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# taz.de -- 20 Jahre nach Solinger Brandanschlag: Eine Wunde, die nicht verheil…
> Der Anschlag auf die türkische Familie hat die Stadt ins Mark getroffen,
> sagt die grüne Politikerin Sylvia Löhrmann. Rassismus gebe es noch heute.
Bild: Vor dem abgebrannten Haus in der Unteren Wernerstraße in Solingen. Hier …
SOLINGEN taz | Sylvia Löhrmann denkt oft an jene furchtbare Nacht heute vor
zwanzig Jahren. „Das ist eine Wunde“, sagt die heutige
Vizeministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. „Diese Wunde, die kann
nicht verheilen.“ Von ihrer Wohnung in Solingen sind es nur rund 500 Meter
Luftlinie zur Unteren Wernerstraße 81. Wo am 29. Mai 1993 das alte
Fachwerkgebäude der Familie Genç in Flammen stand. Wo fünf Menschen
starben.
Heute klafft dort eine Baulücke. Auf dem eingezäunten Grundstück wachsen
fünf Kastanien. Ein Baum für jedes Todesopfer. Auf einem Gedenkstein stehen
ihre Namen: Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und …
Genç. Die Jüngste 4 Jahre alt, die Älteste 27. Ermordet von vier
rechtsextremen Skinheads aus der Nachbarschaft.
Das Benzin für ihre Tat besorgten sie sich von der Tankstelle gegenüber von
Löhrmanns Wohnung. „Beim Gedanken daran stockt mir immer noch der Atem“,
sagt die Grünen-Politikerin. „Das war ein rassistischer Brandsatz auf die
türkische Familie – und es war auch ein Brandsatz in das Selbstverständnis
der Stadt.“
Einmal im Monat besuchen Mevlüde und Durmus Genç den Ort, an dem ihre
Kinder, Enkel und eine Nichte ihr Leben verloren. „Mir würde etwas fehlen,
wenn ich nicht dorthin ginge“, sagt Mevlüde Genç. Beerdigt sind ihre
Angehörigen weit weg in Mercimek, jenem kleinen türkischen Dorf, aus dem
Durmus Genç 1970 aufbrach, um ein besseres Leben zu finden. Im Jahr 1973
folgte Mevlüde Genç ihrem Mann in die Bundesrepublik. Solingen wurde zu
ihrer neuen Heimat. Auch nach dem Brandanschlag habe sie „nie daran
gedacht, in die Türkei zurückzukehren“, sagt die heute 70-Jährige.
Die Familie Genç wohnt heute sehr zurückgezogen am anderen Ende Solingens.
Das graue Dreiparteienhaus ist von einem Metallzaun umgeben. Videokameras
zeichnen jede Bewegung von außen auf. Im Brandfall würden sich die Fenster
automatisch öffnen. Gebaut wurde das Haus vom Geld der Versicherung und von
Spenden. „Wir haben nie Schmerzensgeld von den Tätern bekommen“, sagt
Mevlüde Genç. „Wir sind immer so zurechtgekommen.“
## Täter sind längst wieder auf freiem Fuß
Die zum Tatzeitpunkt 16 und 23 Jahre alten Brandstifter stammten aus der
Solinger Neonazi-Szene. Im Oktober 1995 wurden sie zu Jugend- und
Haftstrafen zwischen zehn und fünfzehn Jahren verurteilt. Längst sind sie
wieder auf freiem Fuß. Der letzte des Mordquartetts kam 2005 nach zwölf
Jahren und einem Monat vorzeitig aus der Haft. Reue gezeigt hat keiner der
vier Männer.
Sie glaube, „dass die Täter ihre gerechte Strafe bekommen haben“, sagt
Mevlüde Genç. Zwar könne sie ihnen nicht vergeben, empfinde jedoch keinen
Hass. Sie wünsche sich nur, „dass in Zukunft nie wieder so etwas passiert,
und dass kein Mensch diese Schmerzen fühlen muss“.
Der Brandanschlag „hat Solingen ins Mark getroffen“, sagt Sylvia Löhrmann.
Buchstäblich über Nacht befand sich die hügelige Industriestadt am Rande
des Rheinlands im Ausnahmezustand. „Die gesamte türkische Gemeinschaft war
verständlicherweise in Aufruhr“, erinnert sich Löhrmann. 36 Jahre war sie
damals alt, Fraktionssprecherin der Solinger Grünen, Lehrerin an der
örtlichen Gesamtschule. Als sie das erste Mal nach der Brandnacht wieder
ihre Klasse unterrichtete, sagten ihr die türkischen Schüler: „Das hätten
auch wir sein können.“ So empfanden es viele Migranten. In ihrem
kollektiven Bewusstsein gibt es bis heute ein Deutschland vor Solingen und
eines nach Solingen.
Die Toten von der Unteren Wernerstraße waren die fast schon zwangsläufige
Folge einer Eskalation, der Politik, Polizei und Justiz allzu lange nicht
hatten Einhalt gebieten wollen. Begleitet von einer hysterischen Debatte
über vermeintliche „Flüchtlingsströme“, die das wiedererstarkte Deutschl…
„überschwemmen“ würden, ergoss sich Anfang der 90er Jahre eine Flut von
rassistischen Überfällen und Anschlägen über die Republik. Während sich die
einen als geistige Brandstifter betätigten, schritten die anderen zur Tat.
