |
| derzeitigem Kenntnisstand bin ich der Meinung, dass diese Abschiebung | |
| rechtswidrig war“, sagt er. | |
| Sollte er recht haben, könnte Murra nach Deutschland zurückgeholt werden – | |
| bleiben darf sie nur, wenn ihr auch ein Aufenthaltsrecht erteilt wird. Bis | |
| all das entschieden ist, können 6 bis 18 Monate vergehen. | |
| In der Psychiatrie in Tirana teilt sich Fllanxa Murra ihr Zimmer mit einer | |
| 18-Jährigen, die Wahnvorstellungen hat. Das Interview gibt sie in einem | |
| Nachbarzimmer. Von nebenan hört man Schreie und Poltern. „Die Leute hier | |
| sind verrückt“, sagt Murra. „Ich gehöre hier nicht hin.“ Auch ihre Ärz… | |
| sagt, Murra brauche keine psychiatrische, sondern eine langfristige | |
| psychologische und medizinische Versorgung. | |
| Später kommt Murras Schwester Zyraja zu Besuch. Sie ist die Einzige aus der | |
| Familie, mit der sie noch Kontakt hat. Herzlich küsst die Schwester sie auf | |
| die Wange und wischt lachend die Spuren ihres Lippenstifts von Fllanxa | |
| Murras Wange. Die lacht mit. Auch an den Grübchen sieht man, dass die | |
| beiden Schwestern sind. Zu gern würde sie Fllanxa mehr unterstützen, sagt | |
| Zyraja, die ihren Nachnamen nicht veröffentlichen will. „Aber ich kann ihr | |
| nicht finanziell helfen.“ Sie sagt auch, dass Fllanxa Murra durch ihre Zeit | |
| in Deutschland offener geworden sei. „Man sieht es ihr an. Ich merke es | |
| auch, wenn sie redet.“ | |
| ## Ihre Familie spricht nicht mehr über sie | |
| In Albanien würde Fllanxa Murra vermutlich wieder eine Invalidenrente von | |
| etwa 66 Euro monatlich bekommen – ohne Unterstützung reicht das nicht. Ihre | |
| Schwester versucht, eine Wohnung für sie zu finden. | |
| Auf Unterstützung durch die Familie kann Murra nicht hoffen. „Unsere Eltern | |
| sagen, Fllanxa gehöre nicht mehr zur Familie. Dass sie homosexuell ist, sei | |
| eine Schande“, sagt Zyraja. Seit Murras Flucht werde nicht mehr darüber | |
| gesprochen. | |
| Als Fllanxa Murra Anfang Dezember in die Psychiatrie in Tirana eingeliefert | |
| wurde, informierten die Ärztinnen unmittelbar ihre Verwandten. Alle kamen | |
| in die Klinik. Auch diejenigen, die sie vor zwei Jahren wegen ihrer | |
| Homosexualität verdammt hatten: Vater, Mutter, Brüder. Die Mutter habe | |
| gesagt, sie solle nach Hause kommen. Doch Murra will nicht, sie hat Angst. | |
| Ihre Ärztin sagt, dass es der Vater sei, der die Angst auslöse. Und dass | |
| sie dabei gewesen sei, als er zu Murra sagte, sie gehöre nicht mehr zur | |
| Familie. | |
| Auch ihre Schwester glaubt, dass Fllanxa Murra nicht zur Familie | |
| zurückkehren könne. „Selbst wenn sich der Kontakt verbessern würde, wäre | |
| das Leben in dem Dorf für Fllanxa unmöglich.“ Das Beste für sie wäre, wenn | |
| sie nach Deutschland zurück könnte – „auch, wenn sie dann nicht mehr bei | |
| mir ist“. | |
| ## Homosexuelle in Albanien zu verstoßen, ist nicht selten | |
| Xheni Karaj hat in Tirana vor zehn Jahren die Alianza LGBT gegründet, eine | |
| Organisation, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und | |
| Transpersonen einsetzt. Dass Homosexuelle in Albanien von ihren Familien | |
| eingesperrt, verstoßen oder gar verletzt werden, sei keine Seltenheit, sagt | |
