# taz.de -- Nach Abschiebeflug nach Äthiopien: Zukunft ungewiss | |
> Ende März 2021 schiebt Deutschland 17 Menschen nach Äthiopien ab – obwohl | |
> dort Bürgerkrieg herrscht. Und die Betroffenen? | |
Bild: 163 Sammelabschiebungen gab es 2021 (Symbolfoto) | |
Addis Abbeba taz | Am Dienstag, den 23. März 2021, zwischen 6 und 7 Uhr | |
früh, fahren zwei Polizeiwagen vor einer kleinen Wohnung am Menzelplatz in | |
Bayreuth vor. Vier Polizisten, so erinnert sich Hussen Adem Eshetu, seien | |
ausgestiegen und hätten die Tür seiner Wohnung aufgebrochen. | |
„Ich habe erst gar nicht verstanden, was da passiert“. Dann hätten die | |
Polizisten angefangen zu schreien: „Mitkommen, mitkommen!“ Zwei hätten ihn | |
fixiert, während sie ihm Handschellen anlegten. Er habe noch versucht, sich | |
zu erklären, habe nach seinem Schwerbehindertenausweis suchen wollen. „Sie | |
hatten ihre Waffen gezückt und geschrien, ich soll leise sein, wenn nicht, | |
wird etwas Schlimmes passieren.“ Dann hätten sie ihn nach draußen gezerrt | |
und in einen der Polizeiwagen gestoßen. | |
Wenige Minuten später klopfen 200 Kilometer weiter nordwestlich vier | |
Polizeibeamte an die Tür des Blumenhauses im Werner-Eisenberg-Weg in | |
Witzenhausen, Hessen. Dort wohnt Lemlem Beyene, deren Name wir zu ihrem | |
Schutz geändert haben. Beyene ist 60 Jahre alt, Eritreerin, und lebt seit | |
fast neun Jahren in Hessen. | |
Am Vortag hatte sie ihre Koffer gepackt und mit ihrer Betreuerin in der | |
Gemeinschaftsunterkunft einen letzten Kaffee getrunken, weil sie am Tag | |
darauf in eine neue Unterkunft umziehen sollte, nicht weit von der | |
bisherigen. Sie ist gerade erst von Corona genesen und fühlt sich schwach, | |
als sie an diesem Morgen im Schlafanzug und ohne Schuhe die Tür öffnet. | |
„Sie haben mich sofort an beiden Armen gepackt. Ich habe sie gefragt: Was | |
wollt ihr mit einer alten Frau wie mir? Sie haben gesagt: ‚Wir schieben | |
dich ab!‘“ Auf ihre Bitte, sich wenigstens umziehen zu dürfen, hätten die | |
Beamten nicht reagiert. | |
Um kurz nach 8 Uhr findet sich 90 Kilometer südlich Abere Damtie Yezachew | |
in der Ausländerbehörde am Heinrich-Bibra-Platz in Fulda ein. Er hat nicht | |
geschlafen. Die ganze Nacht hat er Schichtdienst im Lager des | |
Paketdienstleisters GLS im nahe gelegenen Bad Hersfeld geschoben. Er war | |
nur kurz zu Hause, um sich ein frisches Hemd anzuziehen und rechtzeitig auf | |
dem Amt zu erscheinen. | |
In der Vorladung stand im Betreff: „Angelegenheit: Ablauf Ihrer Duldung“. | |
Er hofft, dass an diesem Morgen seine Aufenthaltspapiere erneuert werden | |
sollen, damit er – so hofft er – auch weiterhin als Lagerist arbeiten kann. | |
Yezachew meldet sich im 2. Obergeschoss mit der Nummer 7687. Dann wartet | |
er. Wie lange, weiß er nicht mehr. Aufgerufen wird er nicht. Stattdessen | |
erscheinen fünf oder sechs Polizisten, so erinnert er sich, und verhaften | |
ihn. „Das war der Moment, in dem ich gemerkt habe, dass ich ausgetrickst | |
worden bin“, sagt er. | |
## Ein Flug, 17 Menschen, 430.000 Euro | |
Hussen Eshetu, Lemlem Beyene und Abere Yezachew sind sich in ihrem Leben | |
