# taz.de -- 70. Geburtstag von Peter Handke: Der literarische große Bruder | |
> In den siebziger Jahren ging Peter Handke dem jungen Stephan Wackwitz | |
> eher auf die Nerven. Heute sieht er ihn als seinen Klassiker. Eine | |
> Hommage. | |
Bild: Handke, mein Bruder! | |
Peter Handke ist derjenige (und der einzige) Schriftsteller, dessen Anfänge | |
als Schreiber mit meinen Anfängen als Leser in eins fallen und der mich | |
deshalb mein ganzes Leserleben lang so durchgehend interessiert hat wie | |
kein anderer, eine Art literarische Großer-Bruder-Gestalt also. Er ist, | |
glaube ich, der Klassiker meiner Generation. Jedenfalls ist er mein | |
Klassiker. | |
Sein Debüt, den Suhrkamp-Band „Die Hornissen“, hatte damals im Internat | |
Schöntal ein Kamerad aus den Ferien mitgebracht, der heute Redakteur einer | |
regionalen Zeitung im Schwäbischen ist und das Buch mit großem | |
Demonstrativgenuss und unter allgemeinem Distinktionsgewinn las. Oder | |
jedenfalls zu lesen vorgab. Viel ernsthafte Lektüre in diesem Alter ist ja | |
Renommierlektüre. | |
Es war die Zeit von „Blow Up“, „2001: Odyssee im Weltraum“, die Zeit des | |
„White Album“. Und ich kann mich an einen Satz erinnern, den er uns aus den | |
„Hornissen“ vorlas und den ich noch weiß (oder zu wissen glaube), obwohl | |
ich nie mehr kontrolliert habe, ob er bei Handke wirklich so steht: „Oft im | |
November fällt am Morgen schon Schnee.“ Das seien Daktylen, kommentierte | |
der heutige Redakteur bescheidwisserisch. Er hatte recht, glaube ich. | |
„Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ habe ich mir seinerzeit dann | |
zusammen mit H. C. Artmanns „Fleiß und Industrie“ zu Weihnachten gewünsch… | |
Das war so der Kontext. Man kaufte und las Handkes experimentelle Anfänge | |
damals parallel zu Büchern wie Oswald Wieners „die verbesserung von | |
mitteleuropa“, das mir aber besser gefiel als Handke, vor allem deshalb, | |
weil unser Deutschlehrer diesen Roman noch nicht kannte und wir ihm deshalb | |
voraus waren. | |
## Handke als Hobby | |
Unser damals avanciertester revolutionärer Kader (er ist heute Lehrer an | |
einer Privatschule) urteilte dann über die Anteilnahme des Lehrpersonals an | |
unserer Lektüre des neuen literarischen Popstars, wie es seine Gewohnheit | |
war, nämlich vernichtend-abschließend. Handke sei das „Hobby der | |
Oberstudienräte“. Womit der Mann aus Österreich für mich erst mal ziemlich | |
erledigt war. Übrigens waren wir mit dem damals erstaunlichen – in der | |
überwiegend auf Populärkulturkritik gebürsteten Gruppe 47 unerhörten – | |
Interesse Handkes an Film und Popmusik so einig, dass es uns seinerzeit gar | |
nicht aufgefallen ist. | |
Und das Kellertheater Blaubeuren nahm die „Publikumsbeschimpfung“ in ihr | |
Repertoire, wobei die eigentliche Sensation meiner Erinnerung nach darin | |
bestand, dass die achtzehnjährige Tochter des Gründer- und Besitzerehepaars | |
mitspielte und ich folglich jedes Mal hinging, wann immer ich in den Ferien | |
zu Hause war. | |
In den siebziger Jahren ließ mein Interesse an Handke dann erst mal nach. | |
Ich interessierte mich damals eigentlich überhaupt nur noch für die | |
Weltrevolution. Wenn ich in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ oder | |
„Der kurze Brief zum langen Abschied“ gelegentlich hineinsah, fand ich, | |
dass die Figuren so gestelzt und künstlich sprachen wie die in Faßbinders | |
