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# taz.de -- Der „Asylkompromiss“ von 1993: Tiefe Einschnitte ins Grundrecht
> Deutschland rühmt sich mit seiner Hilfsbereitschaft für Geflüchtete. Doch
> auf Fluchtbewegungen reagiert es oft mit Asylrechts-Verschärfungen.
Bild: Bislang bekommen alle Ukrainer*innen, die nach Deutschland fliehen, bedin…
„Sie sind hier willkommen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang April im
Bundestag. Er meint die Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg aus
der Ukraine fliehen. [1][Mehr als 700.000 Geflüchtete] haben die deutschen
Behörden nach drei Monaten der Kämpfe erfasst. Und tatsächlich ist die
Solidarität groß: Deutschland und die anderen EU-Staaten haben mit der
sogenannten Massenzustromrichtlinie erstmals EU-weit ein Instrumentarium
genutzt, um den Ukrainer*innen schnell und unbürokratisch Schutz bieten
zu können. Sie müssen keinen Asylantrag stellen, kein langwieriges
Prüfverfahren durchstehen. Es ist klar: Wer vor diesem völkerrechtswidrigen
Krieg flieht, bekommt Unterstützung.
Es ist genau das, was in einer solchen Situation wie der des Ukraine-Kriegs
getan werden muss. Dass es tatsächlich getan wurde, ist bemerkenswert. Ob
diese Hilfsbereitschaft Bestand hat, ob sie letztlich gar einen
Paradigmenwechsel hin zu einer humaneren Flüchtlingspolitik einläutet, das
ist bislang offen. Denn so sehr Deutschland sich seit Jahrzehnten gerne
seiner Menschlichkeit gegenüber geflüchteten Menschen rühmt, so gerne das
Land betont, immer einen Hauptteil der Last zu tragen – so sehr ist es doch
auch wahr, dass Deutschland auf große Fluchtbewegungen in den vergangenen
Jahrzehnten immer wieder mit Verschärfungen des Asylrechts reagiert hat.
Vor 29 Jahren, am 26. Mai 1993, stimmte der Bundestag über jene
Grundgesetzänderung ab, die lapidar als „Asylkompromiss“ in Erinnerung
blieb. Dabei war das, was die Parlamentarier*innen damals
beschlossen, ein tiefer Einschnitt in die Grundrechte in Deutschland. Und
der wirkt bis heute nach.
## Ein einklagbares Grundrecht auf Asyl
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Dieser Satz fand seinen Weg 1949
nicht zufällig ins deutsche Grundgesetz, als Teil des Artikels 16. Er war
eine der Konsequenzen aus den Menschenrechtsverbrechen des
Nationalsozialismus und der bitteren Erkenntnis, dass damals viel zu viele,
die zu fliehen versuchten, an verschlossenen Grenzen scheiterten. Die
Bundesrepublik schrieb damals ein einklagbares Grundrecht auf Asyl fest.
Ein Grundrecht, das aber nur so lange Bestand hatte, bis Menschen es
tatsächlich in Anspruch nahmen. In den 1990er Jahren stiegen die Zahlen
Asylsuchender stark an. Die Menschen flohen vor den Kriegen auf dem Balkan,
den Bürgerkriegen im Kongo oder in Burundi oder aus der zerfallenden
Sowjetunion. 1992 stellten fast 440.000 Menschen einen Asylantrag – etwa
doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Kommunen waren auf die Versorgung
und Unterbringung so vieler Menschen nicht vorbereitet.
Plötzlich war von „Asylmissbrauch“ die Rede. Immer wieder griffen Rechte
und Neonazis die Unterkünfte von Asylsuchenden und
Vertragsarbeiter*innen an. In Hoyerswerda beteiligten sich 1991 bis
zu 500 Menschen an den rassistischen Ausschreitungen, die Polizei stoppte
sie nicht. Im August 1992 belagerten in Rostock-Lichtenhagen über 1.000
Rassist*innen und Rechtsextreme mehrere Tage lang die Zentrale
Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen und das „Sonnenblumenhaus“, ein
Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. Sie warfen Molotowcocktails
und steckten das Wohnhaus, in dem sich über 100 Menschen befanden, in
Brand. Die Polizei ließ sie lange gewähren, die Feuerwehr hatte zunächst
keinen Zugang zum Haus. Nur durch Glück gab es keine Toten.
