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# taz.de -- Albanien als sicheres Herkunftsland: Eine von 962
> Fllanxa Murra hat keine Beine. Sie floh nach Deutschland, als ihre Eltern
> von ihrer Homosexualität erfuhren. Nun gilt Albanien als sicheres
> Herkunftsland.
Bild: Fllanxa Murra will Schwimmerin werden
Es ist ein Novembermorgen, an dem die Sonne noch wärmt, als würde der
Winter nie kommen. Es ist einer der besseren Tage von Fllanxa Murra. Sie
lächelt, ein bisschen nervös ist sie auch. Heute wird sie ihre Geschichte
erzählen.
Sie sitzt an dem mit Schokokeksen und Kaffee gedeckten Tisch in der
Kleiderkammer in Taucha. Der kleine Laden ist für sie ein Rückzugsort
inmitten der tristen Vorstadt, nur wenige Minuten von Leipzig entfernt.
Fllanxa Murra verständigt sich mit den Menschen im Raum, mit Mimik und
Gestik mehr als mit einer gemeinsamen Sprache. Es sind Ehrenamtliche und
Geflüchtete, die hier zusammenkommen. Unter ihnen bewegt sie sich
selbstbewusst, manövriert ihren Rollstuhl durch den engen, mit Büchern und
Kleiderspenden gefüllten Raum.
Es gibt auch schlechte Tage. Tage, an denen sie allein in ihrer Wohnung
sitzt, nur ein paar hundert Meter von der Kleiderkammer entfernt, und
wartet. Auf neue Briefe von der Asylbehörde. Auf jemanden, der kommt und
sie abholt. Die sechs Steinstufen vor ihrer Wohnung kommt sie zwar allein
hinunter. Doch dann sitzt sie da, auf der untersten Stufe, und wartet, bis
ihr jemand den Rollstuhl hinterherträgt.
Schon lange hat sie keine guten Nachrichten mehr bekommen. Der letzte
Brief, den sie Anfang November erhielt, kündigte ihre Abschiebung an.
Datiert ist der Brief auf den 26.10.2018. Einen Monat hat sie Zeit,
freiwillig auszureisen. Sie könne nicht mehr auf eine weitere Duldung ihres
Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland vertrauen, heißt es in dem
Behördenschreiben. Doch das Vertrauen hat sie schon vor langer Zeit
verloren.
## ***
2014 kam ein Filmteam zu Fllanxa Murra nach Hause. Der Film, der auf
YouTube zu sehen ist, zeigt ein Leben in Armut. In einem kleinen Dorf nahe
der Kleinstadt Burrel, etwa zwei Autostunden von der albanischen Hauptstadt
Tirana entfernt, lebte sie gemeinsam mit ihren Eltern und sieben
Geschwistern in einer weißen Steinhütte nahe bei einem Fluss. Als
sogenannte BalkanägypterInnen gehört ihre Familie zu einer Albanisch
sprechenden Teilgruppe der südosteuropäischen Roma.
Inmitten dieser Armut lebte Fllanxa Murra. Ihr Körper ist gezeichnet von
einem Unfall. Als sie neun Jahre alt war, trat sie beim Hüten von Ziegen
auf eine Landmine und verlor beide Beine sowie drei Finger der linken Hand.
Wenn Fllanxa Murra heute von den Erlebnissen spricht, runzeln sich kleine
Falten auf ihrer Stirn. Ihre großen braunen Augen schauen nach unten, als
wollten sie den mitleidigen Blicken ausweichen. Mit den beiden Fingern, die
ihr an der linken Hand geblieben sind, zwirbelt sie ihr blond gefärbtes
Haar. Sie spricht flüssig, aber leise.
