# taz.de -- Die taz 1992 über Lichtenhagen: Das Haus brennt lustig weiter | |
> Wie die taz 1992 über Rostock-Lichtenhagen berichtete. Teil 2: Kurz bevor | |
> der erste Brandsatz fliegt, zieht sich die Polizei zum Schichtwechsel | |
> zurück. | |
Bild: 24. August 1992: In den frühen Abendstunden zeigt die Polizei noch Präs… | |
Am 22. August 1992 begann der Angriffe auf das Flüchtlingsheim in | |
Rostock-Lichtenhagen. Zum Jahrestag veröffentlichen wir noch einmal die | |
drei Reportagen, in denen die spätere taz-Chefredakteurin Bascha Mika die | |
Ereignisse 1992 dokumentierte. Den Text aus der taz vom 26. August (über | |
den 24. August) finden Sie unten, den Text aus der taz vom 25. August | |
[1][hier] und den Text aus der taz vom 27. August [2][an dieser Stelle]. | |
ROSTOCK taz | Ein Schlag, ein Knall, eine Stichflamme schießt in den | |
Nachthimmel, wirft ihr Licht auf verzerrte Gesichter. Ein Schrei löst die | |
Lippen: „Aaaooo!“ Getroffen. Der Molotowcocktail ist durch die zerborstene | |
Scheibe ins Zimmer geflogen, das Feuer frißt an den Gardinen. Hunderte | |
Männeraugen unter geschorenen Schädeln starren fasziniert auf ihr Werk. | |
Wieder ein Raum auf dem Weg zu Schutt und Asche. Wer wirft den nächsten | |
Leuchtkörper? Wer schmeißt den nächsten Brandsatz? Das ist geil, das ist | |
Krieg! – Mitten in der Stadt. | |
Das Flüchtlingswohnheim in Rostock-Lichtenhagen brennt. Rauch quillt aus | |
den Fensterlöchern des Erdgeschosses. Montag morgen wohnten noch 300 | |
Menschen hier, hatten Aufnahme in der Zentralen Anlaufstelle für | |
Asylbewerber (ZAST) in Mecklenburg-Vorpommern gefunden. Sie wurden im Laufe | |
des Tages evakuiert. Doch andere sind in dem Hochhauskomplex geblieben. 150 | |
VietnamesInnen, ehemalige DDR-VertragsarbeiterInnen. Sie haben hier ihren | |
festen Wohnsitz. Und jetzt sind sie eingeschlossen. | |
Holz splittert. Flammen schlagen an einer Hauswand hoch. Schwarzgekleidete | |
Arme mit Nazi-Emblemen strecken sich in die Luft. „Sieg Heil! Sieg Heil! | |
Sieg Heil!“ brüllt es aus weitoffenen Kehlen. Keine Polizei, keine | |
Feuerwehr. Weit und breit nichts als Rechte, mal mit Glatze, mal mit | |
Scheitel. | |
Rund 1.000 müssen es sein. Wer nicht vor dem Heim tobt, steht in kleinen | |
Gruppen auf dem Gelände herum, schwatzt, säuft, freut sich. Fast nur | |
Jugendliche. Fast alle lassen durch eindeutige Zeichen ihre saubere | |
nationale Gesinnung erkennen. Ungeniert. Die Anwohner von Lichtenhagen sind | |
heute seltener zu erblicken. | |
## Die AnwohnerInnen gehen auf Distanz | |
„Warum haben die heute überhaupt aufräumen und die Glaser kommen lassen?“ | |
schimpft eine dunkelhaarige Frau im leichten Sommermantel. „Die konnten | |
sich doch denken, daß es heute nacht weiter geht.“ „Aber ich finde,“ sagt | |
der halbwüchsige Sohn, „daß es jetzt langsam übertrieben wird. Die | |
Ausländer sind doch schon weg.“ | |
Rostock hat seine dritte Randalenacht. So schön hatte es angefangen, am | |
Samstag. 150 Ausländerhasser waren angerückt um das Flüchtlingsheim | |
leerzuprügeln. Das fanden die Anwohner toll. Das waren ihre Jungs, die | |
wollten genau wie die Leute der Siedlung ein ausländerfreies Lichtenhagen. | |
In der zweiten Nacht lieferten sich 500 Vermummte eine Straßenschlacht mit | |
