| # taz.de -- 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Die offene Wunde | |
| > Das Neubauviertel im Norden der Stadt steht seit 1992 für Fremdenhass. | |
| > Wie gehen die Bewohner heute damit um? Erkundungen und einige | |
| > Erkenntnisse. | |
| Bild: Seit 20 Jahren ist das Sonnenblumenhaus ein Synonym für Fremdenhass. | |
| ROSTOCK taz | Weithin sichtbar leuchten die drei Sonnenblumen an der | |
| Fassade eines Hochhauses in der Mecklenburger Allee. Ein Block mit | |
| Wohnungen, verteilt auf elf Etagen und sieben Eingängen. Das 33 Jahre alte | |
| Hochhaus mit den Blumen aus Klinkersteinen gehört zu den größten | |
| Wohngebäuden in Rostock. Seit der Errichtung vor über 30 Jahren ist es ein | |
| Wahrzeichen zwischen Rostock und Warnemünde, in das viele Parteigenossen, | |
| Armeeoffiziere und andere verdienstvolle Werktätige gezogen waren. | |
| Früher trug die Straße den Namen Hermann Matern, der an einem Versuch | |
| mitwirkte, eine Volksfront gegen das NS-Regime zu schaffen, und später | |
| Mitglied des Verteidigungsrates der DDR war. Seit 20 Jahren ist das | |
| Sonnenblumenhaus ein Synonym für Fremdenhass. | |
| Es gilt, an 20 Jahre Lichtenhagen zu erinnern, an Ereignisse, die bis heute | |
| nur schwer begreiflich sind und deren Ursachen noch immer nicht | |
| aufgearbeitet sind. Es fängt schon bei den unterschiedlichen Bezeichnungen | |
| an. Ereignisse, Krawalle, Brandstiftungen. Rassistische, | |
| rechtsextremistische, menschenverachtende Ausschreitungen. Pogromähnliche | |
| Überfälle. Das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. | |
| Als sich Lichtenhagen 2002 zum zehnten Mal jährte, warfen rechte | |
| Jugendliche aus Rostock und Umgebung wenige Tage vor einem Friedensfest in | |
| Lichtenhagen Steine und Molotow-Cocktails in einen Asia-Imbiss, einen | |
| asiatischen Supermarkt und ein Büro der Arbeiterwohlfahrt, das im | |
| Sonnenblumenhaus seinen Sitz hatte. Jetzt, wiederum zehn Jahre später, gab | |
| es in der Nacht zum vergangenen Sonntag einen versuchten Brandanschlag auf | |
| ein alternatives Wohnprojekt in Rostock. Der Verdacht, so die Polizei, dass | |
| Rechtsextremisten den Molotowcocktail auf das Haus in der Kröpeliner | |
| Tor-Vorstadt geworfen haben, liege nahe. Die NPD, die zwei Sitze in der | |
| Rostocker Bürgerschaft hat, feiert Lichtenhagen als „Volksaufstand“. | |
| ## „Nicht übertreiben“ | |
| Im August 1992 hatte ein entfesselter Mob zum Sturm auf die überfüllte | |
| Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern | |
| geblasen, die im Sonnenblumenhaus untergebracht war, mitten in dem | |
| Neubauviertel Lichtenhagen im Norden der Hansestadt Rostock, und ein | |
| angrenzendes Wohnheim, in dem vorwiegend Vietnamesen lebten, angegriffen. | |
| Selbst ernannte rechte Aufräumer aus dem Osten und Westen warfen Steine und | |
| Molotowcocktails in das Haus, in dem 150 Vietnamesen eingeschlossen waren. | |
| Frustrierte DDR-Bürger, die gut zwei Jahre nach der Wende gemerkt hatten, | |
| dass im wiedervereinigten Deutschland nicht alles Gold ist, was glänzt, | |
| johlten, klatschten oder sahen tatenlos zu. Dass es keine Toten gab, grenzt | |
| an ein Wunder. | |
| Gelb strahlen die sanierten Balkone, gepflegt sind die Blumenrabatten, | |
| Bänke laden zum Verweilen ein. Um das Sonnenblumenhaus herum gruppieren | |
| sich ein Supermarkt, ein Mobilfunkgeschäft, ein Zahnarzt, eine | |
| physiotherapeutische Praxis, ein Bestattungsunternehmen und der „Hammer“, | |
| ein Fachmarkt für Heimausstattung. Auf dem Grünstreifen vor dem Hochhaus | |
| bietet ein Schnellimbiss Essen an. Chinapfanne und Nasi Goreng, gebratener | |
| Eierreis und Hongkong-Ente, Döner Kebab, Schnitzel und Riesencurrywurst. An | |
