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# taz.de -- Nazi-Vergangenheit: „Ich hatte vor Entsetzen kein Gefühl“
> Tätertochter Barbara Brix muss damit leben, dass ihr Vater bei
> Erschießungen in der Sowjetunion zumindest anwesend war
Bild: Barbara Brix findet Öffentlichkeit wichtig, aber persönlich schwierig.
taz: Frau Brix, wann haben Sie erfahren, dass Ihr Vater Nazi-Täter war?
Barbara Brix: Ostern 2006, kurz vor meiner Pensionierung. Ein befreundeter
Historiker, der sich mit den Baltendeutschen in der SS befasste, war nicht
nur auf meinen Onkel – einen familienbekannten Nazi – gestoßen, sondern
auch auf seinen jüngeren Bruder: meinen Vater. Das hat er mir dann
vorsichtig mitgeteilt. Ich war total geschockt und konnte es zunächst gar
nicht fassen.
Was hat Ihr Vater getan?
Er war schon 1933, mit 21 Jahren, in die illegale Nationalsozialistische
Volksdeutsche Partei (NSVDP) in Riga eingetreten, die sein Bruder gegründet
hatte. Dann hat er Medizin studiert, geheiratet und sich kurz nach
Kriegsbeginn freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Beim deutschen Überfall auf
die Sowjetunion im Juni 1941 hat er meiner hochschwangeren Mutter
mitgeteilt, dass er – so war die in der Familie überlieferte Formulierung –
„an die russische Front“ gehe.
Tatsächlich aber zu den berüchtigten „Einsatzgruppen“, die systematisch d…
kommunistischen Funktionäre und die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion
ermorden sollten.
Ja, wobei ich nicht sicher bin, dass er diesen Auftrag von Anfang an
kannte. Allerdings wüsste ich gern genauer, welches seine Aufgabe in der
Ukraine war. Das ist schwer zu recherchieren, denn die Rolle der Ärzte in
den Einsatzgruppen ist kaum erforscht. Mein Vater selbst hat nach dem Krieg
bei einer Ermittlung ausgesagt, er sei nicht nur für die Einsatzgruppe C
zuständig gewesen, sondern auch für die in der Nähe stationierten
Wehrmachtseinheiten. Er habe Lazarette mitbetreut, sei viel „auf
Dienstreise“ gewesen und habe in Kiew eine „Dienststelle“ eingerichtet. In
seiner Entnazifizierungsakte hat er das – sicherlich beschönigend –
„Hygiene-Institut“ genannt. Ich weiß aber nicht, was das konkret bedeutet
und was er da tat.
Ob er zum Beispiel bei Massenerschießungen dabei war.
Es gibt Zeugenaussagen, denen zufolge ein namentlich nicht genannter Arzt
bei einzelnen Aktionen anwesend war, zum Beispiel, als eine Gruppe
Partisanen gefasst und erschossen wurde. Mein Vater hat bei seiner
Vernehmung vehement bestritten, je bei Erschießungen zugegen gewesen zu
sein. Das habe auch ich lange geglaubt: dass er sich als überzeugter Nazi
dem Regime zwar zur Verfügung gestellt hatte, aber nicht an den
Massenmorden beteiligt war und davon nur „vom Hörensagen“ wusste.
So hat er es später vor dem Ermittlungsbeamten formuliert.
Im ersten Verhör noch nicht. Er gab zunächst immer nur das zu, was ohnehin
bekannt war. Später sagte er, konkret zu Babij Jar bei Kiew befragt, wo am
28. und 29. 9. 1941 Einheiten der Einsatzgruppe über 33.000 Juden
erschossen und in eine Schlucht warfen: Er sei nicht dabei gewesen, hätte
aber „gesprächsweise von Erschießungen gehört“. Er glaube aber, dass er …
bereits im Heimaturlaub gewesen sei.
Was glauben Sie heute?
Ich habe anhand der Daten rekonstruiert, dass er Ende September 1941
wahrscheinlich sehr wohl in Kiew war. Vor einiger Zeit hat mir dann ein
niederländischer Journalist die gerichtliche Aussage eines
Einsatz-Kommandanten gezeigt. Daraus geht hervor, dass mein Vater – diesmal
namentlich genannt – bei einer großen Erschießungsaktion gegen Lemberger
Juden im Juni 1941 zugegen war. Da wurde ich zum ersten Mal damit
konfrontiert, dass mein Vater bei seiner Befragung gelogen hatte. Das war
der zweite Schock für mich. Ich hatte meinen Vater immer für einen
gradlinigen Menschen gehalten.
Wie haben Sie ihn privat erlebt?
Ich habe ihn ja erst mit sechs Jahren kennengelernt, als er – beidseitig
beinamputiert – aus Krieg und Internierung zurückkam. Danach war er
derjenige, der uns vorlas, mit uns ins Theater und zur Kirche ging und
diskutierte. In meiner Erinnerung war er mein geistiger und moralischer
Mentor.
Welche Werte hat er Ihnen vermittelt?
Unmittelbar nach dem Krieg durchlebte er eine starke Hinwendung zum
Christentum. Und seine Werte – das war der christlich-bürgerliche,
wertkonservative Anstandskatalog.
