| # taz.de -- Zwanzig Jahre Pogrom in Rostock: Der Staat lässt sich anstecken | |
| > Vor 20 Jahren zünden Rechtsextreme das Sonnenblumenhaus in Rostock an. | |
| > Zuvor geht ein massiver Rechtsruck durch das wiedervereinigte | |
| > Deutschland. | |
| Bild: Aufgestachelt von Boulevardmedien und Politik kippt 1992 in Rostock und d… | |
| BERLIN taz | „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Für die Beibehaltu… | |
| dieses uneingeschränkten Grundrechts, festgeschrieben in Artikel 16 des | |
| Grundgesetzes, gingen im Jahr 1993 Tausende Menschen auf die Straße. 1992 | |
| hatte die Zahl der Asylsuchenden einen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Rund | |
| 430.000 Menschen stellten einen Asylantrag in Deutschland. | |
| Politiker und Boulevardmedien heizten die Stimmung gegen Asylbewerber auf | |
| und bereiteten so den Boden zu Übergriffen auf Asylbewerber und | |
| Ausschreitungen wie in Rostock-Lichtenhagen. Es kam zu einem Rechtsruck in | |
| der Bevölkerung. Im Februar 1992 sprachen sich nach einer Emnid-Umfrage 74 | |
| Prozent der Befragten für eine Grundgesetzänderung zur Reduzierung der Zahl | |
| der Asylsuchenden aus. | |
| Ein „hoffnungsfroher Kampf war es nicht“, sagt Mehdi Jafari-Gorzini. Er | |
| könnte auch sagen: Es war eine aussichtslose Angelegenheit. Nach langem | |
| Vorspiel brachten CDU, CSU, FDP und SPD am 21. Januar 1993 das „Gesetz zur | |
| Änderung des Grundgesetzes“ in den Bundestag ein. | |
| Der Deutsch-Iraner war damals als wissenschaftlicher Mitarbeiter der rein | |
| ostdeutschen Fraktion Bündnis 90 zuständig für Asylpolitik. Und mit der PDS | |
| und den Wackelkandidaten der SPD hoffte die, die für das Gesetz nötige | |
| Zweidrittelmehrheit irgendwie verhindern zu können. | |
| ## „Reaktion auf politische Zündeleien“ | |
| Einer von Gorzinis Chefs war der Abgeordnete und Ex-DDR-Bürgerrechtler | |
| Werner Schulz. „Lichtenhagen war eine Reaktion auf politische Zündeleien in | |
| Bonn“, sagt er. „Nach Lichtenhagen hätte man den Dumpfbacken entgegentreten | |
| müssen. Stattdessen wurde das Grundgesetz zum ersten Mal überhaupt | |
| verwässert.“ | |
| Hinderlich beim Streit über die Erhaltung des Asylrechts war laut Schulz | |
| damals vor allem die künftige Mutterpartei: „Die Grünen waren zu jener Zeit | |
| ja noch für offene Grenzen für alle. Das hat uns bei den Bundestagsdebatten | |
| sehr geschwächt.“ Für die DDR-Abgeordneten von Bündnis 90 sei dies | |
| besonders bitter gewesen: „Schließlich waren wir in der DDR ja alle selber | |
| politisch Verfolgte.“ | |
| „Es gab damals im Osten eine Ausländerfeindlichkeit praktisch ohne | |
| Ausländer“, erinnert sich die damalige PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke. „Jeden | |
| Monat“ habe sie versucht, Zahlen zu rechter Gewalt zu bekommen. Doch der | |
| damalige CDU-Innenminister Rudolf Seiters habe „sich geweigert, die Zahlen | |
| rauszugeben, rassistische Angriffe wurden bagatellisiert“. | |
| Am 26. Mai, dem Tag der Abstimmung über die Grundgesetzänderung, versuchten | |
| 2.000 Menschen, das Bundeshaus in Bonn zu blockieren – vergeblich. 430 | |
| Abgeordnete hätten für das Gesetz stimmen müssen, 521 taten es. 101 SPDler, | |
| die sieben FDPler des Freiburger Kreises sowie alle Abgeordneten von PDS | |
| und Bündnis 90 lehnten es ab. | |
| ## Sichere Herkunftstaaten | |
| Mit dem Asylkompromiss wurde der Artikel 16 a des Grundgesetzes durch zwei | |
| zusätzliche Absätze entscheidend eingeschränkt: Asyl kann seither nicht | |
| mehr bekommen, wer entweder aus einem „sicheren Herkunftsland“ stammt oder | |
| über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist ist. Als sichere | |
| Herkunftsstaaten gelten alle EU-Mitglieder sowie Ghana und Senegal. | |
| Entscheidender war aber der juristische Kniff der „sicheren Drittstaaten“. | |
| Das sind Transitstaaten, die ein eigenes, zuverlässiges Asylsystem | |
| unterhalten – oder unterhalten sollen. Flüchtlinge hätten also statt in | |
