# taz.de -- Dokumentarfilm „Revision“: Die Revision der Mittel | |
> Tod in Mecklenburg-Vorpommern: Philip Scheffners „Revision“ zeichnet den | |
> gewaltsamen Tod zweier Flüchtlinge im Jahr 1992 nach. | |
Bild: Spurensuche im Feld: Szene aus „Revision“. | |
Bäume, Felder, Wiesen. Vögel fliegen vorbei. Manchmal erfüllt ihr | |
Zwitschern den Raum zwischen Leinwand und Auge. Die Filme von Philip | |
Scheffner verharren immer wieder in ruhigen Augenblicken, in denen nichts | |
Außergewöhnliches zu passieren scheint. Natur und Menschen sind einfach da. | |
Diese Momente sind poetisch, weil sie die Sprache der Erzählung selbst zum | |
Thema machen. Der Zuschauer erkennt mit einem Mal, wie er der Kamera beim | |
Registrieren des Lichts zusieht. Die Fiktion des Authentischen ist | |
gebrochen. | |
So ist es auch in „Revision“, dem neuen Film Scheffners, der im Februar auf | |
der Berlinale gezeigt wurde und jetzt in die Kinos kommt. Anfangs pflügt | |
ein Mähdrescher durch ein Maisfeld, der Himmel ist blau, Staub fliegt durch | |
die Luft. | |
Als der Motor verstummt, ist eine körperlose Stimme zu hören, die erzählt, | |
was unbestritten ist: „Nadrensee, Mecklenburg-Vorpommern. 29. Juni 1992. | |
Zwei Erntearbeiter entdecken von ihrem Mähdrescher aus etwas im Getreide | |
liegen. Beim näheren Hinsehen erkennen sie die Körper zweier Menschen. Sie | |
fahren mit dem Mähdrescher Richtung Dorf, um Hilfe zu holen. Hinter ihnen | |
steht das Feld in Flammen.“ | |
## Freispruch für Todesschützen | |
Einer der Zeugen, die wir auf dem Feld herumlaufen sehen, erinnert sich, | |
dass damals kein Mais wuchs, sondern Wintergerste. Die beiden Männer, die | |
1992 hier gestorben sind, hatten kurz zuvor die polnisch-deutsche Grenze | |
überquert. | |
Das Verfahren gegen zwei Jäger, die an diesem Morgen auf dem Feld gejagt | |
hatten, Wildschweine, wie sie sagten, endete 1999 nach schlampig geführten | |
polizeilichen Ermittlungen und drei Verhandlungstagen mit einem Freispruch. | |
Die Jäger, ein ehemaliger Polizist und sein Jagdgast, hatten nicht | |
geleugnet, am Tatort gewesen und geschossen zu sein. Doch das Gericht | |
konnte nicht feststellen, welcher der beiden Jäger der Todesschütze war. | |
Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Drei Jahre später wurde diese | |
abgelehnt. Die Familien der Toten wussten nichts von dem Verfahren und | |
seinem Ausgang, bis der Filmemacher sie besuchte. Sie leben in Rumänien. | |
## Die eigene Stimme hören | |
Eine Frau und zwei junge Männer sitzen auf einem Sofa. Sie hören | |
konzentriert der Stimme einer Frau zu. „Er war ein guter Mann. Er hat | |
gearbeitet und uns versorgt“, sagt die Stimme. Danach habe sie ein | |
„doppeltes Leben“ führen müssen, als Mutter und Vater zugleich, sagt die | |
Stimme jetzt. Sie gehört offensichtlich der Frau eines der Toten. Aber wem | |
sehen wir beim Zuhören zu? Einen Moment lang ist es unklar, dann erscheint | |
es als wahrscheinlich, schließlich wird klar: Die Frau auf der Couch ist | |
die Witwe von Grigore Velcu, die jungen Männer sind ihre Söhne. Die Stimme, | |
der die Witwe zuhört, ist ihre eigene. Das Filmteam spielt den Interviewten | |
ihre eben gesagten Sätze vor und nimmt sie dabei erneut auf. Manchmal | |
ergänzen sie die Aussagen. | |
Das ist das Setting, in dem sich die bis zum Ende unabgeschlossen bleibende | |
Ermittlung des Films abspielt. Die Frau des anderen Toten, Eudache | |
Calderar, sagt: „Er hat in einer Fensterfabrik in Deutschland gearbeitet | |
und Geld nach Hause geschickt. Die Kinder waren sehr klein und brauchten | |
vieles. Ich wollte ein besseres Leben für meine Kinder, wie sich das alle | |
Eltern wünschen.“ Einer ihrer Söhne fügt hinzu: „Es wäre besser, wenn m… | |
sich an mehr erinnern könnte.“ Der andere widerspricht: „Dem gibt es nichts | |
hinzuzufügen. So war es halt.“ | |
Das Interview ist eine Form der Vernehmung. Es wird hier sogar zur | |
peinlichen Befragung. Es tut den Familien weh, über den Tod von Grigore | |
Velcu und Eudache Calderar zu sprechen und darüber, was mit ihnen selbst | |
geschah. Und doch zielt diese Befragung nicht darauf ab, Aussagen zu | |
protokollieren, um sie mit dem kalten Auge des Laboranten oder Richters zu | |
betrachten. | |
Regisseur Scheffner will die Hierarchie nicht unhinterfragt lassen, die | |
beim Drehen eines Dokumentarfilms herrscht, auch wenn der Regisseur am | |
Schneidetisch das letzte Wort hat, was Philip Scheffner wohl bewusst ist. | |
„Ein Interview ist eine exemplarische dokumentarische Anordnung“, sagt er. | |
„Die Momente im Film, in denen Machtverhältnisse zum Flirren kommen und die | |
