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# taz.de -- Albanien und die EU: Die verkannte Nation
> Unendlich cool: Albanien könnte Europa noch etwas mehr Gelassenheit
> lehren. Warum es falsch wäre, dem Land die EU-Mitgliedschaft zu
> verwehren.
Bild: Einer der Gründe, warum Albanien Probleme beim EU-Beitritt hat: Drogenha…
Es ist, als betrete man das unentdeckte Italien, als sei man in
Griechenland gestrandet, derweil man sich inmitten des unterschätzten
Balkan befindet: [1][Albanien muss man sich als kulturellen Hybrid, als
buntes Zwischen, vorstellen]. Nachdem das Land am Mittelmeer schon seit
Jahren auf den Eintritt in die Europäische Union hofft, hat es just von
einigen westlichen Regierungschefs zumindest eine vorläufige Absage
erhalten.
Dabei sprechen inzwischen mehr und mehr begründete Argumente für dessen
Aufnahme in den Staatenbund. Wer dieses touristisch bislang nur in kleinen
Teilen wirklich erschlossene Land besucht, begegnet gleich mehreren
Albaniens: Da ist der sonnengeflutete Süden mit seinen herrlichen Stränden
zwischen Saranda und Himarë, wo das Wasser bis zum Grund transparent
bleibt, oder der Norden mit seinem Gebirge, in dessen Täler man allenfalls
mit guten Geländewagen gelangen kann. Ganze Naturstriche sind unbewohnt,
ganze Seen sind in den Reiseführern nicht vermerkt.
So vielfältig die Landschaft, so differenziert fallen indes die
Lebensverhältnisse aus. Trifft man in Tirana oder Elbasan schon auf ein
westliches Lebensgefühl, dominieren in der Provinz teils noch archaische
Strukturen. Hirten wohnen in kleinen Verschlägen bei ihren Schafen, Imker
verkaufen unmittelbar an den Straßen neben ihren Bienenstöcken frischen
Honig. Es gibt offenbar viel Armut.
## Das Prinzip Gelassenheit
Dass das Zusammenleben trotzdem weitestgehend gelingt, [2][ist ein
kulturelles Glanzlicht], das gerade für ein polyfones, allzu oft
zerstrittenes Europa erhellend sein könnte. Das Prinzip lautet
Gelassenheit. In Albanien wartet man – ob als Tischler vor der eigenen
Werkstatt, als Maisverkäufer an der Autobahn oder als Betreiber von
tatsächlich unzähligen Tankstellen. Gelassenheit stellt ebenso die
maßgebliche Haltung in Fragen der Religionen dar.
Obwohl der säkulare Mittelmeerstaat mehrheitlich muslimisch geprägt ist,
fällt dies einem indoeuropäischen Reisenden kaum auf. Ja, man hört die
Muezzins und sieht allenthalben Moscheen, genauso wie christliche Kirchen.
Viele Menschen pflegen eine moderne, undogmatische Façon de vivre. Frauen
mit Kopftüchern kann man in manchen Regionen gar an einer Hand abzählen.
Warum sich allzu viele Probleme machen, wenn es auch so geht – so das Credo
der meisten Albaner. Stay cool, setz dich zu uns. Selbst vor der billigsten
Kaschemme kann der Albaner abends glücklich sein, solange er sich in
Gesellschaft befindet.
## Brücken schlagen
Es ist eine Kultur der unkomplizierten Versöhnlichkeit, eine, die Brücken
zu schlagen vermag über religiöse, ethnische und ökonomische Grenzen
hinweg. Das Mediterrane und Osmanische, italienische Mondänität und alter
Postsowjetcharme treffen aufeinander. Sicher könnten die europäischen
Völker einiges von dieser kleinen, selbstgenügsamen und offenherzigen
Nation lernen.
Umgekehrt bietet ein Beitritt immer auch die Chance, dem neuen Mitglied
basale Grundsätze des westlichen Zusammenlebens zu vermitteln.
Demokratisierung, Bekämpfung der Korruption, Ausbau der Rechtsstaatlichkeit
verhelfen der Europäischen Union zu einer größeren Reichweite und festigen
die Übergangszone zum Nahen Osten.