Die Familie habe sie sehr unterstützt – vor allem ihre Mutter. „Sie hat
hart gekämpft, damit ich ein gutes Leben habe“, sagt sie. Bis zu dem Tag,
an dem die Mutter Nachrichten auf Fllanxa Murras Handy las und herausfand,
dass ihre Tochter lesbisch ist. Fllanxa Murra hatte sich in die
Journalistin verliebt, die den Fernsehbeitrag über ihr Leben gedreht hatte:
„Meine Familie ist ausgerastet.“
## „Ich war zu müde zum Leben“
Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter zerbrach binnen Sekunden. „Du Lesbe“, rief
ihre Familie, du Behinderte!“ Fllanxa Murra erzählt, wie sie in ihrem
Zimmer eingesperrt worden sei und ihr das Handy abgenommen wurde. Jeglichen
Kontakt zur Außenwelt habe die Familie ihr verwehrt, an manchen Tagen habe
sie nicht einmal Essen gebracht bekommen.
Nach einer Woche habe ihre Freundin sie zu Hause aufgesucht, weil sie sich
Sorgen machte. Fllanxa Murras Vater habe sie verprügelt. Und die Freundin
sei gegangen.
Fllanxa Murra konnte nicht gehen. Ihre Prothesen waren schon zu alt, zu
kaputt, um damit noch richtig laufen zu können. „Das war der Moment, in dem
ich beschlossen habe, mich umzubringen“, erzählt sie. Zu dem Zeitpunkt war
sie 25. Sie habe eine Überdosis der Tabletten genommen, die die Schmerzen
der Gliedmaßen erträglich machen sollten, und gewartet. „Ich war zu müde
zum Leben“, sagt sie heute.
Ihre Familie fand sie rechtzeitig und brachte sie in ein Krankenhaus in
Tirana. Zwei Monate wurde sie dort wegen der Überdosis und ihrer
psychischen Leiden behandelt, bis sie für einige Tage zu der einzigen
Schwester ging, die aus dem Dorf nach Tirana gezogen war. In deren Wohnung
lernte sie Dritan H. kennen – den Mann, der ihr Hoffnung auf ein besseres
Leben gab. „Er hat versprochen, mir zu helfen.“
## ***
In einer der folgenden Nächte schafft sie es mit der Hilfe von Dritan H.,
aus ihrem Dorf zu fliehen. Mit einem Kleinbus fahren sie am 2. Oktober 2016
über 20 Stunden lang, passieren fünf Landesgrenzen, ohne gestoppt zu
werden. „Es waren viele Leute, die nach Deutschland wollten“, erinnert sie
sich. 300 Euro pro Person haben sie für die Fahrt im Kleinbus von Tirana
ins sächsische Riesa gezahlt. Sie werden direkt zur örtlichen Polizei
gebracht, wo sie die erste Nacht verbringen, bevor sie nach Leipzig weiter
verteilt werden. „Wie in einem Taxi“, sagt sie, als sei ihre Flucht eine
Fahrt zum Supermarkt.
## ***
Die Geschichte der Flucht von Fllanxa Murra könnte hier zu Ende sein. Heute
sitzt sie in dem engen, mit Bücherregalen gefüllten Eingangsraum der
Kleiderkammer in Taucha. Mit aufgewecktem, aber sichtlich erschöpftem Blick
schaut sie auf ihre rechte Hand, an der sie ein schwarzes geflochtenes
Armband trägt. Auf einem dezenten weißen Stein ist ein kleines F
eingraviert. Fllanxa Murra ist müde. Und dennoch will sie ihre Geschichte
öffentlich machen. „Ich hoffe, dass mir dann noch geholfen wird.“
Was hier aufgeschrieben ist, basiert auf Gesprächen mit ihrem Umfeld, auf
ärztlichen Stellungnahmen und Behördendokumenten, die sie fein säuberlich
in einem Ordner sammelt. Und auf dem, was sie selbst erzählt. Nicht alles
können wir überprüfen. Aber was Fllanxa Murra erzählt, wirkt glaubwürdig.
## ***
Es ist der 18. Oktober 2016, als Fllanxa Murra und Dritan H. einen
Asylantrag stellen. Zwischenzeitlich wurden sie in eine Unterkunft für
Asylsuchende nach Leipzig gebracht. Dritan H. ist der Einzige, dem sie
vertraut. Ohne ihn hat sie keine Möglichkeit, sich zu artikulieren, denn
sie spricht kein Deutsch. Sie kann sich ohne ihn nicht außerhalb der
Unterkunft bewegen, denn sie hat anfangs keinen Rollstuhl und keine
funktionierenden Prothesen. Dritan H. wird zu einem Freund, in dessen Hände
sie ihr Leben legt.
