| # taz.de -- Regie-Newcomer Ersan Mondtag: „Theater ist ein Zaubervorgang“ | |
| > Ersan Mondtag inszeniert Michel Decars neues Stück „Schere Faust Papier“ | |
| > im Hamburger Thalia Theater | |
| Bild: Unscharf bleibt, worum es geht: Vorankündigungsfoto zu „Schere, Faust,… | |
| taz: Ersan Mondtag, Sie wurden für ihre wortlose Kasseler Produktion | |
| „Tyrannis“ von den Kritikern der Zeitschrift Theater heute zum | |
| Nachwuchsregisseur, Nachwuchsbühnenbilder und -kostümbilder des Jahres | |
| gewählt. Zugleich gab es zwischen dem Staatstheater Kassel und Ihnen Zoff. | |
| Sind Sie ein Theater-Rebell? | |
| Ersan Mondtag: Wenn man in diesem Theaterbetrieb überleben will, muss man | |
| Forderungen stellen. Die Betriebe sind so festgefahren und haben bestimmte | |
| Vorstellungen, dass man Forderungen stellen muss, wenn man, vor allem als | |
| junger Mann, ästhetisch etwas durchsetzen will. Das führt immer zu | |
| Konflikten. Ich habe auch Spaß daran, mich zu streiten. Ich freue mich, | |
| wenn ich mich aufregen, ein bisschen entäußern kann. Das können sonst nur | |
| die Schauspieler tun. | |
| Ihre Inszenierungen gelten als unkonventionell, aber auch als vage. Manche | |
| bezeichnen sie als „enigmatisch“. | |
| Mondtag: Für uns ist das, was auf der Bühne passiert, gar nicht vage. Ich | |
| könnte jeden Blick, jede Richtung erklären. | |
| Die Stückbeschreibung zu Michel Decars „Schere Faust Papier“, das Sie nun | |
| uraufführen, ist aber auch rätselhaft: „Umgeben von einer Vielzahl von | |
| Wörtern und Sätzen, Überschriften und Namen, Reihen und Listen gilt es, aus | |
| der Fülle der Welt zu tieferer Einsicht und brauchbaren Ergebnissen zu | |
| kommen.“ Worum geht es? | |
| Ersan Mondtag: Der Abend zeigt Muster in der Menschheitsgeschichte. | |
| Bestimmte Motive tauchen immer wieder auf, werden von den Figuren immer | |
| wieder durchlebt. Und wenn man sich fragt, wo wir innerhalb dieses Zyklus | |
| stehen, dann bekommt man plötzlich Angst, weil man erkennt, dass jetzt | |
| eigentlich der Vernichtungsmoment kommen muss. Und man stellt sich die | |
| Frage, ob man diesem Muster nicht entkommen kann. | |
| Decars Welt ist eine der Wörter und Sätze. Sie sind aber eher dafür | |
| bekannt, den Text eines Stückes nicht so ernst zu nehmen. | |
| Mondtag: Das ist stückabhängig. Ich nehme den Text schon ernst. Ich | |
| beschäftige mich immer mit Sprache, natürlich ist Sprache auch mal | |
| abwesend. Oder ich versuche, eine Form für Sprache zu finden. | |
| Max Andrzejewski: Aber es wird bei dir nie etwas 1:1 nacherzählt. Dein | |
| Umgang mit dem Theatertext ist meist fragmentarischer und freier. | |
| Ihre Erklärweise ist jedenfalls eher abstrakt. | |
| Mondtag: Ich vergleiche mein Theater immer mit einem Museumsbesuch: Wenn | |
| ich eine Ausstellung besuche, dann trete ich immer in Korrespondenz mit | |
| einem Werk. Ich kann mir die Kunstwerke natürlich auch mit einem Audioguide | |
| erklären lassen, aber erst mal hat das Wahrnehmen und Verstehen ganz viel | |
| damit zu tun, was ich als Rezipient mitbringe – an Vorwissen, aber auch an | |
| Geschmack. | |
| Und das erwarten Sie auch vom Theaterbesucher. | |
| Mondtag: Ich erwarte, dass er in Dialog tritt mit seinem Wissen und dem, | |
| was er auf der Bühne erlebt. Mich interessiert jeweils die subjektive | |
| Erfahrung jedes einzelnen Zuschauers und der Dialog, der daraufhin | |