nie begegnet. Bis zu diesem Dienstag im März 2021, der ihre Leben für immer | |
verändern wird. Die drei haben wenig gemein. Eshetu ist damals 33, trägt | |
gerne Hemden, hört Musik von Rihanna und DJ Khaled und kämpft seit Jahren | |
mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Beyene ist 60, tiefgläubige | |
Katholikin und hat sich, seit sie denken kann, nie den Mund verbieten | |
lassen. Der 34-jährige Yezachew ist schüchtern und unsicher, er liebt seine | |
Arbeit, und in seiner Freizeit läuft er Marathon. Was sie eint: Sie alle | |
sind vor vielen Jahren aus Äthiopien geflohen, sie alle haben in | |
Deutschland einen Asylantrag gestellt. Und sie alle sollen an diesem 23. | |
März abgeschoben werden mit dem Flug ET8761 von München nach Addis Abeba. | |
An Bord der Maschine sind 17 Personen, 7 Frauen und 10 Männer, die nach | |
Äthiopien gebracht werden sollen, und 76 Beamte der Bundespolizei. Laut | |
Antwort der Bundespolizei auf eine kleine Anfrage der Linken im März 2022 | |
wurde in diesen 17 Fällen „das Hilfsmittel der körperlichen Gewalt | |
eingesetzt“. Bei dem Flug handelt es sich um eine von 163 | |
Sammelabschiebungen im Jahr 2021. Die Kosten für die Abschiebung belaufen | |
sich auf rund 430.000 Euro, 25.000 Euro pro Person. Es ist die teuerste | |
Abschiebung im vergangenen Jahr. | |
Warum wird so viel Geld ausgegeben, um Menschen wie Eshetu, Beyene und | |
Yezachew in ein Land abzuschieben, in dem zu diesem Zeitpunkt Bürgerkrieg | |
herrscht? Menschen, die sich längst neue Leben aufgebaut haben? | |
Um Antworten auf diese Frage zu finden und die Geschichte des Fluges zu | |
rekonstruieren, haben wir die drei Betroffenen in Äthiopien getroffen. Wir | |
habe Dutzende Gerichtsakten und Dokumente ausgewertet. Und wir haben mit | |
Unterstützer:innen und Behörden in Deutschland gesprochen. | |
## Abschiebung eines Schwerkranken | |
Am 23. März um 8.57 Uhr erhält die Anwältin Claire Deery eine SMS von einem | |
befreundeten Juristen. Ob sie spontan helfen könne? Es gehe darum, eine | |
Abschiebung zu stoppen. Eine Frau, 60 Jahre, seit fast zehn Jahren in | |
Deutschland, sei vor wenigen Stunden von der Polizei in Witzenhausen | |
abgeholt worden und seitdem in Gewahrsam. Für Deery beginnt ein Wettlauf | |
gegen die Zeit. | |
Noch weiß sie nicht, für welche Uhrzeit der Abschiebeflug angesetzt ist. | |
Zwar arbeitet sie seit zwölf Jahren im Asylrecht, doch einen Fall aus | |
Äthiopien hatte sie nie auf dem Tisch. Obwohl sie Lemlem Beyene nicht | |
kennt, verfasst sie an diesem Morgen einen Asylfolgeantrag, den sie um | |
11.01 Uhr an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) faxt. | |
Betreff: „Eilt!!! Abschiebung heute!“. Um 11.26 Uhr schickt sie einen | |
Eilantrag an die abschiebende Ausländerbehörde mit der Forderung, Beyene | |
aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen, solange der Folgeantrag nicht | |
entschieden wurde. | |
Wenige Minuten später findet sich in Witzenhausen eine Gruppe auf dem | |
Marktplatz ein. Der Asylhelferkreis hat zu einer spontanen Mahnwache | |
