| # taz.de -- Film über Rostock-Lichtenhagen 1992: Rassismus als Normalzustand | |
| > Anfang der 90er Jahre hatten Neonazis in Rostock ein Asylbewerberheim in | |
| > Brand gesteckt. Burhan Qurbanis Film zeigt die Zeit aus Sicht einer | |
| > Clique. | |
| Bild: Die Clique trifft auf die Polizei: Ausschnitt aus „Wir sind jung. Wir s… | |
| Müll, Scherben, Dreck und Stille. Drei Kinder fahren am Morgen mit einem | |
| scheppernden Einkaufswagen in der menschenleeren Plattenbausiedlung | |
| Rostock-Lichtenhagen herum und sammeln Pfandflaschen. Das Mädchen trägt | |
| Hotpants, der eine der beiden Jungen hat seine Karottenjeans ganz hoch über | |
| die Hüfte gezogen, das T-Shirt steckt drin. Dann blickt die Kamera auf die | |
| Clique, die in einem Auto herumhängt. | |
| „Wir sollten gar nicht hier sein“, sagt Phillipp. Früher war er um fünf | |
| schon bei der Arbeit. „Jetzt bin ich hier. Auch nicht schlecht. Aber was | |
| mach ich morgen“, fragt er sich. „Morgen um dieselbe Zeit ist Rostock | |
| ausländerfrei“, antwortet sein Kumpel Sandro. Er ist ihr Anführer, ein | |
| ideologisch gefestigter Neonazi, der sich am Vorabend der „völkischen | |
| Revolution“ wähnt. | |
| Dieser Dialog erscheint fast ein bisschen dämlich in seiner | |
| plakativ-didaktischen Darlegung der narrativen Ausgangslage. Aber so | |
| simpel, wie der Zuschauer am Anfang befürchtet, wird es nicht bleiben. „Wir | |
| sind jung. Wir sind stark“ ist weit davon entfernt, die Flucht in ein | |
| Märchen zu ermöglichen, in dem es Schurken, strahlende Helden und | |
| schließlich ein Ende gibt, nach dem man sich kathartisch geläutert im | |
| Kinosessel zurücklehnen kann. | |
| Der Film zeigt in jedem Augenblick, wie verloren und unglücklich diese | |
| Jugendlichen sind, die nur der Umstände wegen zusammen zu sein scheinen. Er | |
| zeigt, wie brutal sie auch miteinander umgehen. | |
| ## Auf Ausländer wirft man Steine | |
| Der Krawall, die Action, der Angriff auf Schwächere kann das nur für einen | |
| Moment übertünchen. Am Ende haben selbst die flaschensammelnden Kinder | |
| schon gelernt, dass man auf Ausländer Steine schmeißt. „Wir sind jung. Wir | |
| sind stark“ zeigt, wie rassistische Gewalt in Deutschland Normalzustand | |
| wurde. Als die Macher vor Jahren mit den Recherchen für ihren Film | |
| begannen, war vom NSU noch keine Rede. An Orten wie Lichtenhagen liegt sein | |
| Ursprung. | |
| „Wir sind jung. Wir sind stark“ ist ein drastischer, außergewöhnlicher und | |
| sehr guter Film. Größtenteils in Schwarz-Weiß gedreht, erzählt er in immer | |
| wieder überraschenden Kameraperspektiven vom 24. August 1992, der als Tag | |
| des ersten Pogroms in Deutschland seit Kriegsende in die Geschichte | |
| eingehen wird. Regisseur Burhan Qurbani war damals noch fast ein Kind. Er | |
| wurde 1980 als Sohn afghanischer Eltern in Erkelenz geboren. Das Drehbuch | |
| hat er zusammen mit Martin Behnke geschrieben, der gebürtiger Ostberliner | |
| ist. | |
| Behnke hat ein 73 Seiten langes Dossier geschrieben (nachzulesen auf der | |
| Website des Verleihs, [1][www.zorrofilm.de]), das die Hintergründe der | |
| Ereignisse offenlegt. Darin kann man über die Arbeitslosenzahlen in | |
| Lichtenhagen nachlesen, über Rechtsextremismus in West- und Ostdeutschland | |