## Gegen „Asylmissbrauch“
Politik und Gesellschaft reagierten entsetzt. Schnell machten sie Schuldige
aus. Diese fanden sie aber nicht etwa in den Gewalttäter*innen. Berndt
Seite, CDU-Politiker und damals Ministerpräsident in
Mecklenburg-Vorpommern, erklärte noch während der Ausschreitungen auf einer
Pressekonferenz: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass
eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die
Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird.“
Rückendeckung bekam er von seinem Parteikollegen Rudolf Seiters, damals
Bundesinnenminister: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des
Asylrechts“, erklärte dieser. Er hoffe, dass die SPD nun endlich bereit
sei, den Weg frei zu machen für eine Grundgesetzänderung – dafür brauchte
es damals wie heute eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Und die Sozialdemokrat*innen waren bereit. Trotz massiver
Gegenproteste aus der Zivilbevölkerung beschloss das Parlament am 26. Mai
1993 mit den Stimmen der Regierungsfraktionen Union und FDP, aber auch der
oppositionellen SPD mit großer Mehrheit eine Neuregelung des Asylrechts, um
„Asylmissbrauch“ zu verhindern: 521 Abgeordnete stimmten dafür, gerade mal
132 dagegen.
Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde als Artikel 16a
durch so viele Zusätze ergänzt, dass heute kaum noch ein Mensch die
Möglichkeit hat, sich darauf zu berufen. Keinen Anspruch auf Asyl hat, wer
aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat einreist, oder wer auf seiner
Flucht nach Deutschland über ein Land einreist, das als sicher eingestuft
ist. Und hierzu zählt jedes einzelne EU-Land.
Für Deutschland, in der Mitte der EU gelegen, eine bequeme Lösung.
Heutzutage erhält weniger als ein Prozent der Asylbewerber*innen
Schutz über die Regelung im Grundgesetz. Stattdessen sind es die Genfer
Flüchtlingskonvention und das EU-Recht, die zum Tragen kommen.
## Leichtfertiger Umgang
Die deutsche Entscheidung zum Asylrecht hatte Folgen. Deutschland lagerte
seine Verantwortung auf die Nachbarländer aus, diese folgten dem Beispiel.
Heute gilt im EU-Asylrecht die Dublin-Regelung: Menschen müssen in dem Land
Asyl beantragen, in dem sie die EU betreten haben. Das Problem wird an die
Ränder geschoben – und längst ist aus der EU die „Festung Europa“ gewor…
an deren Seegrenzen jedes Jahr Tausende Schutzsuchende ertrinken.
Vor allem aber erfolgte eine Schuldumkehr, die in den letzten Jahren immer
wieder zu beobachten war: Wenn Deutschland keine Strukturen schafft, um
Schutzsuchende menschenwürdig unterzubringen und ihre Asylanträge zu
bearbeiten, dann ist daran nicht die deutsche Politik und Verwaltung Schuld
– sondern diejenigen, die Schutz suchen. Und wenn ihr Leben bedroht wird
von RassistInnen und Rechtsextremen, dann sind auch sie selber Schuld –
weil zu viele von ihnen es gewagt haben, zu fliehen.
Wie heute gab es auch in den Jahren ab 2015, als Menschen vor dem grausamen
Bürgerkrieg in Syrien flohen oder vor Tod und Gewalt in Afghanistan,
zunächst große Offenheit und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft. Doch
man denke an den ehemaligen CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der
schon bald von „Asyltourismus“ sprach, und an den ehemaligen Innenminister
Horst Seehofer der Migration die „Mutter aller Probleme“ nannte. Und man
denke an unzählige Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, an Hetzjagden
in Chemnitz, an „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des
Abendlands“ und den Aufstieg der AfD – und wie die Bundesregierung darauf
mit einer Asylrechtsreform reagierte, der Kritiker*innen mit Blick auf
die vielen Verschärfungen zurecht den Spitznamen „Hau-ab-Gesetz“ gaben.
Die aktuellen Verbesserungen gelten [2][bislang nur für Ukrainer*innen]
und Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltstitel in der Ukraine. Doch die
Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag viele Verbesserungen
versprochen. Einen „Neuanfang“ und einen „Paradigmenwechsel“ in der
Migrations- und Integrationspolitik hat sie angekündigt. Doch das war,
bevor nun erneut Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt Schutz
in Deutschland suchen.
Aktuell gilt es sich also zu erinnern, wie leichtfertig Deutschland 1993
das Grundrecht auf Asyl in die Bedeutungslosigkeit verbannte. Denn ob die
Bundesregierung ihr Versprechen einer humaneren Asylpolitik hält, hängt
auch davon ab, mit welcher Vehemenz die Zivilgesellschaft das einfordert.
26 May 2022
## LINKS
[1] /Ukraine-Gefluechtete-in-Berlin/!5854014
[2] /Krieg-in-der-Ukraine/!5839619
## AUTOREN
Dinah Riese
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