der Polizei. Als sie vertrieben waren, war die Betonwüste zwischen den | |
Plattenbauten endgültig zu Stein geworden: Zahllose granitene Brocken, von | |
den S-Bahngleisen abgegriffen und als Wurfgeschosse verwendet, bedeckten | |
den Asphalt. | |
Jetzt wird den Anwohnern mulmig. Sind es diese Geister, die sie gerufen | |
haben? Die, die jetzt die Häuser abfackeln? „Heute ist es zum Kotzen,“ | |
murrt ein älterer Mann. Seine Gattin ergänzt: „Samstag und Sonntag hab | |
ich's verstanden. Das war Protest. Wir gucken es uns ja schon seit 'nem | |
Jahr an, das mit den Asylanten. Wie sie im Müllcontainer wühlen, Dreck | |
machen, überall hinscheißen.“ „Ja,“ sagt er, „aber das ist jetzt | |
Vandalismus.“ | |
Kurz vor 22 Uhr erwischen die ersten Brandsätze das Wohnheim. Es kokelt. Da | |
macht der Wasserwerfer kehrt. Mit ihm zusammen räumen die Polizisten den | |
Platz. Auf die Melodie von „Yellow Submarine“ gröhlen ihnen die Rechten | |
hinterher: „Haut den Bullen die Schädeldecken ein, Schädeldecken ein…!“ | |
## Die Polizei zieht sich zurück | |
Jetzt liegt noch ein Polizeikordon in mehr als einem Kilometer Entfernung | |
vor dem Gelände. Die Polizisten warten auf Parkplätzen, sperren die | |
umliegenden Straßen ab. Das Terrain vor der ZAST ist polizeifrei – und fast | |
ausländerrein. Die Brutalos haben freie Hand. Jetzt ist es ihr Deutschland. | |
Jetzt können sie machen, was sie wollen. Niemand wird sie daran hindern. In | |
einer Seitenstraße marschiert der letzte Polizeitrupp Richtung Baracke, in | |
der die Einsatzleitung untergebracht ist. „Macht ihr Pause?“ ruft ihnen ein | |
Passant zu. Die Uniformierten kneifen die Lippen aufeinander, rennen | |
wortlos an dem Mann vorbei. | |
Es ist 23.00 Uhr. Blaues Licht in der Luft. Ein Signalhorn. Ein | |
Feuerwehrauto fährt über den Rasen auf das brennende Haus zu. Stoppt abrupt | |
auf dem weichen Wiesenboden. Glatzen umringen den Wagen. Schlagstöcke | |
zischen durch die Luft. Kein Tropfen Wasser verläßt die Spritzrohre. | |
Stattdessen klettern die Feuerwehrmänner aus ihrem Führerhaus, suchen das | |
Weite. Die Jungmänner johlen. | |
Die Flammen in den Zimmern nagen sich weiter voran. Die vietnamesischen | |
Familien sind aufs Dach geflüchtet. Seit über einer Stunde hat die Polizei | |
den Rechten das Feld überlassen. Ab 18 Uhr hatten sich einige | |
Hundertschaften mit den Jugendlichen Scharmützel geliefert. Die Beamten | |
waren taktisch klüger vorgegangen als an den vergangen Tagen: hatten die | |
Fußgängerbrücke über die S-Bahn – einen strategisch wichtigen Punkt – v… | |
beiden Seiten in die Zange genommen. Einige Stunden flogen Steine und | |
Mollis, dann hatte die Polizei die Brücke erobert. Die Jugendlichen | |
verdrückten sich über die Gleise. | |
Doch sie kamen wieder und es wurden immer mehr. Einen Ring um das | |
Flüchtlingsheim wie am Vortag konnten die Polizisten nicht legen. Sie waren | |
zu wenig, die Gegner gut ausgerüstet. Die schlugen mit Stöcken, warfen mit | |
Granitsteinen, beschossen die Beamten mit Leuchtspurmunition. Ohne | |
Rücksicht, einfach drauf. In kürzester Zeit hatten die Faschos das Asylheim | |
erreicht. Der Wasserwerfer konnte nicht viel ausrichten. Wird er nicht | |
richtig geschützt, setzt ihn der erstbeste Molli in Brand. Für alles zu | |