| den Pfannen steht ein Vietnamese. Die Kunden sind deutsche Rentner mit | |
| Brillen und Hörgeräten, die auf Plastikstühlen sitzen und Bier trinken. | |
| Sie empfinden das Fragen nach Lichtenhagen als Zumutung und sind genervt. | |
| Schließlich werfen sie doch einige Sätze in die Runde. „Ach, das Theater“, | |
| sagt einer. „Der Staat hat nichts gemacht und die Medien haben das | |
| angeheizt“, einer anderer. „Ich bin erst 2001 hierhergezogen, ich sage gar | |
| nichts", meint ein Dritter. „Zu DDR-Zeiten wäre das nicht passiert“, glaubt | |
| ein Vierter. „Die Vietnamesen sind vernünftige Leute“, bemerkt einer, | |
| immerhin. „Es hat gar nicht so viel gebrannt, wir wollen mal nicht | |
| übertreiben“, kommt der Nächste trotzig. Ein Mann, Mitte bis Ende 40, mit | |
| Lonsdale-Sweatshirt, setzt sich dazu und sagt: „Jetzt muss mal Ruhe sein. | |
| Der Zweite Weltkrieg wird auch immer wieder aufgewühlt.“ | |
| ## | |
| Der Vietnamese, der den Männern das Bier verkauft, konzentriert sich auf | |
| die Flammen am Herd. Selbst wenn er etwas aufgeschnappt haben sollte, | |
| erscheint es unvorstellbar, dass er sich etwas anmerken lassen würde. Am | |
| nächsten Tag, als er seinen Imbiss öffnet und noch keine Kundschaft da ist, | |
| gibt er mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er nicht reden will, | |
| nicht über seine Arbeit, nicht über Lichtenhagen. Das Kopfschütteln ist | |
| freundlich, aber bestimmt. | |
| Nicht wenige Lichtenhäger, so heißen die Bewohner des Neubauviertels, das | |
| Mitte der 70er Jahre hochgezogen wurde und dessen Wohnungen mit fließend | |
| warmem Wasser und Zentralheizung zu DDR-Zeiten sehr begehrt waren, fühlen | |
| sich allein durch das wiederkehrende Gedenken provoziert. Sie sehen sich | |
| als die Leidtragenden, die die Untätigkeit von Polizei und Behörden | |
| ausbaden mussten, auf sich allein gestellt waren und seitdem an den Pranger | |
| gestellt werden. Angeheizt worden war die politische Stimmung durch | |
| Unionspolitiker, die von Asylmissbrauch und "ausländischen | |
| Sozialschmarotzern" gesprochen hatten, und durch unhaltbare Zustände rund | |
| um das Sonnenblumenhaus, wo Roma und Sinti im Freien kampieren mussten. Sie | |
| und die Lichtenhäger waren sich selbst überlassen. | |
| Von einer Mitschuld, untätigem Zuschauen, Applaudieren oder stillem | |
| Einverständnis wollen viele Rostocker nichts wissen. Das ist erschreckend, | |
| aber überraschend ist es nicht. „Noch immer hat eine reflektierte | |
| Auseinandersetzung nicht stattgefunden, die den Blick auch auf die | |
| Anwohnerschaft und ihre Beteiligung richten muss.“ Zu diesem Schluss kommen | |
| die Wissenschaftler und Studenten des Instituts für Politik- und | |
| Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock, die jetzt eine fast 90 | |
| Seiten umfassende Dokumentation herausgegeben haben. Dass es ausgerechnet | |
| in Rostock zu der Eskalation kam, sei nicht ohne die spezifische soziale | |
| Situation in den neuen Bundesländern und die Versäumnisse von Stadt, | |
| Politik und Polizei zu erklären. | |
| Trotzdem hätten die, „die den Rechten Beifall, Deckung und Unterstützung | |
| boten, das Pogrom zu einem tagelangen Spektakel gemacht, indem die | |
| Angreiferinnen und Angreifer sich der Unterstützung einer scheinbaren | |
| Bevölkerungsmehrheit sicher sein konnten“. An Interesse und Empathie den | |
| Opfern gegenüber fehle es bis heute. Die Wissenschaftler und Studenten | |
| hoffen auf eine Auseinandersetzung, die Lichtenhagen „nicht als Makel einer | |
| entfernten Vergangenheit verdrängt“, sondern die Konsequenzen für die | |
| Gegenwart zieht. Sie fordern eine Dauerausstellung und eine stärkere | |
| Einbindung der Schulen bei der Vermittlung und Aufklärung. | |
