| # taz.de -- Kolumne Besser: Ich, ich, ich, Deutschland, ich, Gauck! | |
| > Der Stinkstiefel hat seine erste Rede als Chef vom Ganzen gehalten. Was | |
| > er sich dabei gedacht hat und was er meinte. | |
| Bild: Sind jetzt Verfassungsorgan. | |
| Was für ein schöner Sonntag. | |
| (Was für ein selbstverliebter Einstieg! Aber nein, nur ein wenig kokett. | |
| Denn:) | |
| Es war der 18. März, heute vor genau 22 Jahren, und wir hatten gewählt. | |
| (Jup!) | |
| Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von | |
| Diktatoren endlich Bürger sein durften. | |
| (Dass wir 56 Jahre lang nicht wählen konnten, hatte aber nichts damit zu | |
| tun, dass Papa und Mama Gauck beim letzten Mal, als sie es konnten, den | |
| Führer gewählt haben. War damals nichts Ungewöhnliches, konnte quasi jedem | |
| passieren.) | |
| Zum ersten Mal in meinem Leben im Alter von 50 Jahren durfte ich in freier, | |
| gleicher und geheimer Wahl bestimmen, wer künftig regieren soll. | |
| (Ich wählte den Besten, der zur Verfügung stand: mich. So macht Demokratie | |
| Spaß!) | |
| Die Menschen, die damals zur Wahl strömten, lebten noch im Nachhall der | |
| friedlichen Revolution, als wir „das Volk“ waren und dann die Mauern | |
| fielen. | |
| (Und dann die D-Mark kam.) | |
| Ich selber hatte als Sprecher des Neuen Forums in Rostock daran mitwirken | |
| dürfen. | |
| (Ich kam gerade noch rechtzeitig, um den Laden zu übernehmen. Vorher war | |
| das ja zu gefährlich.) | |
| Wir waren schon frei von Unterdrückung. | |
| (Hurra!) | |
| Jetzt schickten wir uns an, Freiheit zu etwas und für etwas zu erlernen. | |
| (Zum Beispiel als Freiheit zum Ausländerklatschen.) | |
| Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals. | |
| (Dafür habe ich vergessen, wo ich war, als das Sonnenblumenhaus in Rostock | |
| brannte.) | |
| Weder die über 90 Prozent der Wahlbeteiligung, noch meine eigene innere | |
| Bewegung. | |
| (Womit ich nicht jene innere Bewegung meine, mit der der Leibwind durch den | |
| Verdauungstrakt bläst.) | |
| Ich wusste, diese meine Heimatstadt und dieses graue, gedemütigte Land – | |
| wir würden jetzt Europa sein. | |
| (Wo wir zuvor Asien gewesen waren.) | |
| In jenem Moment war da in mir neben der Freude ein sicheres Wissen – ich | |
| werde niemals, niemals eine Wahl versäumen. | |
| (Habe ich in der Zone übrigens auch niemals, niemals, war ja verboten.) | |
| Ich hatte einfach zu lange auf das Glück der Mitwirkung warten müssen, als | |
| dass ich die Ohnmacht der Untertanen je vergessen könnte. | |
| (Ein bisschen mitgewirkt habe ich in der DDR zwar ebenfalls, aber ich war | |
| Opfer der Stasi, kein Täter, das ist amtlich, dafür habe ich eigenhändig | |
| gesorgt.) | |
| „Ich wünschte mir ein Bürger zu sein, nichts weiter, aber auch nichts | |
| weniger als das“ – so hat ein deutscher Demokratielehrer – es war Dolf | |
| Sternberger, seine politische Haltung einmal definiert. | |
| (Bravo!) | |
| Ich habe am 18. März 1990 genau denselben Wunsch gespürt. | |
| (Neben dem Wunsch auf einen Broiler und ein paar Rostocker Pilsener.) | |
| Und ich habe damals gefühlsmäßig bejaht, was ich mir erst später | |
| theoretisch erarbeitet habe, dass aus dem Glück der Befreiung | |
| (Dieses Wort musste unbedingt mal in einer Präsidentenrede untergebracht | |
| werden.) | |
| die Pflicht, aber auch das Glück der Verantwortung erwachsen muss. | |
| (Jawohl!) | |
| Und dass wir Freiheit in der Tiefe | |
| (sowie in der Höhe, der Breite und der Länge) | |
| erst verstehen, wenn wir eben dies bejaht und ins Leben umgesetzt haben. | |
| (Gefühlsmäßig bejaht, ins Leben umgesetzt – das gefällt meinen grünen | |
| Freunden.) | |
| Heute nun haben Sie, die Wahlfrauen und -männer, einen Präsidenten gewählt, | |
| der sich selbst nicht denken kann ohne diese Freiheit, und der sich sein | |
| Land nicht vorstellen mag und kann ohne die Praxis der Verantwortung. | |
| (Und der auch mal einen Satz ohne „ich“ sagen kann – nämlich dann, wenn … | |
| in der dritten Person über sich selbst redet.) | |
| Ich nehme diesen Auftrag an | |
| (Mist!) | |
