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# taz.de -- 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Der Tag der Niederlage
> Für die Antifa in Ost und West kam Lichtenhagen nicht überraschend. Vor
> Ort aber war die Präsenz gering. Doch die Bewegung hat gelernt.
Bild: Rostock am 24.8.1992: Eine Person bezieht mit einem Pappschild Position
Was [1][in Lichtenhagen drohte], das „hätten wir ahnen können“, sagt Mark…
Tervooren. Heute ist er Landesgeschäftsführer der Berliner Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes. 1992 war er Hausbesetzer in Westberlin und in
der Antifaschistischen Initiative Moabit aktiv. Auf das Pogrom in Rostock
habe es viele Hinweise gegeben, die Zeit davor sei stark bestimmt gewesen
von Nazi-Gewalt, nicht zuletzt [2][in Hoyerswerda 1991]. „Die Bilder
kannten wir, das alles wussten wir.“
Doch vor Ort in Lichtenhagen seien auswärtige Antifas wie er zu spät und in
zu geringer Zahl erschienen. Was blieb, war das „Gefühl des totalen
Versagens“, sagt Tervooren heute. „Die Frage war: Was wäre anders gelaufen,
wenn wir uns vor das Heim gestellt hätten?“ Doch die Antifa sei ja „keine
paramilitärische Organisation“ und die Lage vor Ort habe einem „Angst und
Bange“ machen können.
Tervooren glaubt, damals sei ein „historischer Moment verpasst“ worden. „…
wären andere Bilder um die Welt gegangen, wenn wir sie aufgehalten hätten.“
Er sei danach „ewig mit schlechtem Gewissen rumgelaufen“.
Vor Ort war auch Michael Noetzel, Rechtsanwalt und
Linken-Landtagsabgeordneter aus Rostock. Damals war er 17, wohnte im
Nachbarstadtteil Groß Klein. „Es gab immer das Gefühl: Man hätte mehr
erreichen können, wenn wir mehr gewesen wären“, sagt er. Die Ereignisse
seien für viele ein „Trauma“ gewesen, hätten Fassungs- und Hilflosigkeit
ausgelöst. „Es gab erst mal wenig Analyse oder Lehren, die gezogen worden
wären, das war einfach ein krasser Moment.“
## Glatzen und Bürger vereint
Auch Antifas aus Westdeutschland waren nach Lichtenhagen gereist. Einer von
ihnen ist Olaf Meyer, der damals in der Antifa in Uelzen organisiert war.
„Wir haben unseren schwarzen Dress abgelegt und uns vor Ort umgeschaut“,
sagt er. Das Bild sei für sie neu gewesen: „Sonst waren die Glatzen die
Akteure und die Bürger schauten zu. Hier agierten alle gemeinsam.“
Schon bald wurden sie als Auswärtige erkannt, in einer nahen Kneipe gab es
schnell eine Schlägerei. Erst am nächsten Tag konnten sie mit rund 300
anderen Antifas die Nazis mit einer Demo kurz vom Vorplatz des Hauses
vertreiben. Die Antifa-Großdemo eine darauf Woche sei ein extrem wichtiges
Signal gewesen, sagt er.
Doch welche Lehren aus dem Pogrom zu ziehen seien, blieb lange ungeklärt.
Damals waren Gruppen wie die Nationalistische Front etwa in Niedersachsen
sehr aktiv. „Wir haben die Auseinandersetzung mit Nazis gesucht, um das zu
beenden“, sagt Meyer. „Bevor die was machen, greifen wir die im Vorfeld
an.“ Durch Lichtenhagen hätten „die Nazis ja gemerkt, was für sie alles
möglich ist“.