Filmen, und das ging mir auf die Nerven. Handkes Film „Falsche Bewegung“ | |
habe ich damals rezensiert für den Roten Faust, die Sektionszeitung | |
Anglistik/Romanistik/Germanistik des MSB Spartakus in Stuttgart. Ein | |
Totalverriss, versteht sich. | |
Richtig aufgehorcht und wieder Handke-Bücher gekauft habe ich dann erst | |
wieder in den achtziger Jahren, als der Revolutionsspuk vorbei war und die | |
große Tetralogie der kleinen Romane mit dem Dramatischen Gedicht als | |
Abschluss herauskam. Damals träumte ich, mein bester Freund aus der | |
Internatszeit (er ist heute Musikkritiker) habe das glühend von mir | |
bewunderte erste und eponyme Buch der „Langsamen Heimkehr“-Serie | |
geschrieben. Worin sich meine damals sehr virulenten schriftstellerischen | |
Ambitionen diskret, nämlich in der Traumverschiebung, kundtaten. | |
## Handke und Serbien | |
Mit diesen langen, schwingenden, in der deutschen Gegenwartsliteratur bis | |
dahin noch nie vernommenen Sätzen begann dann mein eigentliches, das | |
erwachsene Handke-Leser-Leben, das heute noch andauert. Und Handke | |
verschaffte mir damals – allein das würde ich ihm nie vergessen dürfen – | |
die Bekanntschaft mit den Büchern von Hermann Lenz (eine andere | |
Geschichte). | |
Nichts nimmt das deutschsprachige Lesepublikum so übel wie das Pfeifen auf | |
politische Korrektheit. Und so steht Handkes in mehrfacher Hinsicht | |
diskussionswürdiges Engagement für Serbien seit den neunziger Jahren | |
zwischen ihm und dem halben Land. Er ist schon längst nicht mehr das Hobby | |
der Oberstudienräte. Dabei ist seinerzeit wenig beachtet worden, dass | |
Handke bereits in seinem ersten „serbischen“ Aufsatz dezidiert | |
literaturgeschichtliche Spuren ausgelegt hat, die seine politische Empörung | |
poetisch statt politisch erklärbar gemacht hätte, wenn man genauer gelesen | |
und hingesehen hätte. | |
Er verweist nämlich im „Abschied des Träumers vom neunten Land“ auf Hugo | |
von Hofmannsthals „Briefe des Zurückgekehrten“ von 1907, eine erfundene | |
Korrespondenz aus dem gedanklichen Umfeld des „Chandos-Briefs“. Es fragt | |
sich sehr, ob Handkes Serben-Rappel eigentlich eine politische Erregung | |
gewesen ist oder nicht eher eine dingmetaphysische und poetische | |
Intervention in den politischen Diskurs, eine Art provokatorischer | |
Lord-Chandos-Stilbruch. Der Versuch, unpolitisch über Politik zu reden. | |
Schon jene „Gerechtigkeit“, die er für Serbien forderte, ist ja kein | |
politischer Begriff, sondern ein metaphysischer. | |
Man erinnert sich bezeichnenderweise an den Reiseessay der Süddeutschen | |
Zeitung, mit dem der Radau seinerzeit losging, dann heute auch nur noch | |
anhand eines poetischen und ein bisschen skurrilen Adjektivs, schön und | |
zugleich ganz zart unfreiwillig komisch, wie so vieles bei Handke. Ich | |
jedenfalls kann nicht behaupten, dass ich von diesem langen Artikel etwas | |
anderes noch im Kopf hätte als jene berüchtigte Formulierung von den | |
„andersgelben Nudelnestern“. | |
## Andersgelbe Nudelnester | |
Und vielleicht noch eine ebenfalls seltsam eindrückliche, aber weniger im | |
Formulierungsdetail memorierbare Beschreibung improvisierter Tankstellen am | |
serbischen Straßenrand, die den Treibstoff angeblich erkennbar machten als | |
dickflüssigen „Bodenschatz“. Vom politischen Handke dieser Monate ist heute | |