| ## | |
| Die Stadt Rostock zieht es vor, den Blick in die Zukunft zu richten. Die | |
| Akademischen Auslandsämter der Hochschule für Musik und Theater, die | |
| Universität sowie die Hansestadt rufen beispielsweise zu einem | |
| Fotowettbewerb „Rostock sehen“ auf und bitten um Fotos, die zeigen, „wie | |
| sich das Gesicht der Hansestadt 20 Jahre nach den ausländerfeindlichen | |
| Übergriffen positiv verändert hat“. Das offizielle Gedenken soll ein Redner | |
| wuppen, der dafür bekannt ist, auch bei schwierigen Themen die richtigen | |
| Worte zu finden. Bundespräsident Joachim Gauck wird als Höhepunkt des | |
| Gedenkens am 26. August am Sonnenblumenhaus sprechen. Vor knapp zwei Wochen | |
| wurde Gauck, der Anfang August als erstes Staatsoberhaupt das | |
| Traditionsseglertreffen „Hanse Sail“ in Rostock eröffnete, Ehrenbürger | |
| seiner Heimatstadt. Die Eröffnung der Hanse Sail war ihm ein persönliches | |
| Anliegen. Seinen Auftritt in Lichtenhagen nannte er in einem | |
| Zeitungsinterview ein wichtiges Anliegen. „Ich will ein Zeichen setzen für | |
| ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft.“ Die Tatsache, | |
| Rostocker zu sein, muss in diesem Fall nicht unbedingt einen Heimvorteil | |
| bedeuten. | |
| Im Erdgeschoss des Sonnenblumenhauses befindet sich eine | |
| physiotherapeutische Praxis, die chronische Leiden des Bewegungsapparates | |
| behandelt, seit ebenfalls zwanzig Jahren. Damals befand sich die Praxis im | |
| Haus nebenan und wurde durch das Feuer in Mitleidenschaft gezogen. Vor | |
| einem halben Jahr ist die Praxis in das Sonnenblumenhaus gezogen. Die | |
| Physiotherapeutin am Empfang, eine freundliche und sorgfältig geschminkte | |
| Mittfünfzigerin mit blonden Haaren und Perlen in den Ohren, ist unter einer | |
| Bedingung bereit, zu sprechen: „Nur wenn ich etwas klarstellen kann!“ Auf | |
| einer Liege neben einer Behandlungskabine lässt sie das heraus, was sich | |
| seit Jahren aufgestaut hat: Die Lichtenhäger seien nicht | |
| ausländerfeindlich, „vom Prinzip her keine Schläger“ und „technisch zu | |
| dumm“, Molotowcocktails zu bauen. | |
| Nicht ihnen sei ein Vorwurf zu machen, sondern den „Schlägern, die aus ganz | |
| Deutschland gekommen sind“. Dass ein Teil der verurteilten Täter aus dem | |
| Rostocker Raum kam, ändert für sie daran nichts. „Die Lebensweise der Sinti | |
| und Roma ist mit unseren Auffassungen nicht konform“, spricht sie von | |
| damals und kolportiert die immer wieder auftauchende Mär, dass Asylbewerber | |
| Möwen gegrillt hätten, als wäre das ein Grund für Gewalt. „Ohne die | |
| Krawalle wären die noch hier“, ist sie überzeugt. Dass der Bundespräsident | |
| nach Lichtenhagen kommt, findet sie „nicht gut“. „In Lichtenhagen leben | |
| friedliche Menschen, die sich über ihren grünen Stadtteil freuen.“ | |
| Kristina Koebe kennt diese Haltung. „Die Leute haben die Schnauze voll von | |
| dem Stigma. Das Thema wurde nie zu Ende diskutiert, und trotzdem kann es | |
| keiner mehr hören.“ Die 39-jährige Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz sitzt | |
| in ihrem Büro unterm Dach in der Nähe vom Rostocker Hauptbahnhof. Die | |
| promovierte Germanistin ist in Greifswald aufgewachsen, hat in Rostock | |
| studiert und verdient ihr Geld mit EU-Projekten zu erneuerbarer Energie | |
| oder Kultur. Ehrenamtlich schreibt sie für die Zeitschrift Stadtgespräche, | |
| ein seit 1995 quartalsweise erscheinendes „Magazin für Bewegung, Motivation | |
| und die nachhaltige Kultivierung der Region Rostock“. Sie weiß um den Stand | |
| der Publikation mit der kleinen Auflage von 250: „Wir sind die | |
| Nestbeschmutzer.“ Das aktuelle Heft hat Lichtenhagen auf dem Cover: „Vom | |