Wo stand er nach 1945 politisch?
In den ersten Jahren nach dem Krieg hat er SPD gewählt, was für diese
Familie, die durch und durch nationalsozialistisch getränkt war,
erstaunlich war.
Deuten Sie das als Läuterung?
Ich weiß leider nicht, in welchem Maß er seine Nazi-Geschichte bearbeitet
hat. Ich kann nur mutmaßen anhand der wenigen Briefe und Gedichte, die ich
gefunden habe. Sie drücken Schwermut aus und das Gefühl, dass etwas
unwiderruflich untergegangen ist. Ich schließe daraus, dass er zumindest
kein Nazi geblieben ist. Ich denke, auch die Hinwendung zum Christentum
zeigt, dass er sich mit diesen Verbrechen mindestens moralisch
auseinandersetzte und dass die SPD das damals am stärksten verkörperte.
Später wurde er wieder konservativer, ausgelöst durch die 1968er-Bewegung.
Die auch Sie umtrieb?
Ja, und da ist das Thema Nazi-Vergangenheit für mich erstmals virulent
geworden. Meine Schwester und ich haben unsere Eltern massiv angegriffen,
haben gefragt: „Was habt ihr gemacht?“. Darauf haben meine Eltern eher
hilflos abwehrend reagiert. Aber letztlich war das keine echte Diskussion,
keine Frage, auf die wir eine persönliche Antwort erwarteten. Es war eher
ein politischer Frontalangriff, der die Empörung, aber auch die
Selbstgerechtigkeit der 1968er-Bewegung zum Ausdruck brachte. Es ist schon
eigenartig, dass wir weder damals noch später konkret fragten. Denn
eigentlich war die Kriegsgeschichte meines Vaters immer diffus dabei.
Inwiefern?
Ich habe es lange so dargestellt, wie es üblich war unter uns 1968ern:
„Geschichtsunterricht bis zum Ersten Weltkrieg, absolutes Schweigen in der
Familie, auf kritische Nachfragen kamen Plattitüden“. Aber als ich anfing,
mich ehrlich damit zu befassen, merkte ich, dass es so pauschal nicht
stimmte. Sondern dass der Krieg immer präsent war – angefangen damit, dass
wir unseren beinamputierten Vater täglich mit seinen Holzprothesen
erlebten. Ich kann auch nicht sagen, dass mich seine Vergangenheit nicht
interessiert hätte. Aber ich habe es nie als echte Frage formuliert.
Auch nicht, als Sie auf dem Speicher sein SS-Abzeichen fanden?
Nein. Ich habe es meiner Mutter gezeigt, die sagte, ich solle es lieber
nicht herumzeigen oder darüber reden. Aber sie war auch nicht besonders
aufgeregt. Dann hat sie es an sich genommen und vermutlich weggeworfen. Da
hätte ich ja nachbohren können.
Wie alt waren Sie damals?
Ungefähr zehn. Aber auch als 20-jährige Studentin habe ich nicht gefragt,
auf einer Autofahrt mit meinem Vater nach Bregenz zu meinem Onkel. Der
Onkel war als einstiger Chef des Einsatzkommandos 6 auf der Flucht vor
Strafermittlungen. Auch ihn habe ich nie gefragt.
Warum nicht?
Meine Familienloyalität war so groß, dass ich unkritisch die Empörung über
die „Ungerechtigkeit“, die dem Onkel widerfuhr, geteilt habe. Und auf jener
Autofahrt habe ich mit meinem Vater wohl allgemein über Nationalsozialismus
gesprochen. Ich erinnere mich, dass er sagte: „Wir dachten, wo gehobelt
wird, da fallen auch Späne.“ Ich habe auch da nicht weiter gefragt: „Was
hieß das, bezogen auf deine damalige Situation?“
Werfen Sie sich das heute vor?
Ja. Ich empfinde mein Schweigen als Feigheit, und das werfe ich mir vor. Es
fällt mir aber auch keine Frage ein, mit der ich ein für uns beide
erträgliches Gespräch hätte anregen und durchhalten können. Ich wäre sehr
enttäuscht gewesen, wenn er zum Beispiel versucht hätte, sich zu
rechtfertigen oder gar reinzuwaschen. Insofern bin ich andererseits auch
froh, dass wir nicht darüber gesprochen haben.
Heute befassen Sie sich intensiv mit der Nazizeit. Seit wann?
Meine eigentliche, fast obsessive Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus begann nach dem Tod meines Vaters. Dieser Zusammenhang
ist mir erst kürzlich klar geworden. Aber es ist ja bekannt, dass es so
etwas gibt wie eine unbewusste Übertragung von Schuld auf die nächste
Generation. Bis heute erlaube ich mir kaum, etwas anderes zu lesen, weil
ich denke, ich muss dieses Thema immer weiter bearbeiten.
Gehörte zu dieser Bearbeitung auch Ihr „Aktion Sühnezeichen“-Jahr in einer
Gedenkstätte im französischen Perpignan?
