| # taz.de -- Regisseur Philip Scheffner in Kino „arsenal 3“: Eine Form, die … | |
| > Das Arsenal zeigt in seinem Online-Kino eine Werkschau von Philip | |
| > Scheffner. Seine Dokumentarfilme beruhen auf jahrelanger Recherche. | |
| Bild: Krieg und Frieden: Szene aus Philip Scheffners Film „Der Tag des Spatze… | |
| Die Bilder seines jüngsten [1][Films, „Havarie“ (2016)], hat Philip | |
| Scheffner auf Youtube gefunden. Es sind Aufnahmen, die ein Mann von einem | |
| Kreuzfahrtschiff aus gemacht hat; sie zeigen ein Boot mit Geflüchteten, das | |
| auf dem Mittelmeer zwischen Algerien und Spanien treibt, 37°28.6'N und | |
| 0°3.8'E sind die genauen Koordinaten, die der Film gleich zu Beginn auf | |
| einer Schrifttafel zeigt. | |
| Das Ausgangsmaterial, found footage par excellence, das man bis heute auf | |
| Youtube findet, ist allerdings nur wenige Minuten lang, Scheffner hat es | |
| für seinen Film auf die neunzig Minuten gestreckt, die die Begegnung von | |
| Urlaubenden und Fliehenden tatsächlich dauerte. | |
| Der Fund führte zu einer Recherche, deren Ergebnis im fertigen Film | |
| allerdings nur auf der Tonspur zu hören ist. Scheffner und seine Partnerin, | |
| Dramaturgin, Kollaborateurin Merle Kröger (als Kern eines Kollektivs namens | |
| Pong), haben einen der Geflüchteten gefunden, der wie die anderen von | |
| Spanien wieder abgeschoben wurde. Sie bekamen den Funkverkehr zum Vorfall, | |
| es folgte eine Rettung per Helikopter, zur Verfügung gestellt: Er | |
| strukturiert nun die Tonspur. | |
| Sie sprechen mit Terry Diamond, dem Mann, der den Film gedreht und auf | |
| Youtube online gestellt hatte; er berichtet von ganz anderen, nämlich den | |
| irisch-nordirischen Kämpfen. Die Tonspur ist reich an situierenden | |
| Geräuschen und Tönen, an Atmosphären aus Straßenlärm und Autoverkehr – d… | |
| Zeugen wurden nicht neutralisiert und ins Studio geschleppt, sondern da | |
| aufgesucht, wo sie waren. | |
| ## Den Fakten angemessen | |
| Idealtypisch kommt in „Havarie“ zusammen, was die Filme von Philip | |
| Scheffner (und Merle Kröger) ausmacht. Sie verdanken sich stets einer | |
| Suchbewegung, gründlicher, oft jahrelanger Recherche. Es ist zu Beginn | |
| immer offen, was herauskommen, wie die Sache ausgehen, was sich an | |
| Sachverhalten, an geklärten, aber auch an ungeklärten Fragen ergeben wird. | |
| Am Ende steht jedoch grundsätzlich ein Film, der den Fakten wie den offenen | |
| Fragen eine angemessene, nicht selten sehr strenge Form gibt. Andere | |
| Anordnungen des Materials wären möglich, andere Medien auch, und bei | |
| „Havarie“ wie bei [2][„Revision“ von 2012] hat Merle Kröger es in eine… | |
| andere, von ihr brillant beherrschte Form überführt: die des Kriminalromans | |
| nämlich. | |
| Auch „Revision“ ist die nachträgliche, geradezu detektivische | |
| Rekonstruktion eines Vorfalls an der Grenze. Im Sommer 1992 werden zwei | |
| Roma in einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze erschossen. Angeblich | |
| ein Jagdunfall, der Prozess, zu dem es kommt, kann die Sache nicht | |
| eindeutig klären, die Jäger, die die Menschen, wie sie behaupten, für Wild | |
| hielten, werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. | |
| Minutiös dröselt Scheffner den Fall noch einmal auf, begibt sich an den Ort | |
| und nimmt komplizierte Berechnungen vor, befragt alle, die damals für den | |
| Fall zuständig waren. Und er spricht mit den Hinterbliebenen der Toten in | |
| Rumänien, woraus sich dann ein weiteres Filmprojekt ergibt. | |
| ## Ein kollaboratives Projekt anderer Art | |
| Die Familie eines der Toten, Grigore Velcu, zieht nach Deutschland. | |
| Scheffner plant einen Film über ihre Ankunft, ihre erste Zeit im neuen | |
| Land, daraus ergibt sich dann ein kollaboratives Projekt noch einmal | |
| anderer Art. | |
| Kurzerhand nehmen die Velcus die Sache, genauer gesagt: die Kameras selbst | |
| in die Hand, filmen ihr Leben, teils spielerisch angelehnt an | |
| „Bollywood“-Filme, zeigen aber auf einer selbstreflexiven Ebene, auf der | |
| Scheffner mit ins Bild kommt, auch das Zustandekommen des neuen Films, der | |
| den Titel „And-ek Ghes“ trägt und 2016 wie auch „Havarie“ auf der Berl… | |
| gezeigt wird. | |
| Persönlich involviert ist Philip Scheffner auch in „Der Tag des Spatzen“. | |
| Es ist die Zeit des Afghanistan-Kriegs, und es geht auch um einen Freund, | |
| dem Anschläge gegen die Bundeswehr vorgeworfen werden. Die Annäherung an | |
| den Krieg gestaltet der Film allerdings auf bewundernswert sture Weise sehr | |
| indirekt, indem er nämlich erst ganz und dann immer wieder ausgerechnet auf | |
| Spatzen fokussiert. Der Weg der Recherche bleibt freilich gewunden. | |
| ## Auch die Irrwege festhalten | |
| Ähnlich verhält es sich bei [3][„Halfmoon Files“], in dem Scheffner der | |
| fast vergessenen Geschichte eines Lagers für Gefangene im Ersten Weltkrieg | |
| nachspürt. Er findet Tondokumente, die Recherche führt nach Indien, dort | |
| verliert sich eine wichtige Spur. | |
| Hier wie sonst auch hält Philip Scheffner nicht allein die Funde, sondern | |
| ebenfalls die Irrwege fest. Es liegt darin ein Beharren auf der Komplexität | |
| der Verhältnisse und ein nicht zuletzt poetischer Widerstand gegen das | |
| politische Thesenstück. | |
| So konzeptuell genau und geschlossen die Filme stets gearbeitet sind: Die | |
| Wunden, von denen sie handeln, lassen sie offen und lassen darum die, die | |
| sie sehen, auf Dauer nicht los. | |
| 4 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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