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# taz.de -- Christian Packheiser „Heimaturlaub“: Kirschlikör von der Front
> Wehrmachtsoldaten als ganz private Plünderer: Christian Packheisers Buch
> über deutsche Heimaturlauber im Zweiten Weltkrieg.
Bild: Nazi-Propaganda: „Schwer beladen geht es Richtung Heimat, der wohlverdi…
Israel Korman ist zwölf Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht 1939 seine
polnische Heimatstadt Radom überfällt und besetzt. Juden wie Korman und
seine Familie, die ein kleines Kaufhaus betreibt, gelten fortan als
Freiwild – nicht nur für die SS.
Die deutschen Soldaten, berichtete Korman Jahrzehnte später, hätten den
Laden betreten und ungeniert zu stehlen begonnen. Er sei dann immer zum
nächsten Posten gerannt, um die dortigen Militärpolizisten zum Einschreiten
zu bewegen. Doch die Männer hätten ihn nur weggejagt. Nur ein einziges Mal
hätten die Polizisten anders reagiert, seien ihm gefolgt und hätten die
Diebe vertrieben.
„Dieser Laden darf nicht angerührt werden“, hätten sie den Soldaten gesagt
und seien auch dabei geblieben, als einige von ihnen darauf verwiesen
hätten, dass es sich doch „nur“ um ein jüdisches Geschäft handele. Diese
Militärpolizisten „ benahmen sich wie menschliche Wesen“, sagte Korman.
## Briefe von Frontsoldaten ausgewertet
Dass Fälle wie die dauernden Diebstähle bei den Kormans zum Alltag der
Besatzer gehörten und keineswegs nur Juden darunter litten, zeigt die erste
große systematische Untersuchung über die Soldaten der Wehrmacht zwischen
Front, Familie und NS-Regime. Christian Packheiser hat dabei auch Briefe
von Frontsoldaten und alliierte [1][Abhörprotokolle] von Gefangenen
ausgewertet.
Daraus geht hervor, dass die Wehrmachtangehörigen häufig so viele
Mangelwaren und Luxusartikel nach Hause schleppten, wie sie nur tragen
konnten, wenn einer der unregelmäßig gewährten Heimaturlaube anstand.
„In manchen Stellen sind die Soldaten mit Pistolen in Geschäfte
hereingekommen, haben sich alles Mögliche genommen und sind dann
verschwunden“, berichtete ein Soldat über seine Erfahrungen auf Sizilien.
Ein anderer berichtete: „Die sind da einfach in die Bauernhäuser und haben
Speck, Cognac usw. rausgeholt. Und die Ostbataillone haben es noch viel
schlimmer getrieben. Haben an die Tür geklopft, wenn sie nicht gleich
aufgemacht hatten, oder eine Handgranate eingeworfen.“
Dabei agierten die Soldaten ganz im Sinne der NS-Führung, deren Ziel im
Auspressen aller wirtschaftlichen Ressourcen aus den besetzten Ländern
zugunsten des Reichs bestand. Nicht viel anders verhielt sich die
Staatsspitze: Deren Männer übernahmen [2][für ihre privaten Sammlungen
ganze Museen und Sammlungen]. Und die SS-Männer in Vernichtungslagern
ermordeten nicht nur die Deportierten, sondern eigneten sich Teile ihres
Besitzes persönlich an, wie eine [3][Studie über Sobibor] zeigt.
## Raub und Diebstahl für die Mitbringsel von der Front
Raub und Diebstahl waren ein konstituierendes Element des Regimes.
Dementsprechend tolerierte der NS-Staat auch Raub und Diebstahl seiner
Soldaten. Die Propaganda begrüßte es sogar, wenn sich die Männer ihren Teil
der Beute aneigneten. Anfängliche Mengenbegrenzungen der Mitbringsel in die
Heimat wurden schon bald fallen gelassen, der Zoll spielte kaum mehr eine
Rolle. Schließlich ging es auch darum, schreibt Packheiser, die Stimmung in
der Heimat zu heben.
Als sich der Krieg ab 1941 mehr und mehr in die Sowjetunion verlagerte,
fiel die Beute freilich dürftiger aus als zuvor etwa im wohlhabenderen
Frankreich. Manch ein Soldat bereitete seine Liebsten bedauernd darauf vor,
dass Seidenstrümpfe bei Minsk nicht zu ergattern seien, aber immerhin Eier,
Butter und Speck (derweil Millionen sowjetische Kriegsgefangene und
Zivilisten verhungerten).
Mit der Fortdauer des Krieges mutierten die Soldaten gar zu mobilen
Versorgern der „Heimatfront“, die unter Versorgungsengpässen zu leiden
begann: Man müsse „den Urlauber als ideales und einfachstes Transportmittel
ansehen und ihm für seine Angehörigen so viel Lebensmittel mitgeben, als er
nur schleppen könne“, heißt es in einem Gesprächsprotokoll aus der
Wolfsschanze, dem Kriegshauptquartier Hitlers, vom Juli 1942.
Packheisers akribische Untersuchung zeigt einmal mehr, dass das NS-Regime
und der von ihm losgetretene Krieg auf [4][breite Zustimmung in der
Bevölkerung] bauen konnte, solange diese von Raub, Diebstahl und
Plünderungen profitierte. Es verwundert nicht, dass dies auch für die
Frauen der Soldaten galt, die ganze Wunschlisten von Gütern an ihre
Geliebten verfassten.
## Tüll und Kirschlikör sind prima
„Also, Du hast wieder mal für mich etwas gekauft? Tüll hast Du bekommen?
Ich bin gespannt. Du musst ja wie ein Packesel hier ankommen“, schrieb
Irene G. ihrem Mann vor seiner erwarteten Ankunft aus Frankreich im Juni
1943. „Kannst Du nicht auch noch Likör bekommen, der Kirschlikör ist prima.
Ich möchte gerne reichlich solche Sachen haben, wenn Du da bist“, bat Lore
G. ihren Mann kurz vor Weihnachten 1940.
Das NS-Regime maß den Urlauben der Soldaten einen hohen Stellenwert zu –
auch um die „Heimatfront“ zu stärken, die doch noch angeblich zum Ende des
Ersten Weltkriegs den Truppen in den Rücken gefallen wäre. Als sich ab 1942
die Wehrmacht mehr und mehr auf dem Rückzug befand, blieb es bei den
Urlaubsregelungen. Nun bekamen die Fronturlauber als Geschenk ein
Lebensmittelpaket für ihre Familien – ein Stimulans für die Moral daheim
und an den verkürzten Fronten.
12 Aug 2020
## LINKS
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[4] /Kriegsende-vor-75-Jahren/!5680052
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
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