| Umgang mit dem Stigma einer ,Nazistadt'.“ | |
| ## Die Wahrheit lügt in Rostock | |
| Dazu ist die DVD eines Dokumentarfilms aus dem Jahr 1993 abgebildet, der | |
| die Eskalation auf erschreckende Weise zeigt. „The truth lies in Rostock“, | |
| so der doppeldeutige Titel. Die Wahrheit liegt in Rostock, die Wahrheit | |
| lügt in Rostock. Die Redaktion hat mit Spenden 10.000 DVDs an Rostocker | |
| Haushalte verteilt. Damit sollen die Menschen zum Nachdenken angeregt und | |
| „die ambivalente Mitte“ soll sensibilisiert werden. „Es gibt Redebedarf�… | |
| sagt Koebe, „es fehlt ein Diskurs über Alltagsrassismus.“ Für Koebe ist | |
| Pogrom die einzig richtige Bezeichnung für den August 1992. „Alles andere | |
| ist Verharmlosung.“ Ihre persönliche These lautet: „Auch die Stadt hat die | |
| Schnauze voll von dem Stigma, aber sie geht nicht an die Wurzel ran.“ | |
| Lichtenhagen ist für sie eine offene Wunde. | |
| „Die Rostocker sind generell desinteressiert“, sagt Antje Schneider. Die | |
| 37-jährige Stralsunderin arbeitet in dem deutsch-vietnamesischen Verein | |
| Diên Hông, zu deutsch „Gemeinsam unter einem Dach“, den Vietnamesinnen und | |
| Vietnamesen wenige Monate nach dem August 1992 gegründet haben und der | |
| Kultur- und Bildungsarbeit und Sozialberatungen anbietet. Am Anfang hatte | |
| der Verein seinen Sitz in Lichtenhagen, seit einigen Jahren hat er größere | |
| Räumlichkeiten in der Nähe von der Kröpeliner Tor-Vorstadt. Statt von | |
| anonymen Hochhäusern ist er von anderen multikulturellen Vereinen umgeben, | |
| Afrika, Lateinamerika, Russland, und einem Kindergarten, den Kinder | |
| verschiedener Nationalitäten besuchen. Der Verein ist eine vietnamesische | |
| Begegnungsstätte, er betreibt Kinder- und Jugendarbeit, ist Bildungsträger | |
| und bietet berufliche Beratung und Qualifizierung für Zugewanderte an, | |
| längst nicht mehr nur aus Vietnam. | |
| Antje Schneider ist für politische Bildung zuständig. Sie ist enttäuscht, | |
| dass die Gesprächsreihe des Vereins in diesem Sommer, in dem vietnamesische | |
| Vertragsarbeiter aus ihrem Leben erzählen, hauptsächlich von Vietnamesen | |
| besucht wurde. „Es fehlt die Mentalität des Weltoffenen.“ Zudem sei es | |
| „sehr schwierig“, Terminankündigungen in der Ostseezeitung unterzubringen. | |
| „Da muss man sich bei denen auf den Schoß setzen.“ | |
| ## | |
| Solch deutliche Worte würde der Vorsitzende des Vereins nicht verwenden. | |
| Long Nguyen Duy, 62 Jahre alt und Sprachmittler von Beruf, kam 1984 nach | |
| Rostock und arbeitete als Betreuer für die Vietnamesen im Seehafen. Seit | |
| einem Jahr übt er den Vereinsvorsitz aus. Während der langjährige erste | |
| Vorsitzende anhaltenden Rassismus beklagt hatte, kommt kein negatives Wort | |
| über seine Lippen. „Es ist schwer zu sagen“, sagt er über die Ereignisse | |
| vor zwei Jahrzehnten. Nur „ein sehr kleiner Teil der aggressiven Leute“ | |
| seien Rostocker gewesen, er selbst habe nie Rassismus erlebt. Vermisst er | |
| die DDR? Long Nguyen Duy nickt. „Man brauchte nicht so viel zu denken“, | |
| sagt er und lacht. „Und es gab keine Arbeitslosen.“ Seine Kontakte zu | |
| Deutschen beschränken sich auf das vietnamesische Neujahrsfest und andere | |
| offizielle Gelegenheiten. Auch nach fast 30 Jahren in Rostock verhält er | |
| sich wie ein bescheidener, geduldeter Gast. Wenn er in Rente geht, will er | |
| nach Hanoi zurückkehren. | |
| Viele Jahre hat Rosemarie Melzer den Kontakt zu Vietnamesen in Lichtenhagen | |
| gehalten. Die 64-jährige Pädagogin war eine der wenigen Menschen in der | |
| Mecklenburger Allee, die um ihr Leben bangende Vietnamesen und ihre Kinder | |
| in ihre Wohnung hereingelassen hat. Melzer ist eine engagierte Frau. Sie | |