wenig Beamte. | |
## „Das ist ja hier wie ein Volksfest“ | |
Am Supermarkt links vom Flüchtlingsheim steht ein junger Dicker. Es ist | |
jetzt 23.30. Seit mehr als anderthalb Stunden ist kein Ordnungshüter in | |
Sicht. „Das ist ja hier wie ein Volksfest,“ meint er. Ein Rechter sei er, | |
aber nicht radikal. Das hier findet er trotzdem gut. Alles ist locker, fast | |
entspannt. Das Haus brennt lustig weiter, als hätte es nie eine Feuerwehr | |
in Deutschland gegeben. Niemand, der das Vergnügen der Glatzen stört. Die | |
üben sich weiter im Molliweitwurf. | |
Ihre Kumpane auf der Wiese finden das inzwischen fast langweilig. Plötzlich | |
entdecken sie einige Weißhelme auf der S-Bahnbrücke. Gekreische, Gerenne | |
auf die Brücke zu. Zack, kein Polizist mehr zu sehen. Ein paar Minuten | |
später zuckt Blaulicht auf dem Parkplatz vor dem Gelände. Mehrere | |
Polizeiwagen haben sich angepirscht. Die Bande tobt darauf zu. Die Wagen | |
drehen, ergreifen die Flucht. | |
23.40 Uhr. Die Zuschauer, die auf der Zufahrtsstraße herumlungern, stieben | |
auseinander. Eine Hundertschaft marschiert heran, Stock in der Hand, | |
Schilde erhoben. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Hunderte Steine hageln | |
durch die Luft, knallen auf die Körper der Beamten, auf den matten | |
Plastikschutz. Die Männer drücken sich aneinander. Sie tragen normale | |
Uniformhosen. Nicht gepolstert, nicht wattiert. Ein Geschoß und die | |
Kniescheibe ist hin. | |
## Wie bei Asterix | |
Mit ihren Schilden bauen sie eine Schildkröte – wie die Römer in Asterix. | |
Nur ist das hier weniger lustig. Zwischen den Brocken weichen sie nach | |
hinten aus, bis sie das Feuerwehrauto erreicht haben. Kurze Zeit später | |
spritzt ein müder Wasserstrahl aus einem Rohr. | |
24.00 Uhr. Auf dem Hof der Einsatzzentrale der Polizei hocken Uniformierte | |
auf den Trittbrettern ihrer Wagen, kauen Butterbrote, trinken Cola. | |
Mindestens zehn Autos stehen hier, mindestens hundert Beamte daneben. | |
„Kommen. Wir brauchen dringend Verstärkung. Bitte kommen,“ tönt es aus | |
einem Sprechfunkgerät. Die Kollegen auf dem Kampfplatz vor dem | |
Flüchtlingsheim rufen um Hilfe. Niemand reagiert, niemand rührt sich. Es | |
wird noch ein halbe Stunde dauern bis BGS Einheiten in Lichtenhagen | |
erscheinen. Erst dann wird auch den VietnamesInnen geholfen werden. | |
„Die Leute waren 20 Stunden im Dienst,“ erklärt Siegfried Kordus, Leiter | |
der Polizeidirektion Rostock. Sie hätten dringend abgezogen und durch neue | |
Kräfte ersetzt werden müssen. „In der vergangenen Nacht war hier Krieg, | |
Darauf sind wir nicht vorbereitet.“ Daß zwischen dem Abzug der einen und | |
der Ankunft der anderen Beamten knapp zwei Stunden lagen, will Kordus kaum | |
glauben. Daß er den Rechtsradikalen bewiesen hat, was man erreichen kann in | |
diesem Land, ebenso wenig. Warum hat er nicht früher Verstärkung kommen | |
lassen? „In diesem Land gibt es fast keine Verstärkung mehr,“ sagt Kordus, | |
resigniert, übermüdet. So ist das. Jede Menge Randale und Deutschland wird | |
polizei- und ausländerfrei. | |
[3][Weiter zu Teil 3]. | |
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24 Aug 2012 | |
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