Am 21. Oktober 2016 haben die beiden ihre erste Anhörung beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, dem BAMF. Siebzehn Tage später erhalten sie den
ersten Ablehnungsbescheid. Fllanxa Murra sagt, sie habe zu diesem Zeitpunkt
nicht gewusst, dass sich Dritan H. vor den Asylbehörden als ihr Ehemann
ausgibt. Dritan H. habe sich von der Tarnung bessere Chancen erhofft – da
Fllanxa Murra eine Behinderung hat. „Er wollte von mir profitieren“,
erzählt sie.
***
Es ist eine klirrend kalte Nacht im November 2016. In Nächten wie dieser
ist Dritan H. fast immer mit seinen Freunden unterwegs. Er beginnt, das
gemeinsame Geld für Drogen auszugeben. „Angefangen bei Alkohol, später auch
Marihuana und Kokain“, sagt Fllanxa Murra. Aus den ärztlichen Dokumenten
geht hervor: Am 18. 11. 2016 wird Fllanxa Murra vom medizinischen
Stützpunkt ihrer Unterkunft in das Leipziger Klinikum St. Georg geschickt.
Dritan H. kommt als ihr Übersetzer mit. In keinem Moment ist sie mit
medizinischem Personal allein. Die Diagnose im Krankenhaus:
Unterbauchschmerzen. Sie bekommt Schmerzmittel und wird entlassen. Was die
Ärzte nicht wissen: „Ich wurde von Dritan H. vergewaltigt“, sagt Fllanxa
Murra.
„Ich hatte Angst, zu schreien, weil es mir peinlich war.“ Während Fllanxa
Murra im Krankenhaus auf Hilfe durch das medizinische Personal hoffte, habe
Dritan H. sie verhöhnt. Dass sie sicher Schmerzen habe, weil er so stark
und männlich gewesen sei. Dass er sie „hart genommen“ habe. Dass sie sicher
schwanger sei. Die Vergewaltigung sei ihr erster Geschlechtsverkehr mit
einem Mann gewesen, erzählt Fllanxa Murra.
In den folgenden Wochen habe sich die Situation immer weiter verschlimmert.
Dritan H. habe sie beleidigt und mit einer Waffe bedroht. Ohne ihn sei sie
verloren, habe er ihr fast täglich gesagt. Und sie habe ihm das geglaubt.
In ihrem Rollstuhl habe er sie auf die Straße gebracht, um sie zum Betteln
zu zwingen und in den Supermarkt zum Stehlen. Dann habe er sie in einen
Park geschoben, wo ein Mann auf sie gewartet habe, den sie oral befriedigen
sollte. Erst als sie sich erbrochen habe, durfte sie aufhören. Dritan H.
habe sie geschlagen und eines Tages einen Mann in das gemeinsame Zimmer
gebracht, der Fllanxa Murra erneut vergewaltigt habe.
## „Im Rahmen der Flüchtlingswelle ist viel passiert“
Es ist ein Zufall, der Fllanxa Murra im Januar 2017 von Dritan H. befreit.
Immer wieder habe er Streit mit anderen Bewohnern der Asylunterkunft
gehabt, auch wegen der Drogen, sagt sie. Als ein Mann aus Montenegro bei
Dritan H. eine Schusswaffe entdeckt, wird dieser festgenommen – und kurze
Zeit darauf abgeschoben. Für die taz war er bis Redaktionsschluss nicht zu
erreichen.
Heute erzählt Fllanxa Murra, dass sie sich zu dieser Zeit mehrfach bemüht
habe, Hilfe zu holen. „Ich habe versucht, mit den Sozialarbeitern im Camp
zu sprechen, habe versucht, ein eigenes Zimmer zu bekommen“, sagt sie. Doch
es sei abgelehnt worden. Die Leitung der Unterkunft für Asylsuchende gibt
der taz zu den Vorwürfen Murras, in der Unterkunft vergewaltigt worden zu
sein und keine Hilfe bekommen zu haben, keine Auskunft. „Im Rahmen der
Flüchtlingswelle ist viel passiert“, sagt der Leiter der Einrichtung. In
der Tat berichten Medien in dieser Zeit regelmäßig über Missbrauch in
Asylunterkünften.
