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# taz.de -- Zwischen den Geschlechtern: Wann ist ein Mann ein Mann?
> Unser Autor hat ein X-Chromosom zu viel. Rein biologisch ist er kein
> Mann, aber er fühlt sich wie einer. Wie lebt er damit?
Bild: Bei Unisex-Toiletten spielt die Grenze zwischen Weiblich und Männlich ke…
Die Sonne brennt. Ich schwitze und sehne mich nach einer Abkühlung in
frischem Wasser. Es sind 35 Grad, selbst im Schatten ist es noch sehr heiß.
Die große Hitzewelle hat Deutschland im Sommer 2018 im Griff.
Mit meiner Freundin und zwei Freunden laufe ich über eine Brücke, mitten im
Naturschutzgebiet, 20 Kilometer östlich von Frankfurt am Main. Unter uns
glitzert ein See, gesäumt von Bäumen mit sattgrünen Blättern, manche Äste
ragen ins Wasser. Normalerweise verirren sich nicht allzu viele Menschen an
diesen Ort, deswegen komme ich gern hierher.
Heute sind viele da. Mit freiem Oberkörper liegen sie auf dem Gras, spielen
Karten, picknicken oder sitzen am Ufer. Wir breiten unsere Decke aus, ich
setze mich und sage: „Ich komme nicht mit. Ich warte hier auf euch.“
Ich fühle mich beobachtet, sitze auf der Decke mit angewinkelten Beinen,
meine Arme lege ich auf den Knien ab. Meine Augen wandern von links nach
rechts. Immer in der Angst, dass mich jemand anschaut. Erst nach ein paar
Minuten traue ich mich, mein T-Shirt auszuziehen.
Ich habe ein Problem mit meinem Körper, weil er anders ist. Nicht dünn,
nicht dick. Einfach anders. Mein Körper hat feminine Züge. Ich haben einen
erhöhten Fettanteil um meine Hüfte – wie bei einer durchschnittlichen Frau.
Ein Arzt nennt das „Frauenhüfte“. Sie ist nur eine von mehreren Symptomen
meines Gendefekts. Ich habe den Chromosomensatz 47, XXY.
„Klinefelter-Syndrom“ nennen Mediziner*innen das. Ich nenne es oft einfach
KS.
## Ein X-Chromosom zu viel
Erkannt wurde das KS erstmals 1942 von dem US-amerikanischen Arzt Harry
Klinefelter, der damals noch nicht erklären konnte, was die Gründe dafür
waren. Die Ursache des Defekts wurde erst 1959 entdeckt: ein zusätzliches
X-Chromosom in den Zellkernen.
Das biologische Geschlecht eines Menschen hängt davon ab, welche
Chromosomen dieser von seinen Eltern erhält. Ein männliches Spermium
enthält 23 Chromosomen, eines davon ist entweder ein X- oder ein
Y-Chromosom. Die weibliche Eizelle hat ebenso 23 Chromosomen, darunter ein
X-Chromosom. Klinefelter-Männer haben ein X-Chromosom mehr, was auf eine
Störung bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen der Eltern
zurückgeht.
XXY. Mit dieser Diagnose bin ich nicht allein: Etwa jeder 500. Mann
hierzulande hat das Klinefelter-Syndrom. In Deutschland sind rund 80.000
Männer betroffen, aber nur etwa 10 bis 15 Prozent wissen davon – lediglich
rund 5.000 bestätigte Fälle gibt es in Deutschland. Das ist erstaunlich,
denn das KS ist die häufigste Chromosomenabweichung bei Männern und der
häufigste genetische Grund für Zeugungsunfähigkeit.
## Nicht leicht zu erkennen
Weil jedoch die Symptome auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen
sind, ist das Klinefelter-Syndrom relativ unbekannt. Und es ist nicht
heilbar, nur die Symptome können bekämpft werden.
Betroffene leiden häufig unter Testosteronmangel, einer verzögerten oder
ganz ausbleibenden Pubertät, Brustentwicklung und kleinen Hoden. Auch auf
die Konzentrationsfähigkeit und die Frustrationstoleranz kann sich das KS
auswirken. Fachärzt*innen geben außerdem an, dass das KS für ein gutes
Langzeitgedächtnis, stark ausgeprägtes Sozialverhalten, tiefgründiges
Nachdenken oder eine überdurchschnittliche Beobachtungsgabe verantwortlich
sein kann.
