# taz.de -- 20 Jahre Pogrom in Lichtenhagen: „Rostock ist ein Trauma“ | |
> Seit dem Pogrom von Rostock beschäftigt sich Kien Ngi Ha mit Rassismus. | |
> Der Politologe untersucht rassistische Gewalt und das Trauma der | |
> Vietnamesen in Deutschland. | |
Bild: „Hemmungslose Entladung rassistischer Gewalt“: Pogrom-Teilnehmer vor … | |
taz: Herr Ha, das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen jährt sich jetzt zum 20. | |
Mal. Wie haben Sie es damals erlebt? | |
Kien Nghi Ha: Ich war zwanzig Jahre alt und hatte in Berlin gerade mein | |
Politikstudium aufgenommen. Rostock hat bei mir zu einer verstärkten | |
Auseinandersetzung mit Rassismus geführt, die bis heute einen Schwerpunkt | |
meiner Arbeit bildet. | |
Wird Rostock von der deutsch-vietnamesischen Community als Einschnitt | |
gesehen – so wie die Brandanschläge von Mölln und Solingen von vielen | |
Deutschtürken? | |
Wer als asiatischer Deutscher die hemmungslose Entladung von rassistischer | |
Gewalt erlebte, die sich gegen vietnamesisch aussehende Menschen richtete, | |
den konnte das nicht kalt lassen – auch wenn man zu einer Gruppe gehört, | |
die dankbar war, als Boat People aufgenommen worden zu sein, was für viele | |
eine Rettung und gesellschaftlichen Aufstieg bedeutete. | |
Erinnern sich Vietnamesen im Westen anders an die Ereignisse als die | |
Vietnamesen im Osten? | |
Ja, sehr. Bis heute bestehen aufseiten der ehemaligen Boat People im Westen | |
starke Vorbehalte gegen die vietnamesische Community im Osten. Die Mehrheit | |
der Vietnamesen im Westen hat sich eingeredet, man sei gut integriert, | |
während man die Vietnamesen im Osten mit Zigarettenhandel, Schleuserbanden | |
und Kriminalität in Verbindung brachte und sie selbst für ihre Misere | |
verantwortlich machte. | |
Man hat damit die Schuldzuweisungen der Mehrheitsgesellschaft übernommen. | |
Die vietnamesische Community im Osten wiederum ist durch Rostock stark | |
traumatisiert worden, was es ihnen erschwert hat, zu einer eigenen Stimme | |
zu finden. | |
Die Vietnamesen im Osten gehörten zu den größten Verlierern der Einheit? | |
Ja, denn die Vertragsarbeiter wurden als Allererste entlassen. Dabei waren | |
viele Vietnamesen aufgrund ihrer Ausbildung sogar überqualifiziert für die | |
Jobs, die sie in der DDR ausführen mussten. Nach der Wende wurde ihr | |
Aufenthaltsrecht an strenge Auflagen gebunden: Nur wer über einen eigenen | |
Arbeitsplatz verfügte und nicht von sozialen Transferleistungen abhängig | |
war, konnte eines bekommen. Damit hat man viele in die | |
Zwangsselbständigkeit getrieben, denn die Wirtschaftslage in der Ex-DDR war | |
ja dramatisch. | |
Heute gelten Vietnamesen als sehr integriert, weil sie im Bildungsbereich | |
überdurchschnittlich gut abschneiden, und werden deshalb gern als Vorbild | |
hingestellt. Zu Recht? | |
Ja, die vietnamesischen Migranten gelten als Modellminorität. Diese | |
Sichtweise hat sich aber erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Das | |
zeigt, wie wandelbar solche Bilder sind. Davor hat man sich für die | |
Vietnamesen im Westen schlichtweg überhaupt nicht interessiert – und die | |
ostdeutschen Vietnamesen galten als ungebetene Gäste, die Probleme | |
verursachten, weshalb man sie so schnell wie möglich abschieben wollte. | |
Deshalb wurde 1995 ja auch das Rückführungsabkommen geschlossen, wonach | |
40.000 Vietnamesen Deutschland verlassen sollten. | |
Werden Asiaten denn nicht mit positiveren Klischees bedacht als andere | |
Gruppen? | |
Mag sein. Es ist aber eine Fiktion, zu glauben, Vietnamesen seien deshalb | |
besonders wenig von Rassismus betroffen. Man ist weniger davon betroffen, | |
wenn man einen bestimmten sozialen Status erlangt hat, sich unterordnet und | |
unsichtbar macht. Aber Alltagsrassismus macht auch vor Vietnamesen nicht | |
Halt. | |
Wie reagiert man darauf? | |
Die Haltung bei vielen ist: Wenn wir uns politisch passiv und freundlich | |
verhalten, dann bieten wir keine Angriffsfläche. Das ist eine kulturelle | |
Überlebensstrategie, die in vielen Familien weitergegeben wird. Doch alle | |
Bemühungen und eine erfolgreiche Bildungskarriere garantieren nicht, dass | |
man als vollwertiger Teil dieser Gesellschaft akzeptiert wird und nicht | |
immer wieder an gläserne Decken stößt. | |
Von vietnamesischen Organisationen wird da leider keine offensive | |
Auseinandersetzung eingefordert, das vermisse ich. Andere Gruppen sind da | |
selbstbewusster – und nur so kann man auf Medien und Politik einwirken. | |
20 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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