nichts mehr übrig als zwei Stilfiguren. Er ist ist fünfzehn Jahre später | |
nur doch „Der Mit Den Andersgelben Nudelnestern“. | |
Hoffmannsthals Lord Chandos und der späte Heidegger bilden den | |
intellektuellen Kontext von Handkes Politik, nicht Slobodan Milosevic und | |
Joschka Fischer. „Wie gegenständlich aber wurden dafür mir durch die Jahre, | |
gleich beim wiederholten Überschreiten der Grenze, die Dinge in Slowenien: | |
Sie entzogen sich nicht – wie das meiste inzwischen nicht bloß in | |
Deutschland, sondern überall in der Westwelt –, sie gingen einem zur Hand. | |
Ein Flussübergang ließ sich spüren als Brücke; eine Wasserfläche wurde zum | |
See, der Gehende fühlte sich immer wieder von einem Hügelzug, einer | |
Häuserreihe, einem Obstgarten begleitet, der Innehaltende dann von etwas | |
ebenso Leibhaftigem umgeben, wobei das Gemeinsame dieser Dinge die gewisse | |
herzhafte Unscheinbarkeit gewesen ist, eine Allerwelthaftigkeit: eben das | |
Wirkliche, welches wie wohl nichts sonst jenes Zuhause-Gefühl des ’Das ist | |
es, jetzt bin ich endlich hier!‘ ermöglicht.“ Richard Rorty hat | |
geschrieben, eine demokratische Gesellschaft zeichne sich dadurch aus, dass | |
sie Dichtern und Revolutionären das Leben so schön wie möglich mache – und | |
gleichzeitig sicherstelle, dass sie umgekehrt der Gesellschaft das Leben | |
nur mit Büchern und Visionen schwer machen können statt durch politische | |
Taten. | |
Eine Demokratie sollte so auch mit Handkes dingmetaphysischer Politik | |
umgehen. Goethe war für Napoleon. Das war damals mehr als politisch | |
unkorrekt, es war geradezu schon Landesverrat. Voltaire verhaftet man | |
nicht, und Voltaire zerrt man auch nicht vor die Wohlfahrtsausschüsse der | |
politischen Korrektion. Das Getümmel um den Heine-Preis und vieles andere | |
dieser Art ist unwürdig gewesen. | |
## Der große Bruder | |
Neulich hat mir wieder von Handke geträumt. Er stand plötzlich neben einem | |
im Freien aufgestellten Kaffeetisch, um den meine Familie saß (die ich nur | |
zu diesem Anlas im Traum noch einmal so vollständig versammelt habe, wie es | |
sie längst nicht mehr gibt). Er hatte ein nachtblaues Baumwollhemd von | |
Yohji Yamamoto an und einen Gegenstand in der Hand, den ich erst für eine | |
Orange hielt, der sich dann aber als kleiner roter Plastikball entpuppte. | |
Wir waren alle so alt wie in den siebziger Jahren, und Handke flirtete ein | |
bisschen mit meiner kleinen Schwester. Mit mir ließ er sich auf einen | |
spielerischen Boxkampf ein. Wir lachten alle. Es war ein glücklicher und | |
friedlicher Traum. Er war in diesem Traum wirklich der große Bruder, den | |
ich nie hatte. | |
Nein, es besteht auf den zweiten Blick überhaupt kein Zweifel. Handke ist | |
unser Klassiker. Von welchem anderen Gegenwartsschriftsteller hätte ich | |
jemals geträumt? Ich und meine Klassenkameraden aus dem Internat Schöntal | |
(wo und was sie jetzt auch immer sein mögen) gratulieren ihm herzlich zum | |
Siebzigsten (meine Güte, ist das alles schon so lange her?), zusammen mit | |
dem ganzen Land. Oder zumindest mit dem halben. Denn umstritten war Goethe | |
zu seiner Zeit, im 19. Jahrhundert, auch. Auf Klassiker konnten sich in der | |
deutschen Literaturgeschichte selten alle einigen. Und das, verdammt noch | |
mal, sollen sie auch gar nicht. | |
6 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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