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# taz.de -- Autorin über „Gefangene Stimmen“: „Qualitäten des Unheimlic…
> Britta Lange hat ein Buch über Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen des
> Ersten Weltkriegs geschrieben. Die Audios hätten etwas Geisterhaftes,
> sagt die Autorin.
Bild: Aufnahme von nepalesischen Ghurka-Soldaten im Lager Wünsdorf bei Berlin
taz: Britta Lange, in Ihrem Buch „Gefangene Stimmen“ haben Sie Aufnahmen
erforscht, die von internierten Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs
gemacht wurden. Sie schreiben, das Wichtigste dabei sei die
Übersetzungsleistung. Warum?
Britta Lange: Es fing mit der Entdeckung an, dass es diese Tonaufnahmen von
Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg in den [1][beiden historischen
Berliner Tonarchiven] noch gibt. Nur ein kleiner Teil war auf Deutsch
übersetzt worden oder in eine, in damaliger Diktion, Hilfssprache. Man kann
nicht einfach Archive, die mit über 2.500 Schellack-Tonträgern bestückt
sind, auf denen Aufnahmen in verschiedenen Sprachen sind, für eine
wissenschaftliche Arbeit übersetzen.
Wie haben Sie es gelöst?
Tatsächlich habe ich versucht, anhand der Titel, die die damaligen
Wissenschaftler den Aufnahmen gegeben haben, solche zu finden, die sich
übersetzen lassen. Mein Interesse daran war zu schauen, in welchen
Aufnahmen es Hinweise auf die historische Situation gibt. Eine Technik, die
ich in [2][Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Philipp Scheffner] entwickelt
habe: ein Zugang über das Hören.
Für Ihr Buch haben Sie das Aufgenommene verschriftlicht, also erneut
übersetzt.
Ein Problem, womit schon die historischen Wissenschaftler konfrontiert
waren. Es tauchten Probleme auf beim Transkribieren der Aufnahmen vor allem
von sogenannten fremden Sprachen. Deshalb haben sie das Verfahren umgekehrt
und verlangt, dass vorher aufgeschrieben wird, was auf Platte kommt, und
haben dies vorlesen lassen. Von heute aus braucht es dafür eine kulturelle
Übersetzung. Ich kann nicht ermessen, wie jemand sich fühlt, der 1915 in
Kalkutta auf ein Schiff verladen worden ist, um in Marseille an die Front
gebracht zu werden, von Deutschen gefangen genommen wird und fortan in
einem Kriegsgefangenenlager einsitzt, um für eine Aufnahme die Fabel vom
Schwan und dem Kranich zu erzählen. Ich bin außerstande zu ergründen, ob es
für denjenigen eine Parabel ist auf seine Situation im Lager. Oder ob diese
Fabel das ist, was die Wissenschaftler wollten, „nur“ eine mythologische
Erzählung.
Dass es Tonaufnahmen aus den 1910ern gibt, ist erstaunlich. Was wissen Sie
über den technischen Stand und die Motivation der Wissenschaftler?
Es gibt Mitte der 1910er noch keinen Rundfunk, Tonaufnahmen sind gebunden
an das Aufnahmegerät. Was die Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen betrifft –
es ist ein wissenschaftliches Projekt, von der Universität und der Akademie
der Wissenschaften in Berlin getragen. Es ging darum zu schauen, was man
mit dem Medium machen kann, zumal wir wissen, dass Wilhelm Doegen,
Organisator in der Phonographischen Kommission, für dieses Projekt einen
Exklusivvertrag mit der Plattenfirma Odeon abgeschlossen hatte.
Wie kommt Ihnen das Programm des Projekts vor?
Es ist deutlich, dass in den Anträgen von Doegen politische Einschläge
sind: Es soll nicht nur ein Archiv aller Sprachen sein, sondern auch alle
Feinde auf Platte bannen. Auf jeden Fall hat man von der politischen
Situation profitiert. Der Krieg hatte den Deutschen die Welt in Form von
Gefangenen in Lager gebracht, jetzt nehmen sie diese auf. So entsteht ein
Archiv von Weltrang zu geringen Kosten, für die Aufnahmen mussten keine
Fernreisen unternommen werden.
Manche Gefangene schildern Kriegserlebnisse, manche nennen Zahlen. Andere
erzählen Fabeln und Alltagsgeschichten. Was sagen Ihnen die Aufnahmen?
Ich habe den Wunsch, dass einige in dem Moment auch zu mir sprechen, wenn
ich sie höre. Ich stelle mir vor, dass sie zu jemand anderen gesprochen
haben. Ich sage deswegen Wunsch, weil der Rahmen, in dem das passierte, es
für mich heute kaum zulässt anzunehmen, dass sie sich frei äußern konnten.
Es kam eine wissenschaftliche Kommission zu den Gefangenen, die ohnehin in
eine inferiore Situation versetzt waren. Wir wissen nicht genau, was sie
gefragt wurden.
Kann es sein, dass die Gefangenen aus Briefen vorlasen?