## Neonazis wüteten in ganz Deutschland
Aufgrund der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen in der
Rückschau oft zu Unrecht als ostdeutsches Phänomen begriffen, wüteten
seinerzeit neonazistische Mörderbanden allerorten und in einem heute kaum
noch vorstellbaren Ausmaß. So wurden 1992 alleine in Baden-Württemberg 83
Brand- und Sprengstoffanschläge mit fremdenfeindlichem Hintergrund
registriert, in Bayern 29 und in Niedersachsen 93. In Schleswig-Holstein
gab es dem Landeskriminalamt zufolge 35 Übergriffe auf
Asylbewerberunterkünfte, Wohn- und Gewerbeobjekte von Migranten. Ein halbes
Jahr vor Solingen kamen bei einem Brandanschlag im schleswig-holsteinischen
Mölln die 51-jährige Bahide Arslan und ihre 10- und 14-jährigen Enkelinnen
Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz um.
Als makabre Konsequenz aus den rassistischen Exzessen verständigten sich
Union, SPD und FDP auf den „Asylkompromiss“. Am 26. Mai 1993 beschloss der
Bundestag mit der nötigen Zweidrittelmehrheit die De-facto-Abschaffung des
Grundrechts auf Asyl. Drei Tage später brannte das Haus der Familie Genç.
„Wir hatten damals in Deutschland im Umfeld der Asylgesetzgebung eine
hochgradig aufgeladene Stimmung gegen Ausländer“, erinnert sich Löhrmann.
Bei der Trauerfeier für die Toten von Solingen glänzte der damalige
CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl durch Abwesenheit. „Die schlimme Sache wird
nicht besser dadurch, dass wir in einen Beileidstourismus ausbrechen“, ließ
er über seinen Regierungssprecher ausrichten. Kohl habe „nun weiß Gott auch
andere wichtige Termine“.
Eine Haltung, die Armin Laschet, der heutige Vorsitzende der NRW-CDU, nicht
mehr nachvollziehen kann. „Es wäre so einfach gewesen, gerade gegenüber der
Familie Genç, die so großes Leid erfahren hat, Anteilnahme und Solidarität
im Leid zu signalisieren“, ist er überzeugt. Mevlüde Genç mache es „einem
leicht, weil sie ein Vorbild an Versöhnungsbereitschaft und Großherzigkeit
ist“. Auf Laschets Vorschlag hin nominierte die CDU die gläubige Muslima
2012 als Wahlfrau für die Bundespräsidentenwahl. Ein kleines Zeichen der
Wiedergutmachung.
„Lasst uns Freunde sein“ – das war der eindringliche Appell von Mevlüde
Genç unmittelbar nach dem Brandanschlag. Kein aggressives Wort kam ihr über
die Lippen. Bis heute hält sie unbeirrbar an ihrer Botschaft fest: „Wir
sind doch alle Brüder und Schwestern und müssen friedlich zusammenleben.“
Das sehen nicht alle in Solingen so. Nicht wenige Einwohner wollen, dass
endlich Schluss ist mit dem Gedenken. Sie ärgern sich über den besudelten
guten Ruf ihrer Stadt. Da geht das Mitgefühl mit den tatsächlichen Opfern
leicht verloren. Manche scheinen es der Familie Genç nicht verzeihen zu
wollen, dass deutsche Rechtsextremisten ihr Haus anzündeten. „Der Umgang
mit dem Brandanschlag hat die Stadtgesellschaft gespalten“, räumt Löhrmann
ein. „Auch in Solingen gibt es nach wie vor einen Bodensatz an
fremdenfeindlicher Gesinnung.“
## Löhrmann: „Solingen bleibt ein Auftrag“
Um den „sozialen Frieden“ nicht zu gefährden, so die damalige Begründung,
wurde ein 1994 errichtetes Mahnmal zum Gedenken an das Attentat nicht im
Zentrum, sondern zweieinhalb Kilometer entfernt vor dem
Mildred-Scheel-Berufskolleg aufgestellt. Hier ging die 18-jährige Hatice
Genç bis zu ihrem Tod zur Schule.
Anders als in Frankfurt am Main oder Bonn haben sich die
Stadtverantwortlichen von Solingen bislang nicht dazu durchringen können,
eine Straße nach den Opfern zu benennen. Aber immerhin gibt es seit
September 2012 den Mercimek-Platz, benannt nach dem Herkunftsdorf der
Familie Genç.
Mit zahlreichen Veranstaltungen begeht Solingen in diesen Wochen den 20.
Jahrestag des Anschlags. „Der Familie Genç ist unermessliches Leid
widerfahren, und wir wissen, dass wir den Makel dieses feigen
Brandanschlages nicht abstreifen können“, sagte CDU-Oberbürgermeister
Norbert Feith bei der Vorstellung des Programms. Am Mittwoch findet die
offizielle Gedenkveranstaltung der Stadt im Theater- und Konzerthaus statt.
Mit dabei wird auch Sylvia Löhrmann sein. „Solingen bleibt ein Auftrag“,
sagt sie. „Der Kampf für gleiche Rechte, eine Kultur des Respekts und des
Miteinanders, eine Kultur der Anerkennung ist eine Daueraufgabe der
aufgeklärten Gesellschaft.“
29 May 2013
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Brandanschlag
Sylvia Löhrmann
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Pogrom
Flüchtlinge
Wolfsburg
Rechtsextremismus
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