Das zweite X-Chromosom hemmt die Bildung von Testosteron in den Hoden. Das
wiederum sorgt für die Ausbildung der Geschlechtsorgane und -merkmale und
übernimmt verschiedene Aufgaben im Stoffwechsel des Menschen. Deswegen sind
die KS-Symptome so vielfältig. Außerdem wird das zusätzliche X-Chromosom
teilweise unterdrückt, was aber von Patient zu Patient unterschiedlich ist.
Weil ich eben dieses zweite X-Chromosom habe, bin ich aus biologischer
Sicht intersexuell. Bei der Mehrheit der Betroffenen bestimmt das
Y-Chromosom das männliche Geschlecht. Sie wachsen dann als Männer auf, so
wie ich.
Aber nicht alle KS-Männer identifizieren sich als Mann, ein Teil sieht sich
als Mann mit femininen Anteilen, bedingt durch den niedrigen
Testosteronspiegel, die verstärkte Brustentwicklung, den femininen
Körperbau oder rein emotional. Um zu verstehen, wie die KS-Symptome auf
mich wirken, wie sie mein Leben kontrollieren, mein Verhalten ändern und
wie ich versuche, sie in den Griff zu bekommen, gehe ich in der Geschichte
13 Jahre zurück.
## Machen Sie sich untenrum frei
Herbst, 2006. Es ist ein kühler Tag im südhessischen Darmstadt. Die Wolken
sind grau, es ist windig. Heute ist der Tag meiner Bundeswehrmusterung. Ich
sitze allein in einem Flur und betrachte die Wände. Sie haben einen
bräunlichen Ton. Es sieht aus, als wurde hier schon lange nicht mehr
renoviert. Eine Tür öffnet sich. „Herr Simon bitte“, ruft eine Stimme.
Ich folge einem Mann in ein Krankenzimmer, wo eine Frau mittleren Alters
wartet, die Ärztin. Sie trägt einen weißen Kittel, eine Brille, ihre
blonden Haare hat sie zusammengesteckt. Sie verzieht keine Miene. „Bitte
machen Sie sich untenherum frei“, sagt sie. Ich befolge ihre Anweisung. Die
Ärztin bückt sich, betrachtet meinen Intimbereich und richtet sich wieder
auf. Sie schaut mich an. Dann sagt sie zu mir: „Ist Ihnen schon mal
aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?“
Ich hatte mich immer gefragt, warum sich Ärzt*innen bei dieser Prozedur den
Intimbereich anschauen. Jetzt wusste ich es. Damals war ich 20 Jahre alt
und hörte zum ersten Mal, dass meine Hoden kleiner sind als die anderer
Männer. Heute bin ich 32.
In der Pubertät dachte ich nicht daran, dass mit mir irgendetwas nicht
stimmen könnte. Ich merkte damals zwar schon, dass ich mich anders
entwickelte als meine Freunde – ich sah jünger aus, hatte weniger
Haarwuchs, keinen richtigen Stimmbruch.
## Typische Probleme eines Teenagers?
In der Schule kam ich irgendwann nicht mehr mit. Ich sah lieber aus dem
Fenster, träumte vor mich hin oder kritzelte den Tisch voll. Und meine
Eltern pampte ich fast täglich an. Meine Freunde im Fußballverein fingen
an, sich über meine fehlenden „Fußballerwaden“ lustig zu machen. Ich hielt
das für typische Probleme eines Teenagers in der Pubertät. Dass da mehr
war, genaugenommen ein X mehr, das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.
Aber wie kann es sein, dass erst bei der Bundeswehrmusterung auffiel, dass
meine Hoden kleiner sind als die von gleichaltrigen Männern? Mein jetziger
Arzt meint, dass meine Kinderärztin versagt habe. Ihr hätte es bereits
auffallen müssen. Für mich selbst gab es nie Indizien. Ich hatte meinen
ersten Samenerguss im gleichen Alter wie die anderen Jungs auch. Mit 14
hatte ich meine erste Freundin, früher als andere Kumpels. Und für einen
pubertierenden Jungen masturbierte ich durchschnittlich oft. Mit 15 war ich
bei einem Urologen, er untersuchte meinen Intimbereich, und auch ihm fiel
nichts auf.