| vor und nach der Wende, über die Beteiligung westdeutscher Neonazikader am | |
| Pogrom, die ihre Truppen per Funkgerät steuerten. Man erfährt, wie sich die | |
| erste Generation von Lokalpolitikern in Rostock nach zwei Jahren | |
| ergebnisoffener Kommunalpolitik erschöpft in die Parteipolitik zurückzog. | |
| Und man kann noch einmal schaudernd nachlesen, wie sich Behörden | |
| gegenseitig die Zuständigkeit für die unhaltbaren Zustände im | |
| Lichtenhagener Asylbewerberheim zuschoben und wie vor allem | |
| Christdemokraten, aber auch manche Sozialdemokraten rassistische Gewalt und | |
| Propaganda verharmlosten und relativierten – und so der Hegemonie der | |
| Neonazis an manchen Orten Ostdeutschlands den Weg bereiteten. | |
| ## Mehr als gründliche Recherche | |
| Beim Schauen merkt man schnell, dass dieser Film auf langer und mehr als | |
| gründlicher Recherche basiert. Die Leistung Qurbanis und Behnkes besteht | |
| darin, dass sie alles, was wichtig für das Verständnis der Ereignisse ist, | |
| wie nebenbei in ihren Film einfließen ließen, ohne ihre Figuren auch nur | |
| einen Moment aus den Augen zu lassen. Manchmal lassen sie die jungen | |
| Schauspieler Sätze sagen, die damalige Jugendliche so oder ähnlich | |
| tatsächlich formuliert haben. | |
| Da sind die Freunde Stefan (Jonas Nay) und Robbie (Joel Basman), die beide | |
| in Jennie (Saskia Rosendahl) verliebt sind. „Die Fotze hat ’nen | |
| Dachschaden. Kein Gefühl“, sagt Robbie über Jennie. Dabei würde er gern | |
| heiraten und Kinder kriegen. „Die bricht dir alles von innen.“ | |
| Stefan ist der Sohn eines Lokalpolitikers (Devid Striesow), der hilflos | |
| einer Situation gegenübersteht, in der man abwägen muss zwischen der | |
| Parteipolitik, der Karriere und dem, was ethisch und politisch zu tun | |
| geboten wäre. Also macht er gar nichts, versteckt sich zu Hause, hört | |
| klassische Musik und entzieht sich der Verantwortung, so wie es einige | |
| Politiker und Beamte in Rostock während des Pogroms wirklich getan haben. | |
| Stefans Vater ist ein Opfer seiner Illusion: „Wir sind das Volk, keine | |
| Gewalt!“, ruft er einsam auf dem Höhepunkt des Pogroms, das live vom | |
| Fernsehen übertragen wird. Die Antwort darauf lautet: „Deutschland den | |
| Deutschen, Ausländer raus“, skandiert vom Mob um ihn herum. Sein | |
| Parteigenosse hat ihm vorher erklärt, die Bundes-SPD werde unter Druck | |
| gesetzt, um sie dazu zu zwingen, der Änderung des Asylrechts zuzustimmen: | |
| „Wir machen nichts, und damit basta.“ | |
| ## Kaputtes Koordinatensystem | |
| Joel Basman gibt absolut überzeugend Stefans Freund Robbie. Dieser dünne, | |
| verschmitzte Junge mit der Zahnspange ist unglaublich drahtig, wendig und | |
| schnell. Er ist ein Tänzer und hat weder Angst noch Respekt vor irgendwas | |
| oder irgendwem. Er ist vielleicht der Klügste und zugleich der Zynischste | |
| von allen. Er fordert Stefans Vater heraus, er durchschaut die Erwachsenen, | |
| deren Koordinatensystem nicht mehr in der Lage ist, sich im | |
| wiedervereinigten Deutschland, das gerade in eine tiefe Rezession rutscht, | |
| zurechtzufinden. | |
| Robbie und Stefan sind intelligent, gebildet und rhetorisch gewandt. Es | |
