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# taz.de -- Volksmusik aus Albanien: Ein Wink mit dem Taschentuch
> Saze berührt alles zwischen Liebe und Tod. Sie ist ein kollektives
> Lamentieren nah am Blues, bei der Band Saz'iso kippt sie fast in
> balkanisches Jodeln.
Bild: Manchmal jodeln sie fast: Die albanische Band Saz'iso
Dass Volksmusik aus dem Land der Skipetaren zunächst einmal fremd wirkt und
sehr melancholisch, hatte ich erwartet. Nicht aber das Unwiderstehliche,
das in diesem balkanischen Stimmen- und Klanggeflecht schon nach dem
zweiten, dritten Hören zum Vorschein kommt. Wann ist mir das zuletzt mit
sogenannter Weltmusik passiert? Vielleicht bei „Le mystère des voix
bulgares“ vor gefühlten hundert Jahren. Das vorliegende Phänomen trägt den
Namen Saze: eine iso-polyphone Musik, die nur im Süden Albaniens und im
nordwestgriechischen Epirus existiert und seit 2005 zum immateriellen
Unesco-Weltkulturerbe gehört.
Rückblende: 1988 bekam der Musikproduzent Joe Boyd Besuch von einem
Lautenspieler namens Enzo Puzzovio, der ihm einen fangfrischen
Videomitschnitt vom albanischen Folklorefestival in Gjirokastra übergab.
Einigermaßen sensationell für die Zeit, wie war der Mann überhaupt da rein-
und wieder rausgekommen? Und was für eine sensationelle Musik hatte er da
aus dem verbunkerten Land geschmuggelt?
In London war der US-Amerikaner Boyd schon lange eine Instanz. Er hatte
dort Anfang der 1960er Jahre die Karrieren von Pink Floyd, Fairport
Convention, Nick Drake usw. angeschoben, alles nachzulesen in seinem
großartigen Buch „White Bicycles“. Nun aber war Boyd nur ganz kurz ganz Ohr
für diese, zugegeben, sensationellen südalbanischen Weisen, denn Auf- und
Ausbau seines Hannibal-Labels forderten den ganzen Mann.
Und wenn er neuen Schätzen nachhorchte, dann doch eher in New Orleans oder
auf Kuba. Dort nahm er 1995 „Cubanismo“ auf, gemeinsam mit dem Tontechniker
Jerry Boys, der gleich danach erneut nach Havanna bestellt wurde, um im
selben Egrem-Studio für Ry Cooder „Buena Vista Social Club“ einzuspielen.
## Zweifelhafte Pracht
Die 35.000-Einwohner-Stadt Gjirokastra thront an einem Berghang über dem
Drinos-Tal im Süden Albaniens und ist auf den ersten Blick so
atemberaubend, wie es sich für einen Weltkulturerbe-Ort gehört: osmanische
Wohntürme, eine türkische Moschee, ein pittoreskes Fußballstadion. Bei
näherem Hinsehen aber eine durchaus zweifelhafte Pracht: Denn für jedes
alte Juwel, das noch aufwendig saniert werden kann, zuletzt das Geburtshaus
des Schriftstellers Ismail Kadare, sacken drei andere wohl für immer in
sich zusammen.
Doch die Kulissen von Kadares Gjirokastra-Roman „Chronik in Stein“ sind
noch gut begehbar, und die historische Begleitmusik erklingt im großen Stil
nach wie vor verlässlich alle fünf Jahre auf dem Festival, wie schon zu
Zeiten Enver Hoxhas. Hier ist Joe Boyd 2015 dann tatsächlich hingepilgert
und hat sich jedes einzelne der über 40 Ensembles aus ganz Albanien und
vielen Exklaven angehört, die eine Woche lang die Burg hoch über der
Altstadt bespielten, nicht wenige von ihnen mit iso-polyphoner Musik. Und
selbstverständlich war auch ein gewisser Enzo Puzzovio wieder zugegen.
Unter iso-polyphoner Musik versteht man einen mehrstimmigen Gesang
eigenständiger Stimmen, die um ein tonales Zentrum herum geführt werden.
Seine Ursprünge gehen auf eine alte Form der Totenklage zurück, ein
kollektives Lamentieren. Same-Musik kombiniert diesen Gesang mit einem
Instrumental-Ensemble, das dieses Muster gleichsam verdoppelt. Erst im
späten 19. Jahrhundert, als viele Albaner vom Land in die Städte
übersiedelten, stießen die damals neuartigen Geigen und Klarinetten zu den
menschlichen Stimmen dazu und wetteiferten mit ihnen um den besten Ausdruck
für alles zwischen Liebe und Tod.
Da wäre einmal mehr der vielstrapazierte Blues-Vergleich nicht weit, doch
als Teil der albanischen Volkskultur wurde die Iso-Polyphonie von ganz
oben, auch von Hoxha persönlich gefördert, ja, beinahe verordnet. Nach
seinem Tod 1985, spätestens jedoch nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Systems 1991, verlor sie rasch ihr Ansehen und drohte gar,
in Vergessenheit zu geraten. Selbst die Bekanntheit wichtigster Musiker
schrumpfte auf lokale Bedeutung, viele von ihnen wanderten aus. Von der
jüngeren albanischen Musikergeneration ist hierzulande wohl am ehesten
Elina Duni bekannt, die seit 1992 in der Schweiz lebt, zwischen Jazz und
Singer/Songwriter changiert und bei ECM und anderen Labeln veröffentlicht.