Eine offene Frage war: „Wie weit gehen wir?“ Die Bilder von Lichtenhagen,
von den [3][Toten in Solingen] oder [4][Mölln] seien vielen Aktiven stets
im Kopf gewesen. „Das war so viel Wut und Angst, dass das immer schlimmer
wird. Das hat die Hemmschwelle gesenkt, das war nicht immer gut.“ Meyer
habe sich selbst gefragt: „Was macht das mit uns?“
## Fehlersuche über Jahre
Der Schutz von Menschen durch praktischen Aktivismus erschien wichtiger als
eine Diskussion über das Pogrom. „Vielleicht war das ein Fehler.“
Es gab eine „Fehlersuche über Jahre“, sagt Marcus Tervooren. Eine
Konsequenz: Die Antifa stand nach 1992 immer öfter vor Asylheimen, um Nazis
abzuwehren. „Der Blick war geschärft, die Solidarität mit Geflüchteten
rückte ins Zentrum.“ Das wirke bis heute nach – inklusive einer
selbstkritischen Diskussion: „Sehen wir sie nur als Opfer oder als
handelnde Subjekte.“
Christin Jänicke ist Mitherausgeberin des [5][Bandes „30 Jahre Antifa in
Ostdeutschland“]. Sie hält das Pogrom für eine Zäsur. Lichtenhagen reiht
sich da nicht einfach nur ein in die offene rechte Gewalt ab 1991. „Das
Ausmaß der Gewalt, deren öffentliche Verübung und das Versagen des Staates
waren besonders.“
In den 1990er Jahre sei die Antifa einer der wenigen Akteure gewesen, die
sich gegen rechte Gewalt wehrten. „Viele Aktivist*innen haben versucht,
immer präsent zu sein und brannten aus.“ Für viele sei klar gewesen, dass
sie nach Lichtenhagen fahren mussten. „Aber was das konkret körperlich
heißt, war unklar.“ Die Ereignisse hätten letztlich die Frage aufgeworfen,
wie man „überhaupt handlungsfähig sein“ könne. Lichtenhagen gab auch den
Ost-West-Differenzen innerhalb der Antifa neue Konturen. „Im Westen, bis
1990, konnte man sich aussuchen, ob man das macht oder nicht,“ sagt der
Marcus Tervooren. Viele Ost-GenossInnen hätten diese Wahl nicht gehabt.
## Aktive Ost-Linke
Der Rostocker Michael Noetzel glaubt, dass es eine thematische Verengung im
Osten gab. „Heute arbeiten Ost-Linke zu allen möglichen Themen – wie im
Westen“, sagt er. In den 1990ern hingegen seien die Ost-Linken ganz
überwiegend gegen Nazis aktiv gewesen, weil sie es sein mussten.
Das Bewegungs-Binnenverhältnis war nicht immer einfach. Olaf Meyer erinnert
sich an gemeinsame Aktionen mit der regional benachbarten Antifa Salzwedel.
„Wir sind da wie üblich mit roten Fahnen angekommen. Die haben nur gefragt:
‚Muss das sein?‘“ Gleichzeitig seien die OstlerInnen durch den
militärtechnischen Unterricht in der DDR „auf ganz anderem militantem
Niveau gewesen. Was die alles können, haben wir gedacht. Die waren uns
voraus.“
Solche Anerkennung wurde den Ost-Gruppen jedoch selten entgegengebracht –
im Gegenteil. „Mit dem revolutionäre Antifaschismus der West-Gruppen
konnten viele im Osten zunächst nicht viel anfangen,“ sagt die Forscherin
Jänicke. „Sie haben teils Herablassung und Abwertung erlebt.“
Die Ost-Gruppen standen „vor der Wahl, sich in die verfestigten Strukturen
der Westdeutschen zu ergeben oder aber eigene Wege zu gehen“, heißt es in
einem Text der „BesetzerInnen-Zeitung“ kurz nach Lichtenhagen. „Durch die
Erfahrungen vieler Gruppen aus der DDR mit einer arroganten Politik der
Annexion und einer entmündigenden Bevormundung durch viele Linke aus der
BRD wurde ein gemeinsames Zusammengehen nicht möglich.“
## Militanz und Struktur
Der Hamburger Historiker Yves Müller schreibt in Jänickes Sammelband, den
ostdeutschen Antifas wurde „in einer Art Bevormundungsdiskurs die
Notwendigkeit der gemeinsamen Organisierung“ angetragen. Den „ziemlich
schwachen“ Gruppen im Osten wurde angesichts der zunehmenden Stärke der
Faschisten, „vor allem in der ehem. DDR“ von den Westlern „Strukturhilfe�…
angeboten. Doch die lehnten sie meist ab. Eine Folge war, dass die Antifa
im Osten oft eher lokal orientiert war, während vor allem Westler
versuchten, mit der Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation eine
landesweite Organisierung aufzubauen.