Ein Dolmetscher wird ihr nicht gestellt – es ist immer Dritan H., der für
sie übersetzt. Erst kurz vor dessen Abschiebung habe sie mit einer
Sozialarbeiterin sprechen können, die ihr von der angeblichen Ehe erzählt.
Sie stellt einen neuen Antrag auf Asyl.
Im Herbst 2017 erfährt sie vom Queer Refugees Network in Leipzig. Erstmals
seit ihrer Ankunft ein Jahr zuvor trifft sie auf UnterstützerInnen, die
bereit sind, sich ihre Geschichte anzuhören.
## ***
Eine davon ist Sabrina Latz. Sie ist Mitarbeiterin des Queer Refugees
Network, einer Leipziger Unterstützungsorganisation für queere Geflüchtete.
Latz begleitet Fllanxa Murra seit über einem Jahr. Selten zeige die, wenn
es ihr wirklich schlecht geht. „Ich nehme sie als sehr kämpferisch wahr“,
sagt Latz. „Was ihr passiert ist, zeigt, dass die Strukturen in Deutschland
bei besonders schutzbedürftigen Personen versagen.“ Latz ist wütend
darüber, dass nicht früher eine Dolmetscherin hinzugezogen wurde. Dass
Dritan H. geglaubt wurde. Dass Fllanxa Murra nicht barrierefrei
untergebracht wurde. Dass sie nicht ein einziges Mal selbst gefragt wurde,
was eigentlich passiert sei.
Als sie das erste Mal in die Beratung kam, sei sie in sehr schlechter
Verfassung gewesen. Deshalb habe man sich entschieden, sie kurzfristig in
einem Frauenhaus in Leipzig unterzubringen – mit besserer Anbindung an
medizinische und psychologische Betreuung. Am 3. Juli 2018 weist die
Asylbehörde Fllanxa Murra endlich eine eigene Wohnung zu. Allein kann sie
die Wohnung wegen der sechs Eingangsstufen allerdings nicht verlassen. Und
dennoch hat Fllanxa Murra seit zwei Jahren zum ersten Mal einen Ort, an den
sie sich zurückziehen, den sie gestalten kann. Hier hat sie ein selbst
gebasteltes Kuscheltier zur Dekoration aufgestellt. Ein Fantasietier:
kugelrund, grün, mit aufgeklebten Augen und einer Krone. Am Wohnzimmertisch
trägt sie fein säuberlich ihre Termine in einen Kalender: Physiotherapie,
Helios Klinik, Deutschkurs.
Nur einen Tag nach ihrem Einzug in die neue Wohnung kommt der Brief:
Fllanxa Murras Antrag auf Asyl wird als „offensichtlich unbegründet
abgelehnt“. Es bestehe keine „begründete Furcht vor Verfolgung“, keine
„Gefahr eines ernsthaften Schadens“. Weder gebe es Anhaltspunkte, dass Roma
in Albanien einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt wären, noch drohe der
Antragstellerin eine Verfolgung aufgrund ihrer homosexuellen Orientierung.
Der Bescheid verweist auf staatliche Reformen. Eine Verfolgung durch den
nach Albanien abgeschobenen Dritan H., der laut Fllanxa Murra auch nach
seiner Ausreise noch mehrfach gedroht habe, sei „nicht mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit“ anzunehmen.
Und weiter: Es sei „nicht zu erwarten, dass ihre Eltern bei ihrer Rückkehr
anderweitige Handlungen vornehmen, welche die notwendige Intensität einer
Verfolgungshandlung aufweisen“. Begründung: Die Eltern hätten die
Antragstellerin „nur eingeschlossen […], um sie nach Auffassung der Eltern
zu schützen“.