| die 33-Jährige und blickt auf die Bildschirme der Überwachungskameras. | |
| Der Beratungsraum des Community Centers liegt in einem Hinterhaus nahe der | |
| Innenstadt. Wer die Adresse nicht kennt, findet diesen Schutzraum für LGBT | |
| nicht. Karaj trifft alle, die Kontakt zur Alianza suchen, zunächst in einem | |
| nahe gelegenen Café – eine Vorsichtsmaßnahme. | |
| Im Fenster des flachen Hauses mit dem großen Innenhof hängt eine | |
| Regenbogenflagge, drinnen flirren elektrische Heizer gegen die Kälte des | |
| albanischen Winters an. Jubel dringt aus einem Nebenraum. Eine Gruppe | |
| junger Menschen bereitet sich hier gerade auf die Wahl zur „Miss Trans“ | |
| vor. Xheni Karaj begrüßt später alle mit einer Umarmung. | |
| Karaj kennt die Geschichte von Fllanxa Murra. Als Murra abgeschoben wurde, | |
| baten ihre Unterstützer vom Queer Refugees Network aus Leipzig Karaj um | |
| Hilfe. Murras Fall sei der schwierigste, den sie je gehabt habe. | |
| Homosexuell, körperlich eingeschränkt und Romni – das sei in Albanien „ein | |
| Todesurteil.“ Karajs Organisation hat zwar eine Notunterkunft, in der | |
| obdachlose LGBT-Personen Unterschlupf finden können – die ist aber nicht | |
| barrierefrei. | |
| ## In Deutschland könnte sie leben | |
| „Wir haben nicht genügend Ressourcen, um Fllanxa zu unterstützen“, sagt | |
| Karaj. Zudem gebe es in Albanien weder ausreichende staatliche | |
| Unterstützung und medizinische Versorgung, noch Infrastruktur für Personen | |
| mit Behinderung. Man sehe kaum Menschen mit Behinderung auf der Straße. | |
| „Die einzige Möglichkeit für sie ist, zu Hause zu bleiben.“ | |
| Wäre es besser, wenn Murra in Deutschland lebte? „Ja, definitiv“, sagt | |
| Karaj. In Deutschland könne sie das, was ihr in Albanien verwehrt wird: | |
| „Leben statt bloß überleben.“ | |
| Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sieht das anders. In dem | |
| Ablehnungsbescheid, den Murra am 4. Juli 2018 erhielt, heißt es, es gebe in | |
| Albanien „weder eine staatliche Diskriminierung von Frauen noch von Lesben, | |
| Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern oder Intersexuellen | |
| (LGBTTI)“. Ein Gesetz schütze zudem vor häuslicher Gewalt. | |
| Ein im Mai 2016 verabschiedeter „Aktionsplan zur besseren Integration“ von | |
| LGBTTI werde von Nichtregierungsorganisationen gelobt. Fllanxa Murra drohe | |
| weder eine Verfolgung durch den albanischen Staat noch durch | |
| nichtstaatliche Akteure. | |
| ## Ein Spendenkonto für die Miete | |
| Karaj kennt diese Argumentation. Die neuen Antidiskriminierungsgesetze | |
| interpretiert sie als Anbiederung – Albanien bewirbt sich derzeit um den | |
| Beitritt zur EU. „Es gibt einen großen Kontrast zwischen den Gesetzen auf | |
| dem Papier und der Realität.“ Sie erzählt von anderen Fällen, in denen | |
| LGBT-Personen von ihren Eltern eingesperrt oder rausgeworfen wurden. | |
| Von Fällen, in denen Eltern ihre Kinder zu ÄrztInnen brachten, damit diese | |
| sie von ihrer Sexualität heilten. Und davon, wie ein Arzt sich weigerte, | |
| eine Transperson zu behandeln. Er habe Karaj angerufen und gesagt: „Warum | |
| lasst ihr diese Menschen nicht einfach sterben?“ | |
| Am 20. Dezember verlässt Murra die Psychiatrie. Sie hätte schon früher | |