| arbeitet Teilzeit in einem Kinderheim, ist als Schöffin tätig, sitzt in | |
| einem Kulturverein und der Gemeindevertretung. Noch heute wühlen sie die | |
| Erinnerungen auf, auch wenn sie vor fünf Jahren in das fünf Kilometer | |
| entfernte Elmenhorst gezogen ist, wo sie mit ihrem Mann ein Haus mit großem | |
| Garten gebaut hat. Bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse sagt sie, dass | |
| sie die verängstigten Kinderaugen und die Erlebnisse nie vergessen werde. | |
| Als Pädagogin ist sie es gewohnt, Dinge zu hinterfragen, um sie zu | |
| verstehen. „In einem Haus, wo hohe Funktionäre wohnten, die nicht bereit | |
| waren, dagegen anzugehen …?“, sagt sie, ohne den Satz zu beenden. | |
| Noch immer ist es nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Das | |
| offizielle Gedenken sieht sie skeptisch. „Lichtenhagen ist nicht das, was | |
| daraus gemacht wurde“, sagt sie. Statt sich an negativen Dingen zu | |
| orientieren, solle „das nette Miteinander“ gezeigt werden. Vor zehn Jahren | |
| wollte sie noch wissen, was aus den vietnamesischen Kindern geworden ist. | |
| Mittlerweile ist der Kontakt eingeschlafen. Und Melzer ist nicht mehr bei | |
| der Initiative „Lichtenhagen bewegt sich“ dabei, die Filmvorführungen, | |
| Diskussionsrunden und ein Gedenkkonzert organisiert. Es hat sie zu sehr | |
| aufgewühlt, sagt sie, und es seien ihr „zu viele Wichtigtuer“ dabei | |
| gewesen. Wütend ist sie aber noch immer. Auf die Politiker, die versagt | |
| haben. „Was soll man dann von den Menschen auf der Straße erwarten?“ | |
| ## Als würde Elvis kommen | |
| In der Initiative „Lichtenhagen bewegt sich“ haben sich die Hansestadt | |
| Rostock, der Ortsbeirat, der Stadtteiltisch, das Stadtteilbegegnungszentrum | |
| Lichtenhagen und die Bürgerinitiative Bunt statt braun e. V. | |
| zusammengeschlossen. Rainer Fabian gehört als Koordinator und Teamleiter | |
| des Kolping-Begegnungszentrums, das wenige Minuten vom Sonnenblumenhaus | |
| entfernt von der Hausaufgabenhilfe bis zur Seniorengymnastik Angebote für | |
| alle Altersgruppen anbietet, dazu. Auch er ist der Meinung, dass der | |
| Zeitpunkt der Aufarbeitung verpasst wurde. | |
| Der 59-Jährige, der zu DDR-Zeiten Matrosen ausgebildet und nach der Wende | |
| Sozialarbeit studiert hat, versucht einen schier unmöglichen Spagat | |
| zwischen Gedenken und Verständnis für die Lichtenhäger. Er erzählt, dass | |
| die Aufkleber „Lichtenhagen bewegt sich“, die an den Eingängen der | |
| Hochhäuser in der Mecklenburger Allee angebracht wurden, abgerissen wurden, | |
| und der Sommer 1992 für viele „weit, weit weg“ sei. „Die Bewohner des | |
| Stadtteils haben nicht den Wunsch, nach 20 Jahren so einen Aufriss zu | |
| machen.“ Dass der Bundespräsident kommt, findet er gut. "Das ist so, als | |
| würde Elvis Presley kommen. Das gibt dem einen besonderen Touch." | |
| Mit einer Veranstaltung aber hat er Probleme. Mit der für den 25. August | |
| vom Bund der Antifaschisten organisierten Demonstration gegen Rassismus | |
| durch Lichtenhagen. „Wir wollen die Demo nicht. Das könnte den 26. August | |
| total zerbomben.“ Er hofft, dass möglichst viele Lichtenhäger dem | |
| Bundespräsidenten zuhören und er ihnen „Argumente der Aufarbeitung“ an die | |
| Hand gibt. Die Initiative „Lichtenhagen bewegt sich“ wird am | |
| Sonnenblumenhaus einen Baum pflanzen, eine deutsche Eiche. | |
| Update: in einer früheren Version des Artikels war die Einwohnerzahl des | |
| Blocks Mecklenburgische Allee mit 18.349 angegeben. So viele Menschen | |
| lebten 1992 in ganz Lichtenhagen. | |
| 19 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Bollwahn | |
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