Auf Anfrage der taz teilt das BAMF mit, dass „immer die individuell
vorgetragene Fluchtgeschichte“ bewertet werde. Auf konkrete Nachfragen zum
Fall geht das Amt nicht ein.
## ***
Tatsächlich ist der Bescheid juristisch korrekt. „Das Problem bei den
sicheren Herkunftsstaaten ist, dass die Nachweispflicht viel höher ist“,
sagt Fllanxa Murras Anwalt Franz Schinkel. Seit Albanien diesen Status
erhalten habe, werde bei AlbanerInnen grundsätzlich vermutet, dass diese
nicht verfolgt werden. „Wir haben es ganz schwer, das Gegenteil zu
beweisen“, sagt Schinkel.
„An Fällen wie diesem merken wir, dass bei diesen Ländern faktisch keine
Einzelfallprüfung stattfindet“, sagt auch Sabrina Latz.
Tatsächlich wird kaum einE AlbanerIn in Deutschland als Flüchtling
anerkannt. Der Asylgeschäftsbericht des Bundesamts zeigt: Von insgesamt 962
Entscheidungen zwischen Januar und Oktober 2018 erhielt keine Person den
Status als Asylberechtigte, vier Personen wurden als Flüchtling anerkannt
und weiteren vier Personen wurde subsidiärer Schutz gewährt. Für fünf
Personen wurde ein Abschiebeverbot festgestellt. Die übrigen Anträge wurden
abgelehnt. Damit liegt die Anerkennungsquote inklusive Abschiebeverbote bei
1,35 Prozent.
Weil die Anerkennungsquote schon seit Jahren niedrig ist, wollte die
Bundesregierung 2015 Albanien, Montenegro und das Kosovo als sichere
Herkunftsstaaten deklarieren. Begründung: Wenn sowieso kaum jemand
anerkannt wird, könnte man das Verfahren auch beschleunigen. Dafür brauchte
sie die Zustimmung des von SPD und Grünen dominierten Bundesrats. Nachdem
der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit
seiner Stimme schon geholfen hatte, dass Mazedonien, Serbien und
Bosnien-Herzegowina als sicher deklariert wurden, löste die Debatte dieses
Mal einen Richtungsstreit innerhalb der Partei aus. Die Landeschefs
veröffentlichten ein Papier, in dem sie sich gegen eine Ausweitung der
sicheren Herkunftsländer stellten.
Also gab es einen Deal: Die Bundesregierung machte Zugeständnisse bei der
Asylrechtseinschränkung, die Grünen willigten ein. Im Oktober 2015 wurden
Albanien, Montenegro und das Kosovo mit Zustimmung von sieben grünen
Landeschefs als weitere sichere Herkunftsstaaten definiert.
Erst im September 2018 sagte Außenminister Heiko Maas bei einem Besuch in
Tirana, die albanischen Reformleistungen der letzten Jahre bewiesen „eine
beeindruckende politische Kraftanstrengung“. Organisationen wie Amnesty
International oder der Zentralrat der Sinti und Roma prangern die
gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten, die patriarchale
Familienstruktur und die Korruption in Albanien an.
„Alle Länder im westlichen Balkan haben Strategien zur Integration der Roma
erlassen, ohne dass diese umgesetzt werden“, heißt es in einem Statement
des Zentralrats der Sinti und Roma von 2017. In Bezug auf sexuelle Freiheit
sieht es kaum anders aus: 1995 wurde Homosexualität im Strafgesetz als
Haftgrund gestrichen. Gesellschaftlich ist Homophobie noch immer stark
verbreitet. Als 2012 die erste Gay-Pride-Parade Albaniens in Tirana
stattfinden sollte, drohte der damalige stellvertretende
Verteidigungsminister, die TeilnehmerInnen verprügeln zu lassen.
## ***
Drei starke Schmerzmittel muss Fllanxa Murra derzeit einnehmen, gegen die
Nervenschmerzen infolge der Amputationen. Eines davon istMetamizol, in der
höchsten Dosierung, die man verabreichen kann. Eine Ärztin hat bei Fllanxa
Murra den „dringenden Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung“
diagnostiziert. Die Stellungnahme liegt auch dem Asylantrag bei. Die Ärztin
empfiehlt eine psychotherapeutische Behandlung.