Ja, das war 2007, kurz nachdem ich von der Täterschaft meines Vaters
erfahren hatte. Während meiner Zeit dort habe ich durch eine Ausstellung in
Paris auch erstmals erfahren, was die SS-„Einsatzgruppen“ in Osteuropa
konkret taten. Dass sie von Dorf zu Dorf zogen und alle Juden, die sie
fassen konnten, erschossen. Als mir klar wurde, in welchem Milieu sich mein
Vater – freiwillig – bewegt hatte, hatte ich vor Entsetzen erst gar kein
Gefühl. Dann dachte ich: Aha, das war also die „russische Front“, an die er
sich gemeldet hatte.
Wo verorten Sie sich heute? Haben Sie das Gefühl, die Schuld Ihres Vaters
mitzutragen?
Ja, das ist ganz stark. Das habe ich lange Zeit nicht begriffen und wollte
einfach nur genau wissen, was damals passiert war. Ich konnte nicht mehr
mit dem Gefühl leben, dass da etwas Dunkles, vielleicht Verbrecherisches
mit meinem Vater war. Ich wollte der Wahrheit ins Gesicht blicken.
Allerdings dachte ich, ich täte das für mich und meine Geschwister,
vielleicht für meinen Sohn und Enkel – alle, die es wissen wollen. Als ganz
persönliche Angelegenheit.
Wann hat sich das geändert?
Auf der Konferenz 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, wo sich
Historiker und Täter-Nachfahren trafen. Da habe ich zum ersten Mal
begriffen, dass das Thema nicht nur eine persönliche Dimension hat. Sondern
dass es auch gesellschaftlich und politisch bedeutsam sein kann, wenn sich
möglichst viele Menschen ihrer Familiengeschichte im Nationalsozialismus
stellen.
Warum?
Weil nicht nur die Täter ihre Verbrechen in ihre Familien getragen haben:
Auch was die vielen Soldaten an Verbrechen sahen und nach Hause brachten,
ist ja nicht verschwunden. Das tragen auch wir Nachkommen mit uns herum,
und es muss raus, damit eine Gesellschaft wirklich demokratisch werden kann
und die Schlacken der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des
Antisemitismus ablegt.
Meinen Sie mit „Rauslassen“, es öffentlich zu machen?
Es bedeutet erst mal, dass man es selber anguckt. Dann aber auch, die Dinge
und Personen beim Namen zu nennen. Allerdings fällt es mir immer noch
schwer: den Namen meines Vaters vollständig auszusprechen und zu sagen: Er
war ein Täter.
Peter Kroeger.
Ja. Ich sehe inzwischen ein: Es gehört zur Wahrheit, dass man auch den
Namen sagt. Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass es nicht anständig
ist: die verbrecherische Seite eines Verstorbenen, den ich zu Lebzeiten
nicht zu fragen wagte, öffentlich bekannt zu machen.
Es könnte andere ermutigen.
Ja, und das habe ich erstmals begriffen im Neuengammer Begegnungsseminar
2014, in dem sich Nachkommen von Verfolgten und von Tätern trafen und ihre
Geschichten erzählten. Bis dato dachte ich, dass Gespräche der Kinder und
Enkel nichts Erhellendes mehr beitragen können. Erst als ich mich selber
als Betroffene erlebte, begriff ich, wie notwendig sie sind und wie
entlastend sie sein können.
Inwiefern?
Nach einer Podiumsdiskussion zwischen Täter- und Opferkindern in Neuengamme
stand Jean-Michel Gaussot auf, der Sohn eines französischen Häftlings. Er
sagte, ihm sei klar geworden, dass auch die Nachkommen der Täter eine Last
tragen. Aber das müsse nichts Trennendes sein, sondern eher eine
Gemeinsamkeit: Weder hätten die Opfernachkommen Grund, sich der Taten ihrer
Väter zu rühmen, noch müssten sich die Täternachkommen schuldig fühlen.
Beide trügen schwer an diesem familiären Erbe, und das könnte eine
gemeinsame Erinnerungsarbeit begründen.
Wie haben Sie sich da gefühlt?
Wunderbar leicht, es war wie eine Befreiung. Gleichzeitig wurde mir
bewusst: Da ist wohl doch ein Schuldgefühl, das ich vorher nicht
wahrgenommen habe, das sich jetzt lösen konnte in dieser versöhnenden
Geste.
Hält dieses Gefühl an?
Es ist schon so, dass ich mich immer wieder noch schäme. Das wird wohl
immer so sein. So etwas wirft man nicht einfach ab.
Was müsste passieren, damit Sie Ihren Frieden machen können mit Ihrem
Vater?
Mit seinen Taten und seinen Lügen werde ich das niemals können. Und was den
Menschen betrifft: Wenn ich an meinen Vater denke, stehen zwei Personen
nebeneinander: Einmal derjenige, den ich kenne. Daneben, unverbunden, der
andere, eine eher schattenhafte Figur. Bisher gelingt es mir nicht, beide
übereinander zu legen. Intellektuell schaffe ich es zwar manchmal, aber
emotional nicht. Zu akzeptieren, dass sich in einem Menschen beides mischt,
fällt mir sehr schwer.
15 May 2016
## AUTOREN
Petra Schellen
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