Große Ost-West-Bündnisse blieben also schwierig. Doch auch lokal war es
nicht einfach. „In Lichtenhagen haben so viele Bürger geklatscht, da war
für uns klar, dass die bürgerliche Gesellschaft erst mal kein
Ansprechpartner war“, sagt der Rostocker Noetzel.
Durch die Erfahrung, dass Polizei und Staat nicht ausreichend gegen rechte
Gewalt vorgingen, suchten Aktivist*innen nach Handlungsmöglichkeiten,
um sich und andere zu schützen: „Durch Militanz oder das Aufbauen von
Strukturen – etwa zur Beratung der Opfer rechter Gewalt“, sagt Jänicke.
Sollten sie aber mit den Kommunen und damit mit dem Staat zusammenarbeiten?
„Das wurde lokal sehr unterschiedlich gesehen.“
Michael Noetzel gründete 2001 in Mecklenburg-Vorpommern das heute staatlich
geförderte Opferberatungsnetzwerk LOBBI. Als direkte Reaktion auf
Lichtenhagen sieht er diesen Schritt jedoch nicht. „Das Problem bestand ja
in regelmäßigen Angriffen, deren Opfern nicht geholfen wurde.“ Ähnlich
ambivalent wie zum Staat war das Verhältnis zur PDS. „Die war in vielen
Orten ein wichtiger Partner“, sagt Jänicke, ihre Jugendorganisation Solid
war der Antifa sehr nahe. Doch wenn lokale Partei-Akteure offen in der
Tradition der SED standen, kam für die oft aus der DDR-Opposition
verwurzelten Antifas eine Kooperation nicht infrage.
## Asylpolitik der SPD
Auch im Westen mochte die Antifa nach Lichtenhagen mit Parteien kaum
gemeinsame Sache machen. „Die SPD war erst mal kein Partner“, sagt Olaf
Meyer. [6][Der im Mai 1993 von ihr mitgetragene Asylkompromiss] habe die
Nazis „belohnt und ermutigt“. Und so protestieren Antifa-Gruppen eher gegen
die Asylpolitik vor SPD-Büros als mit dieser Demo-Bündnisse zu schließen.
Bewegung gab erst gegen Ende des Jahrzehnts – in Ost und West. „Ende der
1990er Jahre kam die Zeit der ‚Bunt statt Braun‘-Demos“, erinnert sich
Noetzel – breite lokale Bündnisse, mit Antifas, SPD und Gewerkschaften. Es
war die Zeit von Rot-Grün, in der Kanzler Gerhard Schröder einen „Aufstand
der Anständigen“ forderte und das leicht gehässige Wort der „Staatsantifa…
die Runde machte. Doch so konnten Allianzen wie „Dresden Nazifrei“
entstehen, die sich effektiv gegen Nazi-Aufmärsche zu stellen vermochten.
Auch bis sich Akteure außerhalb der Antifa an der Aufarbeitung des Pogroms
von Lichtenhagen beteiligten, sei viel Zeit vergangen, sagt Jänicke, die
Forscherin. „Das wurde lange nicht vom Staat unterstützt.
Antifaschist*innen haben allein für kontinuierliches Gedenken
gesorgt.“ Die Stadt Rostock sei lange viel zu sehr auf ihr Image bedacht
gewesen. „Erst in den letzten Jahren gab es dafür Unterstützung.“
25 Aug 2022
## LINKS
[1] /30-Jahre-nach-Rostock-Lichtenhagen/!5873239
[2] /30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570
[3] /Gedenken-an-Brandanschlag-in-Solingen/!5509744
[4] /Die-Morde-von-Moelln-vor-25-Jahren/!5462457
[5] https://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/30-jahre-antifa-in-ostdeutschl…
[6] /Der-Asylkompromiss-von-1993/!5853601
## AUTOREN
Christian Jakob
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