Ein Jahr später verließ ich die Schule mit einem mittelmäßigen
Realschulabschluss. Ich fühlte mich nicht bereit zu arbeiten, aber
probierte Verschiedenes aus: ein Praktikum im Hotel, ein weiteres bei einer
Werbefirma. Dann bewarb ich mich für eine Ausbildung zum Mechatroniker.
Nichts davon passte so richtig. Irgendwie fühlte ich mich immer, als würden
mir noch ein paar Jahre fehlen, als wäre ich unreifer als die anderen.
Heute weiß ich: Zu den Symptomen des Klinefelter-Syndroms gehört auch, dass
die biologische männliche Reife mit mehreren Jahren Verzögerung einsetzen
kann.
## Sie nannten mich oft den „Kleinen“
Mit 20 hatte ich immer noch kaum Bartwuchs. „Das kam bei mir auch erst
später“, sagte mein Vater damals. Ein Freund meinte, ich solle doch froh
sein. Es nerve, sich täglich zu rasieren. Aber ich wollte mich wie ein Mann
fühlen, und ein Bart, so dachte ich, macht dich männlich. Ohne die
entsprechende Gesichtsbehaarung bist du nur ein Teenager. Und so wirst du
dann auch behandelt.
Wir waren fünf Jungs in meinem Freundeskreis, alle im selben Alter. Doch
mich nannten sie oft den „Kleinen“. Wenn wir uns freitagabends trafen,
unser Sixpack Bier, eine Flasche Whiskey mit Cola tranken und überlegten,
wo wir heute feiern gehen sollen, dann zählte meine Meinung weniger als die
der anderen. Ich wurde oft überstimmt, oder sie hörten mir nicht zu.
Als ich 18 war, kam auch der Tag, an dem sich auf einmal etwas an meinem
Körper veränderte. Ich stand mit meiner damaligen Freundin im Badezimmer.
Ich zog mein T-Shirt aus, um zu duschen, und sie starrte mich an. „Was ist
los?“, fragte ich. „Du hast zugenommen“, antwortete sie flapsig.
Zugenommen? Das konnte nicht sein. Ich stellte mich vor den Spiegel und mir
fiel auf, dass sich an meinen Hüften Fettröllchen gebildet hatten. Ich
wunderte mich, dachte aber keine Sekunde darüber nach, dass das irgendwie
nicht normal sein könnte. Sie ist nicht besonders ausgeprägt, aber meine
„Frauenhüfte“ war der Anfang.
Ein Anfang, der mir damals im Badezimmer noch nicht als solcher bewusst
war. Doch wenig später kam die Einladung zur Musterung – und eben diese
Frage der Ärztin: „Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht
die normale Größe haben?“
## Die Ärzte-Tour wird zur Tortur
Nicht die normale Größe. Ich war 20, verwirrt und geschockt. Ich verließ
das Untersuchungszimmer, lief den Flur entlang, bog nach rechts ab, wieder
nach rechts, lief geradeaus an ein paar geöffneten Bürotüren vorbei. Dann
stand ich in dem Zimmer, wo die anderen auf ihre Musterung warteten. Mir
ging damals nur eine Frage durch den Kopf: Bin ich anders, nicht normal?
Ich grüßte einen alten Schulkameraden, lief zum Ausgang und schaute mir
beim Verlassen der alten Kaserne das Portrait des damaligen
Bundespräsidenten, Horst Köhler, an. Er lächelte.
Ich ging zu einem Urologen in Offenbach. Damals ahnte ich noch nicht, dass
dieser Arztbesuch der Beginn einer Tortur werden würde.