Da das BAMF in Murras Fall die Diskriminierung als Romni und als
Homosexuelle nicht als Asylgrund anerkennt, bleibt ihr nur die Möglichkeit,
aus medizinischen Gründen ein Abschiebeverbot zu erwirken. Doch die
Stellungnahme der Ärztin reicht dafür nicht aus. Dafür müsste das Bundesamt
ein Gutachten bestellen.
Das BAMF geht jedoch davon aus, dass die medizinische Betreuung auch in
Albanien erfolgen kann. Die Ausländerbehörde prüft zusätzlich, ob durch die
Abschiebung eine „besondere Gefahr für Leib oder Leben“ entsteht –
beispielsweise Suizidgefahr, wie Murras Rechtsanwalt Schinkel erklärt.
Schinkel klagt gegen den Asylbescheid und versucht gleichzeitig, die
Abschiebung hinauszögern. Sonst könnte Fllanxa Murra trotz der Klage
abgeschoben werden. „Wenn ich zurück nach Albanien muss, bin ich verloren“,
sagt sie. Von ihrer Familie könne sie keine Hilfe mehr erwarten. Und selbst
wenn sie die jährliche Invalidenrente von 100.000 Lek, umgerechnet etwa 800
Euro, die sie vom Staat bis zu ihrer Ausreise bekommen hat, noch einmal
bekäme, würde diese nicht zum Leben reichen. Sogar der niedrige Mindestlohn
liegt in Albanien bei 252.000 Lek. „Man kann Frau Murra nicht einfach auf
dem Flughafen absetzen“, sagt Schinkel.
## ***
Bis zum 28. November hat Fllanxa Murra noch Zeit, freiwillig auszureisen.
Wenn sich die rechtliche Lage bis zu dem Termin nicht verändert hat, kann
sie abgeschoben werden. Und was passiert dann? „Dann bringe ich mich um.“
Die Antwort kommt zu schnell, als das sie nicht wohlüberlegt sein könnte.
Ihre Unterstützer aus Taucha haben Unterschriften für einen Härtefallantrag
gesammelt. Sie ist fest in den kleinen Ort integriert, nimmt an Grillfesten
und Kirchenkonzerten teil, kommt regelmäßig zur Kleiderkammer – wie heute.
Dann sitzt sie mit den anderen am Tisch, trinkt Kaffee, plaudert, so gut es
geht, lernt Deutsch.
Zwei ehrenamtliche Helfer helfen Fllanxa Murra, zu ihren Terminen zu
kommen. Lothar Trinks, ein ehemaliger Friedhofsgärtner aus Taucha, hilft
ihr aus dem Rollstuhl in sein Auto, um sie in die nur wenige Hundert Meter
entfernte Wohnung zu fahren. Dort trägt er den Rollstuhl die Treppen hoch –
während Fllanxa Murra sich Stufe für Stufe zu ihrer Eingangstür hochstützt.
Die beiden sind ein eingespieltes Team.
Heute ist Donnerstag, einer der Tage, die ihr Hoffnung geben. Dienstags und
donnerstags geht sie zum Deutschkurs. Auf dem schwarzen Wohnzimmertisch in
ihrer Wohnung liegen Lernzettel, Sprachlernbücher und Dokumente. Sätze wie
„Mein Kopf tut weh“, schreibt sie auf die losen Blätter.
Fllanxa Murra, die wenige Monate vor ihrem 30. Geburtstag steht, hat Pläne.
„Ich will eine Ausbildung machen, damit ich genauso wie alle anderen leben
kann“, sagt sie. Leise, als sei es zu peinlich, einen solchen Gedanken mit
ihrer Behinderung überhaupt zu denken, sagt sie: „Ich würde gerne
Schwimmerin werden.“ Die letzten Worte will sie ohne Hilfe der
Dolmetscherin sagen: „Glücklich sein.“
30 Nov 2018
## AUTOREN
Sarah Ulrich
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Albanien
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Schwerpunkt LGBTQIA
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Lesestück Recherche und Reportage
Albanien
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