| gehen können, durfte aber noch bleiben. „Aus Kulanz“, sagt die Ärztin. | |
| „Weil ich nicht weiß, wo ich hin soll“, sagt Murra. | |
| Bis deutsche Gerichte über die Rechtmäßigkeit von Murras Abschiebung | |
| entschieden haben, will sie in eine eigene Wohnung ziehen. Doch es ist | |
| schwer, in Tirana eine für sie bezahlbare Wohnung zu finden – an eine | |
| barrierefreie ist kaum zu denken. In Deutschland [4][haben ihre | |
| UnterstützerInnen ein Spendenkonto eingerichtet], um Geld für ihre Miete zu | |
| sammeln. | |
| ## Eine Notlösung … | |
| Kurz bevor sie die Psychiatrie verlässt, sitzt Fllanxa Murra auf einem | |
| Holztisch im kahlen Gang und wippt nervös mit der Prothese. Aus ihrer | |
| Hosentasche zieht sie einen Zettel, auf dem „Ihr nächster Termin“ steht. | |
| Datiert auf den 4. Januar 2019, 13 Uhr. Wahrnehmen kann sie den Arzttermin | |
| nicht, er ist in der Helios-Klinik in Leipzig. | |
| Mit den lila Krücken und der neuen Prothese geht Murra, sich an der Wand | |
| abstützend, die glatten Stufen hinunter zum Ausgang der Klinik. Ihre | |
| Schwester ist gekommen, um sie abzuholen. Fürs Erste kommt Murra bei ihr | |
| unter. Ein Bekannter der beiden holt sie mit seinem VW Golf ab. Auf dem | |
| Rücksitz winkt ein kleiner Junge aufgeregt. Es ist Fllanxa Murras Neffe. | |
| Sie steigt ein und küsst ihn. „Er freut sich, mich zu sehen“, sagt sie. | |
| „Und ich freue mich.“ | |
| Während der Autofahrt blickt Murra aus dem Fenster in den Trubel der Stadt. | |
| „In Deutschland kann ich allein die Straßenbahn nehmen und Freunde | |
| treffen“, sagt sie. „Hier ist das nicht möglich.“ Draußen fahren alte | |
| Linienbusse mit Treppenstufen. Ein Straßenbahnnetz gibt es nicht. | |
| ## … die keine ist | |
| Nach etwa einer halben Stunde löst sich die Hektik Tiranas auf. Die Straßen | |
| haben Schlaglöcher, es ist wenig von den Weihnachtslichtern der Innenstadt | |
| übrig. Ein einzelner Bulle steht auf einer Wiese, auf der sich Heuballen | |
| stapeln. An den Straßenrändern und in Bächen sammelt sich der Müll. Ein Weg | |
| führt zu dem mit Wellblech bedeckten Haus, in dem Murras Schwester mit | |
| ihrem Ehemann und den zwei Kindern lebt, direkt neben der Schwiegermutter | |
| und deren Familie. Murra steigt aus, manövriert sich mit ihren Krücken | |
| zwischen der an der Leine hängenden Wäsche hindurch. | |
| Murras Schwester führt in den kleinen Raum, in dem ein Bett, ein | |
| Kleiderschrank und ein Regal stehen. In einer Nische hängt ein Waschbecken, | |
| in dem sich Kochtöpfe stapeln. Eine Tür führt zu einem weiteren kleinen | |
| Raum, dem Stehklo. Es ist kalt, eine Heizung gibt es nicht. Auf gut zwanzig | |
| Quadratmetern leben hier vier Personen – und nun vorerst auch Fllanxa | |
| Murra. | |
| „Es geht nicht“, sagt ihre Schwester. „Sie kann hier nicht leben.“ Schn… | |
| dreht sie die Bilder der Eltern und Brüder auf der Kommode um. „Damit | |
| Fllanxa nicht weint.“ Draußen warten die Schwiegermutter und deren Tochter. | |
| Die alte Frau streckt ihre Hände gen Himmel. Sie betet für Fllanxa Murra. | |
| 9 Jan 2019 | |
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| Sarah Ulrich | |
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