„Hatten Sie in der Schule Schwierigkeiten mitzukommen?“
„Ja, aber nicht in allen Fächern.“
„Fühlen Sie sich oft schlapp?“
„Puuh, ja, doch, schon.“
„Wann begann Ihre Pubertät?“
„Weiß nicht, so mit 14 oder 15, schätze ich.“
„Haben Sie oft Lust auf Sex?“
„Ja.“
Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, gehemmte Libido – all das sind,
wie ich heute weiß, mögliche Auswirkungen des Klinefelter-Syndroms. Aber
längst nicht alles muss zutreffen. Der Urologe untersuchte mich auch auf
„körperliche Abweichungen“. Bin ich hochgewachsen, habe ich
überdurchschnittlich lange Beine? Nein, beides trifft nicht zu. Dann noch
ein Blick auf die Körperbehaarung und die Brustdrüsen. Und zum Abschluss:
Hose runter, Abtasten und Messen der Hoden. „Ich benötige eine Spermaprobe
von Ihnen“, sagte er zu mir.
Eine Woche später saß ich wieder in der Praxis, dem Urologen gegenüber. Er
sagte vier Worte. Vier Worte wie ein Schlag ins Gesicht: „Sie haben keine
Spermien.“ Es tue ihm leid, aber auf dem natürlichen Weg sei eine Zeugung
für mich unmöglich. Ich übersetzte für mich: Du schießt mit Platzpatronen.
## Warum ausgerechnet ich?
Ich würde niemals ein leibliches Kind haben. Warum ausgerechnet ich? Ich
war traurig. Um dieses Gefühl zu kompensieren, wurde ich Betreuer bei
Ferienspielen. Die Kinder gaben mir viel. Es machte mich glücklich, wenn
ich sah, wie viel Freude sie hatten, wenn ich mit ihnen Fußball spielte.
Ihre Freude baute mich auf. Sie bauten mich auf.
Ich hatte Angst davor, keine Frau kennenzulernen, die mich so liebt, wie
ich bin. Mit dem zusätzlichen X. Meine damalige Freundin unterstützte mich
zunächst, als ich von der Diagnose erfuhr. Es gab dadurch keinen Bruch in
unserer Beziehung, es gab auch keine Anzeichen dafür.
Später dann, als wir gemeinsam studierten, trennten wir uns. Meine
Zeugungsunfähigkeit war nicht der Hauptgrund, doch es war immer ihr Wunsch,
einmal eigene Kinder zu haben. So ähnlich war es dann drei Jahre später mit
einer weiteren Partnerin. Sie sagte sogar, dass die Zeugungsunfähigkeit mit
ein Trennungsgrund war, aber auch nur einer von vielen.
Ich gab mir bei beiden Trennungen die Schuld. Wieder redete ich mir ein,
nicht männlich genug zu sein. Ich glaubte, bei einem Streit nicht weinen zu
dürfen, meine Freundin beschützen zu müssen – so etwas eben.
## Ein Arzt möchte ein Foto machen
Mein Arzt überwies mich an die Urologie am Uniklinikum Frankfurt. Dort
erzählte ich der Ärztin von der Musterung. Sie stellte mir die gleichen
Fragen wie der Offenbacher Urologe. Ich fühlte mich leer. Wieder sollte ich
mich hinstellen, wieder mein T-Shirt ausziehen, wieder meine Hose
runterlassen. Auch sie tastete meine Hoden ab. „Ich habe eine Vermutung,
doch ich benötige zunächst das Ergebnis Ihres Spermas.“ Sie zog einen
Kollegen hinzu, dessen Spezialgebiet Erkrankungen männlicher
Geschlechtsorgane sei.
Ich stand weiter da, in Boxershorts und mit einem Selbstbewusstsein, das
kaum über den Boden reichte. Die Tränen liefen langsam meine Wangen
hinunter.
Ein Arzt kam herein, schaute mich an und wirkte fast euphorisch. „Stellen
Sie sich doch bitte mal auf diesen Stuhl und breiten Sie Ihre Arme aus“,
sagte er. Ich tat wie gewünscht. Schließlich war er der Experte, meine
Hoden sein Fachgebiet. Und ich wollte endlich erfahren, was mit mir nicht
stimmt.
Er sagte: „Ich habe noch nie jemanden mit Ihrer Figur gesehen.“ Ich könne
das Klinefelter-Syndrom haben. Die Abweichungen meines Körpers und die
Größe meiner Hoden deuteten darauf hin. Aber mit hundertprozentiger
Sicherheit könne er es noch nicht sagen. Dann: „Ich würde gern von Ihrem
Körper ein Foto für meine Studenten machen. Zu Lehrzwecken. Sie müssen das
natürlich nicht tun, aber es wäre wichtig für ihre Ausbildung.“ Ich stimmte
zu.