Aushandelbarkeit der Situation sich abbildet, finde ich sehr wichtig. Wir | |
hatten gerade bei diesem Film ein extremes Interesse daran, die | |
Protagonisten nicht zu viktimisieren. Sie sind natürlich auch Opfer. Es | |
ging aber darum, Mechanismen einzubauen, die ihnen ein gewisses Maß an | |
Kontrolle an die Hand geben, und das im Film auch darzustellen.“ | |
## Juristische Struktur des Films auflösen | |
„Revision“ ist ein juristischer Begriff, aber Scheffner hat nicht im Sinn, | |
die Ermittlungen eines deutschen Gerichts zu korrigieren. Er blickt noch | |
einmal auf die Geschehnisse, bleibt aber dabei nicht stehen. Der Regisseur | |
und sein Team wollen die dokumentarischen Mittel, die juristische Struktur | |
des Dokumentarfilms selbst einer Revision unterziehen. Dokumentarfilme | |
ähneln Ermittlungsverfahren. Spuren werden verfolgt, Daten werden | |
gesammelt, Zeugen machen Aussagen. | |
In „Revision“ bekommen die Familienmitglieder erst Gesichter, dann werden | |
ihre Namen genannt. Im Verlauf des Films kann der Zuschauer ihren | |
Erkenntnisprozess nachvollziehen. Nie weiß er mehr als sie. Im Zuge der | |
Scheffner’schen Ermittlung wird der Zuschauer nicht in die Position des | |
Kommissars versetzt. Er wird verunsichert, zum Hinhören, zur Zuwendung und | |
zum Fragenstellen animiert. | |
Die Familie Velcu zeigt zwei alte Schwarzweißfotos, auf denen ein junges | |
Paar zu sehen ist. Eins wurde bei der Hochzeit aufgenommen, auf dem anderen | |
sind Grigore Velcu und seine Frau selbst als Trauzeugen zu sehen. Der Mann | |
mit dem Schnauzbart trägt schwarzen Anzug, weißes Hemd und weiße Fliege. | |
Die Frau im weißen Kleid hat ein dunkles Tuch mit Blumenmuster über die | |
Schultern geworfen. Ihre langen schwarzen Haare sind kunstvoll frisiert und | |
werden von einem weißen Kranz gekrönt. „Revision“ stellt die Menschen ins | |
Zentrum, deren Leben durch die Schüsse von 1992 eine tragische Wendung | |
genommen hat. Sie erscheinen als Väter, Mütter, Liebende, Kinder und | |
Freunde, als Menschen mit schönen Gesichtern und wachen Augen. | |
## Das Jahr eines Pogroms | |
„Revision“ ist nicht trotz, sondern wegen dieser Anteilnahme eine | |
historisch-politische Untersuchung, die den Namen verdient. Denn nur der | |
Blick auf die Familien erlaubt es, ein adäquates Bild der Ereignisse zu | |
zeichnen. Zwar hat das ZDF in Kooperation mit Arte „Revision“ koproduziert. | |
Man fragt sich aber, wo das zeitzeugensüchtige öffentlich-rechtliche | |
Fernsehen war, als es darum gegangen wäre, eine große Dokumentation, einen | |
Mehrteiler zur Welle rassistischer Übergriffe nach der Wiedervereinigung zu | |
machen, die sich nun jährt und keineswegs abgeschlossene Geschichte ist. | |
Man könnte über „Revision“ in der Terminologie des Historikers zwischen d… | |
Anlass, den Schüssen von Jägern auf Menschen in einem morgendlichen Feld, | |
und einer denkbaren Ursache, der spezifischen politischen Konstellation im | |
eben wiedervereinigten Deutschland, sprechen. | |
Das Jahr 1992, in dem Grigore Velcu und Eudache Calderar erschossen wurden, | |
ist das Jahr eines Pogroms, der Tage lang von den Behörden hingenommen und | |
zur Primetime live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet wurde. | |
## Roma in Lichtenhagen | |
Ein Mann sitzt an seinem Schreibtisch. Hinter ihm eine rumänische und eine | |
europäische Flagge. Er hört sich dabei zu, wie er sagt: „Grigore Velcu hat | |
Frieden in unserer Gemeinschaft in Craiova gestiftet, vor allem, wenn es | |
Probleme in unseren Familien gab. Auch mir wurde von diesem rumänischen | |
Bürger, der zur Ethnie der Roma gehörte, geholfen.“ | |
Der Mann ist zufrieden mit den von ihm mit Bedacht gewählten Worten. Er ist | |
Beauftragter für Roma-Angelegenheiten in dem rumänischen Bezirk, aus dem | |
Grigore Velcu stammt. Er war selbst mit seiner Familie in | |
Rostock-Lichtenhagen, als der Mob das Sonnenblumenhaus anzündete. | |
Seinen tragischen Höhepunkt erreicht „Revision“, als sich herausstellt, | |
warum Grigore Velcu auf die Reise ging, von der er nicht zurückkehrte. Als | |
seine Mutter in einem Asylbewerberheim im Dorf Gelbensande starb, wurde sie | |
auf dem dortigen Friedhof begraben. Doch ihre Grabstätte wurde 1992 | |
mehrmals verwüstet. | |
Grigore Velcu wollte die Überreste seiner Mutter nach Rumänien überführen. | |
Um die nötigen Papiere zu besorgen, fuhr er heimlich nach Rumänien. Als | |
Asylbewerber durfte er den Landkreis nicht verlassen. | |
13 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
Ulrich Gutmair | |
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