Und wer beispielsweise effektiven Klimaschutz als paneuropäische Ambition
auffasst, kann mithilfe der Erweiterung tatsächlich wichtige Erfolge
erzielen. Denn zu den größten Problemen Albaniens gehört zweifelsohne die
eklatante Umweltverschmutzung. Man fährt durch die schönsten Landschaften
und wird stets durch allgegenwärtige Müllberge desillusioniert.
Plastikberge, Schutt, alte Autoreifen. Aufklärungsarbeit, Investitionen in
die Infrastruktur und Reformen sind also dringend vonnöten.
Dies betrifft im Wesentlichen auch die Bildung. Ein schlecht ausgebautes
Schulsystem sowie unzureichende Forschungskapazitäten an Hochschulen und
Universitäten lähmen Entwicklungsprozesse auf zahlreichen Ebenen. Kurzum:
je weniger das Land in seine Köpfe investiert, desto weniger wird es den
Übergang in eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft schaffen
(obgleich – das nur am Rande – das Netz in vielen Regionen besser ausgebaut
ist als in Deutschland.)
Hinzu kommt: Nur auf diesem Weg können die im Land ausgebildeten Fachkräfte
auch zum Bleiben bewegt werden. Derzeit wandern etwa zu viele Ärzte in
westeuropäische Staaten aus. Gerade der Jugend fehlt die Perspektive.
Daraus folgen Abwanderung und eine bedenkliche demografische Entwicklung.
Überaltete Dorf- und Familienstrukturen zeichnen in manchen Regionen ein
trauriges Bild.
## Deutliche Erfolge bei Menschenrechten
Und doch hat der Staat in den vergangenen Jahren vieles geleistet. Aus dem
EU-Report 2019 gehen deutliche Erfolge hervor, insbesondere was die
Ratifizierung der meisten Menschenrechtskonventionen, die „entschlossene
Umsetzung weitreichender Justizreformen (einschließlich des Aufbaus von
Institutionen für die Selbstverwaltung der Justiz)“ und die Erhöhung der
Wirtschaftskraft anbetrifft.
Was jedoch all die erfreuliche Leistungsbilanz nach wie vor eintrübt, ist
der noch immer intensive Drogenhandel und -anbau. So stelle Albanien etwa
„zunehmend ein Transitland für Kokain und Heroin“ dar. Beklagt wird darüb…
hinaus die noch immer zu weit verbreitete Korruption, die weiterhin „Anlass
zur Sorge“ gäbe.
So fordert die EU-Kommission in ihrem aktuellen Bericht allen voran, dass
das öffentliche Beschaffungswesen transparenter werden muss. „Albanien“, so
der Einstieg und vielleicht auch das Fazit des Berichts, „hat das
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen weiter umgesetzt“.
## Albanien liegt mitten in Europa
Durch die Beitrittsgespräche ist es der EU bereits gelungen, zur
Verbesserung der Lebensverhältnisse und einer demokratischen Kultur
beizutragen. Dadurch hat sie die nachhaltige Kontrolle übernommen. Nun
sollte sie auch zu ihrem Versprechen stehen und dem Kandidatenland eine
Perspektive aufzeigen. Nicht zuletzt die eigenen sicherheitspolitischen
Erwägungen sollten Skeptiker wie Macron & Co zum Nachdenken bewegen. Denn
sowohl Albanien als auch Mazedonien liegen mitten in Europa.
Sollte etwa der türkische oder russische Einfluss, wenn zum Beispiel die
Beitrittsverhandlungen weiter ins Stocken geraten, zunehmen oder die innere
Stabilität ins Wanken geraten, könnten Schieflagen und Probleme in dieser
geopolitischen Lage auch auf Nachbarstaaten übergreifen oder diese in
Bedrängnis geraten. Europa muss ein veritables Interesse an einer
gefestigten Balkanregion haben. Und vielleicht könnte die EU gerade in
ihrer aktuellen Vertrauenskrise unter Beweis stellen, wie ernst es ihr mit
Werten wie Solidarität, Dialog und Freiheit ist.
15 Nov 2019
## LINKS
[1] /Protest-gegen-Theaterabriss-in-Albanien/!5636975
[2] /Besetzung-des-Theaters-in-Tirana/!5613789
## AUTOREN
Björn Hayer
## TAGS
Albanien
Europäische Union
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