## Idealtypisches Orchester
Dass sich jetzt in Saz’iso ein geradezu idealtypisches – und im Unterschied
zu Duni explizit folkloristisches – albanisches Orchester zusammengefunden
hat, ist einigen überraschenden Begegnungen und Zufällen geschuldet. Und
der Tatsache, dass Joe Boyd nach seiner Albanienreise an der Materie
dranblieb und zusammen mit den ortskundigen Koproduzentinnen Edit Pula und
Andrea Goertler Nägel mit Köpfen machte: Adrianna Thanou ist mit ihrem
subtilen Timbre eine der führenden Saze-Sängerinnen, war zuvor in der
Athener Diaspora aber zwei Dekaden lang nur noch sporadisch aufgetreten.
Auch Donika Pecallari war nach Griechenland emigriert, jedoch für wichtige
Festivals immer wieder nach Albanien zurückgekehrt – wenn es sein musste
auch illegal über die Berge. Ihre Stimme, virtuos und kraftvoll, ist die
einer Anführerin. Robert Tralo, der die Pecallari schon 1983 in Gjirokastra
begleitet hatte, brach in den 1990ern seine Gesangskarriere zugunsten eines
orthodoxen Priesteramts ab, das er heute trotz Wiederaufnahme der Musik
weiterhin ausübt.
Geiger Aurel Qirjo lebt in London, Klarinettist Telando Feto, Lautenist
Agron Murat und Trommler Agron Nasi sind Musiklehrer, Instrumentenbauer und
Mitglieder des Skanderbeg-Ensembles in der Kleinstadt Korça. Flötist
Pëllumb Meta schließlich ist Autodidakt, beherrscht alle albanischen
Musikstile und schneidert nebenher auch noch Trachten. Als Projektberater
für das Repertoire wurde schließlich der Musikethnologe Vasil S. Tole
hinzugezogen, der alles verfügbare Material über Saze erforscht und
inventarisiert hat. Sein Anteil am Gelingen des Ganzen dürfte beträchtlich
sein und erstreckt sich bis in die nützlichen Erläuterungen im CD-Booklet.
Was Saz’iso aufführt, ist tatsächlich ein kollektives Lamentieren: Die
melodieführende Stimme prescht vor, eine zweite antwortet, die dritte fängt
beide wieder ein. Geige und Klarinette doppeln nach, gesichert von Laute
und Trommel. Man hört, wie der Klarinettist das Mundstück bearbeitet, wie
der Geiger die Obertöne sucht und findet, wie die Sänger vor keiner
Stimmbandstrapaze zurückschrecken.
## Fast schon balkanisches Jodeln
Das ansteckend Musikantische ist jederzeit in Reichweite, aber in der
konzertanten Darbietung arbeiten alle mit Hingabe am Ensembleklang. Der ist
aber keineswegs durchgängig auf Klage getrimmt, was man nach ein paar
Klicks im Netz sehr hübsch in einer Videoschleife demonstriert bekommt:
Nach einem kurzen BBC-Konzertmitschnitt von der letztjährigen England-Tour,
bei dem Robert Tralo im strengen Habit auf der Bühne steht, folgen einige
derb-volkstümliche Minuten von der Backstageparty. Hier wird im Verein mit
ein paar Dutzend Heimwehalbanern ein Lied nach dem anderen geschmettert,
angeführt vom nun sehr weltlich aufgeknöpften und über das ganze Gesicht
strahlenden Tralo und einer Pecallari, die fast ekstatisch phrasiert und
dabei auch schon mal in männliche Gesangsregister vorstößt. Es fehlt nicht
viel, und ihre Stimme würde in balkanisches Jodeln überkippen.
Um diese Musik auch für den Rest der Welt dingfest zu machen, mussten Boyd,
Pula und Goertler ziemlich viele richtige Leute zur richtigen Zeit am
richtigen Ort zusammentrommeln. Sie wollten ein Studiosetting wie für eine
Aufnahme von Blue Note oder der Deutschen Grammophon. Also organisierten
sie das ehrwürdige Kinostudio in der Marubi-Filmakademie in Tirana und
richteten es mit ein paar Wohnzimmermöbeln, Teppichen und Stehlampen
gemütlich ein. Der Tonmeister Jerry Boys trieb die weltbesten Mikrofone auf
und platzierte sie so goldrichtig, wie das eben nur wenige können. Das
erste Album von Saz’iso heißt übersetzt: „Wink mir wenigstens mit dem
Taschentuch! Freude und Leid im südalbanischen Song“.
Was im Titel fast ein wenig verschämt nach Volkshochschule klingt, ist das
Dokument einer musikalischen Sternstunde. Das Klangbild der Allstar-Band
ist perfekt, bei den meisten Stücken reichte laut Jerry Boys schon der
erste oder zweite Take. Die Färbungen in den Stimmen und die Nuancen der
Instrumentalsoli zeugen von einer großer Könnerschaft ohne jede
selbstverliebte Mätzchen, aber auch von einer bezwingenden Einfachheit, als
hätte Saze in Reinkultur einen verborgenen popmusikalischen Kern – ein
wenig wie einst bei jenem „Geheimnis der bulgarischen Stimmen“.
Was Marcel Cellier in der Folge sogar einen Grammy einbrachte oder bei
„Buena Vista“ auch über ein geniales Marketing zum Welterfolg avancierte,
wurde hier erst einmal ganz bescheiden via Crowdfunding gestartet, im
Herbst 2017 auf dem deutschen Glitterbeat-Label veröffentlicht und zieht
nun langsam seine Kreise. Ry Cooder hat schon mal verlauten lassen, das sei
„Musik gegen den modernen Hochgeschwindigkeitsirrsinn“ und sie habe „deep
soul“.
20 May 2018
## AUTOREN
Andreas Schäfler
## TAGS
Albanien
Volksmusik
Blues
Albanien
Abenteuerliche Musik
Schwerpunkt Eurovision Song Contest
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