# taz.de -- Buch „Vom Arbeiterkind zur Professur“: Die lebenslange Unsicher… | |
> Deutsche Bildungseinrichtungen kompensieren nicht etwa soziale | |
> Ungleichheit, sondern reproduzieren sie. Das zeigen 19 autobiographische | |
> Essays. | |
Bild: Von 100 „Erstakademikern“ aus „bildungsschwachen Familien“ schaff… | |
Gleiche Chancen für alle? Von wegen! Deutsche Bildungsinstitutionen | |
kompensieren nicht etwa soziale Ungleichheit, sondern reproduzieren sie. | |
Und zwar nicht nur in der Schule, sondern ebenso und gerade im | |
Hochschulbereich. | |
Begabte junge Menschen, die eine akademische Laufbahn einschlagen möchten, | |
aber aus einem sogenannten ‚bildungsfernen Haushalt‘ kommen, werden an | |
entscheidenden Gelenkstellen jeweils ausgesiebt: Gymnasialempfehlung, | |
Abitur, Bachelor, Master, wissenschaftliche Hilfskraftstelle, Promotion, | |
Post-Doc, Habilitation, Ruf auf Lehrstuhl – das ist der nahezu | |
unüberwindliche Hürdenlauf, den ein ArbeiterInnenkind in Deutschland auf | |
dem Weg zur Professur überwinden muss. | |
Die politisch viel beschworene Chancengleichheit erweist sich dabei für | |
Menschen aus einfachen sozialen Verhältnissen (wie Arbeiter- bzw. | |
Kleinbürger-Milieu bzw. migrantischer Herkunft) als Worthülse, das | |
demokratische Versprechen auf einen „Aufstieg durch Bildung“ als perfide | |
Lüge. So weit nichts Neues. Nachlesen kann man es nun in aller | |
wissenschaftlichen Ausführlichkeit in „Vom Arbeiterkind zur Professur. | |
Sozialer Aufstieg in den Wissenschaften“. | |
Was den soziologischen Wälzer von über 400 Seiten jenseits der Fachgemeinde | |
interessant macht, ist sein umfangreicher Mittelteil: darin gehen 19 | |
ProfessorInnen in autobiografischen Essays der Frage nach, wie sie – gegen | |
alle Widerstände des Bildungssystems – ihren (im einschlägigen Fachjargon) | |
soziokulturellen „Extremaufstieg“ per „sozialer Langstreckenmobilität“ | |
geschafft haben. | |
## Akademischer Aufstieg erzeugt Ablehnung im Herkunftsmilieu | |
Was sie zu berichten haben, ist durchaus unterschiedlich, stammen sie doch | |
aus Geburtsjahrgängen von 1940 bis 1980. Und doch gleichen sich stets die | |
Erfahrungen: Der akademische Aufstieg erzeugt Ablehnung im Herkunftsmilieu | |
wie im Kreis der privilegierten KollegInnenschaft, er führt zu lebenslangen | |
Unsicherheitsgefühlen, ob man eine Spitzenposition der Wissenschaft | |
überhaupt verdient hat und nicht womöglich irgendwann als HochstaplerIn | |
entlarvt wird. | |
Das ist der deutsche „Bildungstrichter“: Von 100 „Erstakademikern“ aus | |
„bildungsschwachen Familien“ schafft es nur 1 Person bis zur Promotion, | |
während von 100 Kindern aus AkademikerInnenhaushalten es 10 bis zum Doktor | |
bringen. Bis zur Professur ist es dann noch ein steinigerer Weg; erneut | |
liegt am Ende die Rate bei 1 zu 10, denn 90 Prozent aller ProfessorInnen | |
stammen aus bildungsnahen Haushalten. | |
Die wenigen professoralen ArbeiterInnenkinder sind zudem überproportioniert | |
auf Fachhochschulen anstatt Universitäten zu finden; in Letzteren wiederum | |
landen sie häufiger auf unbezahlten außerplanmäßigen Professuren anstatt | |
auf Lehrstühlen mit Finanzausstattung und BeamtInnenstatus. | |
Auf Juniorprofessuren, als Sprungbretter zu vollen Professuren, machen | |
ArbeiterInnenkinder lediglich 7 Prozent aus. Auch in prestigeträchtigen | |
Fächern wie Medizin, Jura und Musik bleiben ErstakademikerInnen eine große | |
Ausnahme, während Disziplinen wie Mathematik oder Erziehungswissenschaften | |
deutlich offener gegenüber der sozialen Herkunft sind. | |
## Soziales Ungleichgewicht unserer Gesellschaft | |
Denn diese prägt einen Menschen durch die „feinen Unterschiede“: etwa im | |
Wissen darüber, wie ein Rotweinglas richtig zu halten ist und ob man im | |
Small Talk über Anbaugebiete im Bordeaux zu parlieren vermag. Die 19 | |
AuskunftgeberInnen des Bandes haben viele solcher Beispiele zu berichten, | |
während die soziologischen Aufsätze betonen, dass deren Karriereerfolge | |
jene Ausnahmen sind, die die Regel bestätigen, weil das soziale | |
Ungleichgewicht unserer Gesellschaft sich institutionell bedingt in den | |
Wissenschaftskarrieren repliziert. | |
Dass man zwar durchaus versucht, die universitäre Diversität zu fördern, | |
ist positiv, doch indem man, so monieren die HerausgeberInnen, die | |
verdeckten Benachteiligungen auf das Merkmal „Geschlecht“ begrenzt, anstatt | |
endlich die Diskriminierung durch soziale Abkunft in den Fokus zu rücken, | |
werden ArbeiterInnenkinder ein weiteres Mal um die meritokratische | |
Möglichkeit einer selbstbestimmten Befreiung von den Fesseln der Herkunft | |
betrogen. | |
14 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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