Das Ganze scheint an Textvorlagen gebunden gewesen zu sein, und Briefe
wurden in den Lagern viele geschrieben. Gleichzeitig gibt es eine riesige
Zensurmaschine für die Korrespondenzen. Die greift offensichtlich bei den
Tonaufnahmen nicht, sonst hätten einige der Aufnahmen nicht die Zensur
passiert: Wenn jemand sagt, in Belgien wurde ich verwundet, und dann
schleppten sie mich zu den Deutschen. Dass dies nicht zensiert wurde, kann
nur damit zusammenhängen, der politischen Leitung der Lager war klar, dies
wandert ins Archiv. Existierende Fotos zeigen meist Gruppen, die um den
Phonographen herumstehen. Die Kommunikation im Raum könnte eine Form von
Ermächtigung sein. Allein die Stimme zu erheben, um die eigene Biografie zu
erzählen, ist zumindest für die Anwesenden etwas Besonderes.
Auf dem Foto in Ihrem Buch ist ein Gefangener zu sehen, der von außen in
den Aufnahmeraum sieht, auch er wirkt wie ein Gespenst, während die
Anwesenden um den schwarzen Trichter herumstehen.
Das Sprechen in den Trichter hinein hat extreme Qualitäten des
Unheimlichen. Diejenigen, die gesprochen haben, wurden in eine bestimmte
Körperhaltung gepresst. Der Trichter muss wie eine Black Box gewirkt haben.
Ein schwarzes Loch, das dann einen Teil der eigenen Persönlichkeit
speichert.
Was sagt Ihnen die Tonaufnahme des nepalesischen Gefangenen Bhawan Singh,
der fragt, was ist ein Geist?
Dieses Geisterhafte war bei Philipp Scheffner extrem präsent, weil wir das
Gefühl hatten, die Tonaufnahmen selbst sind geisterhaft, Symptome der
Geister von längst verstorbenen Kriegsgefangenen. Was Bhawan Singh erzählt,
ist eine wirkliche Geistergeschichte: darüber, dass verstorbene Menschen
nicht richtig beerdigt werden, dass Trauer nicht richtig respektiert wird.
Die Kriegsgefangenen sind in Haft und sie werden zu Propagandazwecken
vorgeführt. Sie zitieren im Vorwort Frantz Fanon, der schrieb „Eine Sprache
sprechen, vielleicht eine Kolonialsprache, heißt, die Kultur und die
Zivilisation aushalten.“ Können Sie diese Transferleistung in Bezug auf die
Archive einordnen?
Meine Position hat sich während der Arbeit verändert. Erst war ich berührt
von den Aufnahmen, denn es stecken viele unterschiedliche, auch persönliche
Motive drin, auch Momente der Subversion. Manche Aufgenommenen haben
durchschaut, was mit ihnen geschieht. Der Zugang, den ich finden kann, ist
gekoppelt an das politische Projekt. Es ist eine Art von prekärem,
sensiblem, wissenschaftlichem Erbe des [3][Kolonialismus], was in den
Archiven liegt. Es ist unsere Aufgabe, zu überlegen, was sind die
Möglichkeiten des Umgangs, aber auch, was passiert auf der Seite
derjenigen, die sich davon betroffen sehen.
Woran denken Sie angesichts der Pläne, dass das [4][Archiv ins
Humboldtforum] umziehen soll?
Dass es von einem Universitätsgebäude ins Humboldtforum umziehen soll, auf
den Präsentierteller der Hauptstadt unter dem Label „So viel Welt verbinden
als möglich“. In Bezug auf die Kriegsgefangenen-Aufnahmen kann das nur
heißen, dass man den Mut haben muss, ein großes Projekt anzustoßen. Sie zu
restituieren, wenn das gewünscht ist. Da müssten wir als Deutsche den
Anspruch aufgeben, allein über die Aufnahmen bestimmen zu dürfen. Sie
liegen zwar in unseren Archiven, aber warum sollten wir sagen dürfen, was
mit ihnen geschehen soll. Der geplante Umzug ist für mich mit vielen Fragen
behaftet, weil das Schloss …
… ein Symbol der Vergangenheit ist…
…ein Symbol einer zurecht-rekonstruierten Vergangenheit, auf dem oben ein
Kreuz angebracht ist. Ist dies ein angenehmer Aufenthaltsort für
Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus Nepal oder Burkina Faso? Zum Glück
sind die Aufnahmen nicht mehr nur auf einen konkreten Ort wie das Schloss
angewiesen. Das ist jetzt auch die Chance, dass sie unabhängig von der
Archivsituation digital auf Reisen gehen. Dass es mehr Situationen gibt, wo
sie etwas bewirken können, was das Erbe und die internationale
Zusammenarbeit, die politische Positionierung in Zukunft angeht, das wäre
meine Hoffnung.
5 Jul 2020
## LINKS
[1] /Experte-ueber-historische-Tonaufnahmen/!5596879
[2] /Essayfilm/!5194769
[3] /Ethnologe-zur-Bewahrung-von-Musik/!5579557
[4] /Archiv-Suche/!268385&s=Katrin+Bettina+M%C3%BCller+Kriegsgefangene+W%C3…
## AUTOREN
Julian Weber
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