| Deutschland schon dort Zuflucht suchen können, so das Argument. Als sichere | |
| Drittstaaten gelten die EU, Norwegen und die Schweiz. | |
| Jeder, dem nachgewiesen werden kann, von dort aus nach Deutschland gekommen | |
| zu sein, wird sofort wieder abgeschoben. Der Landweg nach Deutschland ist | |
| somit abgeschnitten. Und wem es gelingt, trotzdem mit dem Flugzeug | |
| herzukommen, der wird seit 1993 in einem exterritorialen Schnellverfahren | |
| im Transitbereich der Flughäfen abgefertigt. | |
| „Der Beschluss war eine enorme Niederlage“, sagt Jelpke. „Es war klar, da… | |
| eine solche Verfassungsänderung kaum wieder rückgängig zu machen war.“ Kein | |
| Zufall ist es für Schulz, dass sich das Asylrecht in Europa seither | |
| verschärft hat: „Die EU hat sich an den Ländern orientiert, die das auf | |
| restriktive Weise geregelt haben.“ | |
| ## Dauerhafter humanitärer Notstand | |
| Tatsächlich hat die EU sich nicht „an Deutschland orientiert“, sondern | |
| Deutschland hat der EU seine Linie aufgedrückt: 2003 setzte der damalige | |
| SPD-Innenminister Otto Schily in der EU-Kommission die sogenannte | |
| Dublin-II-Verordnung durch. In Südeuropa hat die Regelung zu einem | |
| dauerhaften humanitären Notstand geführt, Deutschland hingegen bis 2007 | |
| jedes Jahr neue Rekordtiefs bei Asylbewerberzahlen beschert. | |
| „Dublin II war für mich 1993 undenkbar“, sagt Jelpke. Dennoch habe sich | |
| nicht alles zum Schlechteren gewendet: „Heute benutzt zum Beispiel kaum | |
| noch jemand das abwertende Wort Asylant.“ Und auch die Rede Angela Merkels | |
| bei der Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer lobt Jelpke: „Daraus habe ich | |
| sogar einige Zitate den Kollegen der Union im Innenausschuss vorgetragen.“ | |
| Gorzini sieht das ähnlich: „Helmut Kohl hat sich geweigert, nach dem | |
| Mordanschlag von Mölln die Angehörigen der Opfer zu besuchen. Heute | |
| veranstaltet Angela Merkel einen Staatsakt für die NSU-Opfer. Das sind zwei | |
| unterschiedliche Welten.“ | |
| 16 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| Pogrom | |
| Pogrom | |
| Besser | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte Flüchtlinge: Geschichte reimt sich doch | |
| Katastrophenrhetorik, Asylrechtsverschärfungen, Gewalt: Die Parallelen zur | |
| Pogromära der Neunzigerjahre sind unübersehbar. | |
| Gedenken an die Morde von Mölln: Ein bleibendes Brandmal | |
| Die rassistischen Brandanschläge von Mölln vor 20 Jahren haben eine ganze | |
| Generation geprägt. Am Freitag versammelt sie sich zum Gedenken. | |
| 20 Jahre Pogrom in Lichtenhagen: „Rostock ist ein Trauma“ | |
| Seit dem Pogrom von Rostock beschäftigt sich Kien Ngi Ha mit Rassismus. Der | |
| Politologe untersucht rassistische Gewalt und das Trauma der Vietnamesen in | |
| Deutschland. | |
| Kommentar 20 Jahre Pogrom in Rostock: Der Sommer des Hasses | |
| Wer wissen möchte, warum die Morde des Zwickauer Terrortrios geschehen | |
| konnten, muss zurück in die Zeit von „Rostock-Lichtenhagen“. | |
| 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Die offene Wunde | |
| Das Neubauviertel im Norden der Stadt steht seit 1992 für Fremdenhass. Wie | |
| gehen die Bewohner heute damit um? Erkundungen und einige Erkenntnisse. | |
| 20 Jahre Pogrom in Rostock: Anschläge und Kampagnen | |
| Nicht erst seit der Wiedervereinigung kam die Rede oft aufs „volle Boot“. | |
| Einer unvollständige Chronik zeigt das Wechselpiel zwischen Medien, Politik | |
| und Gewalt auf. | |
| Doku zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen: Zwischen Schweigen und Verdrängen | |
| Die Doku „Als Rostock-Lichtenhagen brannte“ entstand gegen drastische | |
| Widerstände. Bürger wollten sich nicht erinnern, Politiker sagten | |
| Interviews ab. | |
| Kolumne Besser: Ich, ich, ich, Deutschland, ich, Gauck! | |
| Der Stinkstiefel hat seine erste Rede als Chef vom Ganzen gehalten. Was er | |
| sich dabei gedacht hat und was er meinte. |