| mit der unendlichen Dankbarkeit einer Person, die nach den langen Irrwegen | |
| durch politische Wüsten des 20. Jahrhunderts endlich und unerwartet Heimat | |
| wiedergefunden hat und der | |
| (oder die?) | |
| in den letzten zwanzig Jahren das Glück der Mitgestaltung einer | |
| demokratischen Gesellschaft erfahren durfte. | |
| (Olé, Super-Deutschland, olé, olé!) | |
| Deshalb: Was für ein schöner Sonntag dieser 18. März auch für mich. | |
| (Auch für mich! Vor allem aber für die Menschen draußen im Lande, für die | |
| Welt, für Gott!) | |
| Ermutigend und beglückend ist es für mich auch zu sehen, wie viele im Land | |
| sich in der letzten Zeit eingebracht haben und auch mich ermutigt haben, | |
| diese Kandidatur anzunehmen. | |
| (Neben all den anderen, die sie außerdem ermutigt haben.) | |
| Es sind Menschen ganz unterschiedlicher Generationen und Professionen, | |
| Menschen, die schon lange und Menschen, die erst seit kurzem in diesem Land | |
| leben. | |
| (Zum Beispiel diese Ausländer, die es früher bei uns nicht gab.) | |
| Das gibt mir Hoffnung auf eine Annäherung zwischen den Regierenden und der | |
| Bevölkerung, an der ich nach meinen Möglichkeiten unbedingt mitwirken | |
| werde. | |
| (Ein Versprechen, das zum Glück niemals erfüllt wird, sonst würden | |
| Regierende und Bevölkerung vor lauter Annäherung längst den Mundgeruch des | |
| Anderen einatmen.) | |
| Ganz sicher werde ich nicht alle Erwartungen, die an meine Person und meine | |
| Präsidentschaft gerichtet wurden, erfüllen können. | |
| (Wo kämen wir da auch hin?) | |
| Aber eins kann ich versprechen: Dass ich mit all meinen Kräften und meinem | |
| Herzen Ja sage zu der Verantwortung, die sie mir heute übertragen haben. | |
| (Und nicht etwa sage: Geil, bin ich jetzt Chef vom Ganzen, was noch jeder | |
| Kegelbruder denkt, der plötzlich den Vorsitz seines „Alle Neune e.V.“ | |
| übernommen hat, der in seiner Dankesrede aber von „Verantwortung“ spricht, | |
| weil das vornehmer klingt.) | |
| Denn was ich als Bürger anderen Menschen als Pflicht und als Verheißung | |
| beschreibe, muss selbstverständlich auch Gültigkeit haben für mich als | |
| Bundespräsidenten. | |
| (Die Nummer kam schon beim alten Fritz gut an.) | |
| Das heißt auch, dass ich mich neu auf Themen, Probleme und Personen | |
| einlassen werde | |
| (Ich habe keine Ahnung, welche das sind, aber das werden meine Referenten | |
| und Redenschreiber schon herausfinden.) | |
| auf eine Auseinandersetzung auch mit Fragen, die uns heute in Europa und in | |
| der Welt bewegen. | |
| (Neben den Fragen, die mich und meine Daniela bewegen.) | |
| Ich danke Ihnen, den Mitgliedern der Bundesversammlung, für das mir | |
| entgegengebrachte Vertrauen. Sie, die sie hier gewählt haben, sind ja nicht | |
| nur Deputierte, sondern Sie sind auch – das ist mir voll bewusst – | |
| Vertreter einer lebendigen Bürgergesellschaft. | |
| (Die so lebendig ist, dass sie mich mit vollen 80 Prozent der Stimmen | |
| gewählt hat.) | |
| Ob wir also als Wahlbevölkerung am Fundament der Demokratie mitbauen oder | |
| ob wir als Gewählte Weg und Ziel bestimmen | |
| (Wobei es natürlich lustiger ist, den Weg des Fundaments zu bestimmen als | |
| immer nur den Beton zu mischen.) | |
| es ist unser Land, in dem wir Verantwortung übernehmen, wie es auch unser | |
| Land ist, wenn wir die Verantwortung scheuen. | |
| (Wenn wir denen, die nichts haben, auch nichts geben wollen, geben wir | |
| ihnen Fahne, Hymne und Vaterland. Ist viel billiger als Zahnersatz.) | |
| Bedenken sollten wir dabei: Derjenige der gestaltet wie derjenige, der | |
| abseits | |
| (auf dem Abstellgleis im Regen) | |
| steht – beide haben sie Kinder. | |
| (Wehe, wenn nicht!) | |
| Ihnen werden wir dieses Land übergeben. Es ist der Mühe wert, es unseren | |
| Kindern so anzuvertrauen, dass auch sie zu diesem Land „unser Land“ sagen | |
| können. | |
| (Und zu diesem Stinkstiefel „unser Stinkstiefel“.) | |
| 19 Mar 2012 | |
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| Deniz Yücel | |
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