## Das Klinefelter-Syndrom
Heute bereue ich diese Entscheidung. Ich stand auf diesem Stuhl, beim
mittlerweile dritten Arzt, der sich auch noch darüber zu freuen schien,
dass ich zu kleine Hoden hatte und damit anscheinend der erste lebende
Beweis eines XXY-Mannes war.
Ich verließ das Uniklinikum, und mit jedem Schritt zu meinem Auto breitete
sich diese Leere in mir weiter aus. Ich setzte mich in den Wagen, griff mit
meinen Händen ans Steuer und heulte. Schließlich schickte man mich zum
Fachlabor für Abstammungsbegutachtung nach Frankfurt am Main. Dort wurden
meine Chromosomen untersucht, und nun stand fest: Ich habe das
Klinefelter-Syndrom.
Bis zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 2007 wussten nicht einmal meine Freunde
von meiner Diagnose. Ich weinte viel und fühlte mich krank. Meine Mutter
baute mich auf. „Du hast keine schlimme Krankheit, du bist gesund. Es gibt
viele Menschen auf der Welt, die wirklich krank sind. Du bist es nicht“,
sagte sie oft. Das hat mir geholfen.
Plötzlich sah ich gleichaltrige Männer mit anderen Augen: Haben sie
Bartwuchs? Einen ausgeprägten Adamsapfel? Haben sie stärkeren Haarwuchs an
Armen und Beinen? Ich fühlte mich nicht männlich genug. Ich schämte mich
sogar, kurze Hosen zu tragen. Ich war mir sicher, dass mich jeder Typ
anschaut und denkt: Der ist ja kein richtiger Mann.
Zumindest aber wusste ich jetzt auch, dass es nicht meine Schuld war, dass
ich antriebslos war und Lernschwierigkeiten hatte. Diese Erkenntnis löste
in mir aus, es allen beweisen zu wollen. Ich wollte zeigen, dass auch ein
XXY-Mann Abitur und Studium schaffen kann. Und ich schaffte es.
Vier Jahre nach der Diagnose war ich endlich an der Uni. Ein neuer
Lebensabschnitt begann. Ich verdrängte mein Syndrom, dachte nicht an das
zusätzliche X. Ich verschwendete auch keine Gedanken an eine mögliche
Testosterontherapie. Der Offenbacher Urologe sagte damals, dass eine
Therapie noch nicht nötig sei. Wie falsch diese Information war, erfuhr ich
erst ein paar Jahre später.
## Ein Freund nannte mich „Zicke“
Also lebte ich weiter mit Stimmungsschwankungen, wegen derer ich mich ab
und zu mit zwei Unifreunden in die Haare bekam. Einer von ihnen sagte mal
zu mir, ich sei eine „Zicke“.
Die Vorlesungen erinnerten mich sehr an meine Schulzeit. Ich konnte mich
für maximal 30 Minuten konzentrieren, danach schweifte ich ab, beobachtete
meine Kommiliton*innen.
Manchmal schaute ich mir Männer an, die mir bekannte Merkmale des
Klinefelter-Syndroms aufwiesen. Aber dann hatten sie doch einen
ausgeprägteren Kehlkopf, stärkeren Haarwuchs an den Armen, und ich verwarf
den Gedanken, es könne ihnen ähnlich gehen wie mir. Auch meine Freunde
musterte ich mit diesem Blick. Aber da war nichts. Ich konnte doch nicht
der einzige KS-Mann an der Universität sein.
Mit 26 sah ich immer noch aus wie 18. Manche meiner Kumpels an der
Universität waren fünf Jahre jünger als ich, sahen aber deutlich älter aus.
Es nervte, als 26-Jähriger beim Kauf einer Flasche Wein noch nach einem
Ausweis gefragt zu werden. „Ist das Ihr ernst?“, pampte ich dann des
Öfteren die verdutzten Mitarbeiter*innen an der Kasse an.
Ich wollte endlich, dass sich an mir etwas verändert. Und überlegte, nun
doch mit der Hormontherapie zu beginnen. Im Frühjahr 2013 saß ich wieder in
einer Praxis, diesmal bei einem Urologen in Darmstadt. Ich sagte ihm, dass
ich gern einen normalen Bartwuchs und Muskelaufbau hätte.