| stattfindet, weil die Inszenierung unterschiedlich wahrgenommen wird. Ich | |
| will dem Zuschauer Raum geben. Ich selbst will als Zuschauer vor allem | |
| denken. | |
| Dabei erwarten Sie von Ihren Zuschauern viel Vorwissen. | |
| Mondtag: Ich erwarte eine gewisse Bildung, ein gewisses Kunstverständnis. | |
| Es ist wichtig, dass wir das Theater haben. Da gehen Menschen hin, die in | |
| Entscheiderpositionen sitzen, die einen relevanten Bestandteil unserer | |
| Gesellschaft ausmachen und sie gestalten. Für diese Leute muss das Theater | |
| ein Denk-Raum sein, wo sie atmen können, wo sie Gedankenanstöße bekommen, | |
| die sie dann in die Gesellschaft tragen. Es muss sich nicht konkret zu | |
| einem bestimmten politischen Umstand äußern. In meinen Arbeiten möchte ich | |
| den Leuten Raum geben, damit sie ein paar der Baustellen, die sie | |
| vielleicht haben, nach dem Theaterbesuch wieder zumachen können. | |
| Kann Theater denn heute etwas zur gesellschaftspolitischen Debatte | |
| beitragen? | |
| Mondtag: Ich glaube schon, dass Theater das kann – aber ich weiß auch, dass | |
| es das nicht tut. Theater hat innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses | |
| keine Stimme. Den bestimmt vielleicht das Feuilleton, bestimmte Autoren, | |
| Politiker, Wissenschaftler. Aber wenn ein Theaterstück sich zu einem | |
| aktuellen Thema äußert, wird das nicht Teil des Diskurses. Bei Anne Will | |
| sitzen keine Theatervertreter. | |
| Warum haben Sie sich dann für das Theater entschieden? | |
| Mondtag: Theater ist ein realer Raum, ein lebender Organismus. Wenn ich im | |
| Theater eine Welt entwerfe, dann könnte ich als Zuschauer theoretisch auch | |
| dort hineingehen. Im Unterschied zum Film ist man für einen Moment Teil | |
| dieser Welt. Das ist wie ein Zaubervorgang, man erschafft etwas, das lebt | |
| und nach der Premiere weiterlebt. Man kann es riechen, hören, man ist | |
| mittendrin. | |
| Sie arbeiten beide als Regisseur und Komponist oft zusammen. Welche Rolle | |
| spielen Musik und Rhythmik für Ihre Form von Theater? | |
| Mondtag: Bei meinen Inszenierungen geht es immer um Weltentwürfe. Diese | |
| brauchen ganz oft eine sehr präzise, bestimmte Umrahmung – und das | |
| funktioniert mit Musik sehr gut. Ich glaube, kein Regisseur setzt so viel | |
| Musik ein wie ich. Und die Musik, die Max Andrzejewski macht, ist natürlich | |
| besonders. Bei „Schere, Faust, Papier“ sind es ganz viele | |
| Schlaginstrumente, Marimbaphone, die er für seine Kompositionen verwendet | |
| hat, dazu mehrstimmige Chöre. Das zusammen ergibt eine sphärische Welt, die | |
| sehr eng mit der Ästhetik der Inszenierung verknüpft ist. | |
| Absolute Ruhe gibt es bei Ihnen auf der Bühne nie. | |
| Mondtag: Es gibt ja die absolute Stille gar nicht. Auf der Bühne hört man | |
| bei mir immer etwas und wenn es nur ein Naturgeräusch ist. Wenn ich | |
| unterwegs bin, höre ich ja auch permanent etwas: Wind, Autos und zu Hause | |
| summt der Kühlschrank. Und selbst wenn es im Theaterraum still ist, gibt es | |
| etwas zu hören: die Zuschauer, die Technik, die Scheinwerfer. | |
| Premiere: So, 18.12., 19 Uhr, Thalia Theater (ausverkauft). Weitere | |
| Aufführungen: Mi, 21.12., Do, 5.1., Sa, 21.1., je 20 Uhr + So, 22.1., 19 | |
| Uhr | |
| 17 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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