| sind Kader-Kinder, Kinder der DDR-Mittelklasse und der Nomenklatura, die in | |
| Lichtenhagen in der ersten Reihe stehen – nicht nur dramaturgisch klug, | |
| sondern auch historisch korrekt. Stefans Opa sagt an einer Stelle zu dessen | |
| Vater: „Mein Vater hat gegen die Demokraten gekämpft, weil er Faschist war. | |
| Ich habe gegen meinen Vater gekämpft, weil ich Kommunist bin. Dann hast du | |
| gegen mich gekämpft, weil du Demokrat sein willst. Und jetzt frage ich | |
| mich, was Stefan gerade tut.“ | |
| Im Titel zitiert der Film einen Song der Deutsch-Amerikanischen | |
| Freundschaft (DAF) namens „Verschwende deine Jugend“, den das Düsseldorfer | |
| Duo Anfang der achtziger Jahre schrieb. Die Jungs aus der Clique wollen | |
| sich nicht haltlos, verwirrt und abgehängt fühlen, sondern jung und stark | |
| sein: das heißt, mit der verlogenen Welt der Erwachsenen, die eben noch | |
| Stasioffiziere waren und jetzt kapitalistische Unternehmer sind, nichts zu | |
| tun haben zu wollen. | |
| Diese Stärke könnte auch genauso gut anders eingesetzt werden als für | |
| rassistische Krawalle gegen „Zigeuner“ und Brandanschläge auf ein Haus | |
| voller Vietnamesen, die schon seit vielen Jahren in der Siedlung leben. Als | |
| ihr Führer, der Neonazikader Sandro (David Schütter), der sie ideologisch | |
| auf Linie zu bringen versucht, mal nicht da ist, schaltet die Gruppe | |
| umstandslos vom Singen eines Nazisongs auf die Internationale um. Man | |
| glaubt zu hören, dass sich schöne Gefühle an die Kindheit mit diesem Lied | |
| verbinden. „Total frei sein ist nur total allein sein“, sagt eins der | |
| Mädchen einem Fernsehteam, während Anwohner den Molotow werfenden | |
| Jugendlichen, die ihre Kinder sind, Beifall klatschen. | |
| ## „Live Is Life“ statt Fascholieder | |
| Die Freundin des Neonazis, Katrin (Larissa Fuchs), kommt bestens mit ihrer | |
| Arbeitskollegin Lien (Trang Le Hong) klar. Lien will in Deutschland | |
| bleiben, während ihr Bruder das Land wegen der rassistischen | |
| Ausschreitungen und Morde verlassen will. „Die haben nur die Häuser | |
| verwechselt“, sagt Lien zu ihrem Bruder. Dass Katrins Tochter sie | |
| „Schlitzi“ nennt, stört sie nicht, weil sie weiß, dass das Kind keine | |
| Ahnung von dem hat, was es da sagt. Die drei mögen sich. | |
| In einer anderen Szene provoziert Robbie den strammen Sandro, Katrins | |
| Freund, der im Autoradio wieder einmal „Deutschland, ein Volk stirbt aus“ | |
| hört und lautstark mitsingt. Robbie dreht am Tuningknopf des Radios, bis | |
| „Live Is Life“ zu hören ist, woraufhin ihn Sandro beinahe erwürgt. Die | |
| Clique besteht nicht aus Neonazis, rechts sind sie trotzdem. | |
| Auf der Polizeiwache fragt eine ehemalige Klassenkameradin, ein | |
| Punkmädchen, Stefan: „Bist du links oder rechts?“ Der bellt so verunsichert | |
| wie aggressiv zurück: „Was hast denn du jetzt für ein Problem? Kann man | |
| nicht einfach normal sein?“ Sie daraufhin lakonisch: „Also biste rechts.“ | |
| So einfach und akkurat kann man die Verhältnisse an manchen Orten in | |
| Deutschland noch heute zusammenfassen. | |
| 21 Jan 2015 | |
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| Ulrich Gutmair | |
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