Es fühlte sich an, als würde ein Schönheitschirurg vor mir sitzen. Damals
war ich überzeugt, dass eine Behandlung aus gesundheitlichen Gründen nicht
nötig wäre. Der Urologe sah mich etwas fragend, aber auch ernst an. Er
wunderte sich, dass ich nicht schon längst in Therapie war. Sagte, dass die
Therapie mit Testosteron schon in der Pubertät hätte beginnen sollen, wenn
nicht sogar müssen. Warum? Während der Pubertät steigen die Werte von
sogenannten follikelstimulierenden Hormonen (FSH) und luteinisierenden
Hormonen (LH) deutlich an. XXY-Männer haben in der Regel nicht nur geringe
Testosteron-, sondern auch hohe FSH- und LH-Spiegel. FSH ist
mitverantwortlich für die Produktion der Spermien, LH wirkt auf die
Produktion von Testosteron.
Je höher diese Werte sind, desto geringer ist der eigentliche Gehalt des
bis dato noch selbst produzierten Testosteron. Die Therapie kann meine
Chromosomenstörung nicht verhindern, aber sie sorgt dafür, dass mein
Hormonhaushalt funktioniert und ich ein normales Leben führen kann.
## Es ballert fast wie eine Droge
Braunschweig, November 2017. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl umher und
tippe mit meinem linken Fuß im Sekundentakt auf den Boden. „Herr Simon“,
ruft eine junge Frau. Ich blicke auf und folge der Stimme in einen kleinen
Raum. „Sie wissen ja, was Sie machen müssen?“ Ja, ich weiß. Ich ziehe mein
T-Shirt ein Stück nach oben und meine Hose ein bisschen runter. Die Spritze
wird immer oberhalb des Hinterns in den Muskel injiziert. „Nicht
erschrecken, es wird etwas pieksen“, sagt die Arzthelferin zu mir. Die
Spritze enthält 1.000 Milligramm Testosteron. Seit meinem ersten Besuch vor
über zwei Jahren beim Urologen in Darmstadt erhalte ich regelmäßig diese
Dosis.
Zwanzig Sekunden steckt die Spritze in meinem Körper, und mit jeder Sekunde
wird der Schmerz stärker. Ein Schmerz wie starker Muskelkater. Nach 20
Sekunden hat sich das Testosteron, das wie Honig aussieht, seinen Weg
durch meinen Körper gebahnt. Steigt mein Testosterongehalt, werde ich
aktiver. Außerdem beugt das Hormon Krankheiten wie Osteoporose oder
Muskelschwäche vor. Ich ziehe mich an, verabschiede mich und laufe leicht
humpelnd aus der Praxis.
Keine zwei Minuten später wirkt das Testosteron. Es ballert fast wie eine
Droge. Ich wippe nicht mehr mit meinem Bein, wenn ich an der Fußgängerampel
stehe. Im Supermarkt haste ich nicht mehr durch die Gänge oder zähle die
Sekunden an der Kasse, bis ich wieder draußen bin. Ich will nicht sofort
wieder nach Hause, um Netflix zu schauen. Stattdessen laufe ich lieber
durch die Straßen, lege mich auf eine Wiese und genieße die Sonne. Alle
zwölf Wochen geht das so. Alle zwölf Wochen, ein Leben lang.
Heute bin ich nicht mehr eifersüchtig auf meine Freunde. Seit zwei Jahren
trage ich einen Vollbart, baue schneller Muskeln auf, sehe nach all den
Jahren endlich nicht mehr wie ein Teenager aus. Nach meinem Ausweis werde
ich im Supermarkt nicht mehr gefragt.
Seit sechs Jahren bin ich nun in Therapie. Ich sehe nicht nur anders aus,
ich fühle mich auch besser. Doch ich spüre auch Entzugserscheinungen, wenn
die 11. Woche sich dem Ende nähert. Dann werde ich nervöser, und meine
Konzentration nimmt ab. Wie ein Junkie fühle ich mich in solchen Momenten.
Absetzen, clean werden, das kommt für mich nicht infrage. Ich brauche die
Spritze, das Testosteron, dieses Gefühl, wenn auf einmal alles normal wird.
Dass ich heute stolz darauf bin, anders zu sein, liegt nicht nur an der
Testosteronspritze. Es hat auch viel mit meiner Freundin zu tun. Ich kann
mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich ihr von meiner Diagnose
erzählte. Über drei Jahre ist das her, wir saßen in ihrem Zimmer. „Ich muss
dir etwas erzählen“, sagte ich. Sie sah etwas besorgt aus und hielt meine
rechte Hand. Ich erzählte ihr, dass ich keine Kinder zeugen kann, und
davon, was das Klinefelter-Syndrom mit mir macht. Ich weinte, sie nahm mich
in den Arm und fragte: „Ist das alles? Das ist doch nicht schlimm.“
## Ein Mann ist ein Mann ist ein Mann
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, nervt mich meine Figur manchmal noch
immer. Aber ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, ob ich jetzt ein
„richtiger Mann“ bin oder nicht. Weil auch die vielen Gespräche mit meiner
Freundin über kritische Männlichkeit und Feminismus meine Sicht darauf
verändert haben.
Heute ist mir bewusst: Ich wurde von einem Männlichkeitsbild beeinflusst,
das unsere Gesellschaft kreiert hat. Aber ein Mann ist auch ein Mann, wenn
er weniger Muskeln oder Bartwuchs hat.
Nur dann, wenn ich Männer sehe, die im Sommer mit freiem Oberkörper Frisbee
im Park spielen, will ich ihnen oft zurufen: „Sei froh, dass deine Hormone
nicht durchdrehen. Schätze es, dass du gesund bist und Kinder in die Welt
setzen kannst.“ Meine Freundin beruhigt mich in diesen Momenten: „Du bist
wunderbar, so wie du bist. Mach dir darüber keinen Kopf. Außerdem weißt du
doch nicht, welche Probleme diese Typen vielleicht haben.“ Sie hat recht.
Oft sitzen wir beide zusammen auf dem Sofa, wenn ich am Wochenende bei ihr
in Frankfurt bin. Dann trinken wir Bier, rauchen und spielen Karten. „Ich
fand die Reaktion von deiner Mitbewohnerin gestern vor dem Club schon
daneben. Ich wollte doch nur den Streit zwischen ihr und dem Türsteher
schlichten“, sage ich. „Ja, aber ich kann sie schon verstehen. Du solltest
in solchen Situationen lieber kurz nachdenken und entscheiden, welche
Reaktion angemessen ist“, sagt sie.
## Biologisch bin ich intersexuell
Ich war am Abend zuvor in einem Streit zwischen der Mitbewohnerin und dem
Türsteher dazwischengegangen. Das fand sie nicht gut, Frauen sollten für
sich sprechen. Auch durch solche Situationen fing ich an, über den
Unterschied zwischen biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht
nachzudenken.
Biologisch gesehen bin ich intersexuell. Ich könnte also meinen Eintrag
im Geburtenregister ändern lassen, zur Option „drittes Geschlecht“. Bisher
scheue ich mich davor. Ich fühle mich als Mann.
August 2018. Zurück am See, wo die Sonne ohne Unterlass weiter brennt. Ich
lege ein Handtuch schützend über meinen Kopf, dann spüre ich die nassen
Haare meiner Freundin, die sie meinem Arm entlanggleiten lässt.
„Das fühlt sich so gut an“, sage ich zu ihr. Ich will ins Wasser und
versuche, mich zu überwinden: Gib dir einen Ruck, geh ins Wasser, stell
dich doch nicht so an. Wer soll schon Notiz von dir nehmen? Dann stehe ich
auf und blicke mich um. Guckt mich jemand an? Starrt jemand auf meinen
Körper? Nein, niemand tut das.
Ich laufe den Weg runter zum Ufer an vier Jugendlichen vorbei, die
herumalbern und mich gar nicht beachten. Ich laufe durch das seichte Wasser
bis ich den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren kann. Ich schwimme
ein paar Züge. Dann drehe ich mich auf den Rücken, blicke in den blauen
Himmel, schließe die Augen und lasse mich treiben.
2 May 2019
## AUTOREN
Stefan Simon
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Intersexuelle
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Geschlechtsidentität
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