aufgerufen, um gegen Beyenes drohende Abschiebung zu demonstrieren. Mehr | |
als einhundert Leute sind gekommen, manche haben Fahnen dabei, auf denen | |
„Leave No One Behind“ steht. | |
Beyene selbst bekommt davon nichts mit. Sie wird von der Polizei in Fulda | |
in einer kleinen Zelle festgehalten, erinnert sie sich. Zunächst hätte sie | |
noch ihren Pyjama angehabt, dann hätten die Beamten eine Tasche mit | |
Klamotten aus ihrer Wohnung geholt. Doch obwohl sie gefroren habe, hätten | |
die Beamten ihr ihren Schal weggenommen. „Sie haben gesagt, dass ich mich | |
damit erhängen könnte.“ Was sind das für Menschen, fragt sich Beyene, die | |
mich abschieben, obwohl sie glauben, dass mir sogar der Tod lieber wäre? | |
Währenddessen ist Hanns-Georg Schmidt in Bayreuth in Panik. Seit fast | |
zweieinhalb Jahren ist er der gesetzliche Betreuer von Hussen Eshetu. Am | |
Vortag hat er von Eshetus Anwältin erfahren, dass die Berufung gegen dessen | |
abgelehnten Asylfolgeantrag vom Gericht nicht zugelassen wurde. Kurz | |
gesagt: dass Eshetus letzte Chance auf Asyl in Deutschland verpufft ist. | |
Zusammen mit Eshetus Psychotherapeutin hatte er überlegt, wie er es ihm | |
möglichst schonend beibringen kann. Doch dazu kommt es nicht mehr. | |
Am Morgen des 23. März bekommt er einen Anruf. Von Eshetu, aus dem | |
Polizeigewahrsam. „Ich war wie unter Schock“, erinnert sich Schmidt. Er | |
habe versucht, den Polizisten am Telefon die Situation zu erklären. „Ich | |
habe gesagt: Wissen Sie, dass Sie dabei sind, einen schwerkranken Mann | |
abzuschieben?“ Die Polizisten hätten nur erwidert, dass sie einen Arzt | |
dabei hätten, der sich darum kümmert. Wenig später wird Eshetu zum | |
Flughafen Franz-Josef-Strauß nach München gebracht. | |
## Mit Fußfesseln im Flieger | |
Es ist der Ort, an dem sich die Wege von Lemlem Beyene aus Witzenhausen, | |
Hussen Eshetu aus Bayreuth und Abere Yezachew zum ersten Mal kreuzen. | |
Yezachews Erinnerung ist verschwommen, wie bei einem schlechten Traum. Er | |
hat das Flugticket aufgehoben: ein Stück Papier mit gold-gelbem Rand. Im | |
linken oberen Eck der aufsteigende [1][Kranich des Lufthansa-Logos]. Darauf | |
in krakeligen Lettern mit Kuli geschrieben: ET8761 MUC-ADD, YEZACHEW Abere | |
Damtie, Bag: 0035. | |
Zwischen 21 und 22 Uhr hebt das Flugzeug ab. Neben jedem Passagier nehmen | |
zwei Polizeibeamte Platz. Yezachew und Eshetu berichten, dass ihnen | |
Fußfesseln angelegt wurden und dass ein dritter Polizist hinter ihnen saß. | |
„Wann immer ich mich zur Seite drehen wollte, um nur aus dem Fenster zu | |
schauen, hat er meinen Kopf festgehalten“, sagt Eshetu. | |
Im Norden Äthiopiens herrscht zu diesem Zeitpunkt seit fünf Monaten ein | |
blutiger Bürgerkrieg, der bis heute Zehntausende Leben gekostet und laut | |
UN-Angaben mehr als drei Millionen Menschen vertrieben hat. Auf der einen | |
Seite kämpfen die [2][Rebellengruppen der „Volksbefreiungsfront von Tigray“ | |
(TPLF)], die bis zum Machtwechsel 2018 selbst das Land regiert hat –, auf | |
der anderen die [3][äthiopische Armee um Premierminister Abiy Ahmed] | |
gemeinsam mit den Streitkräften von Eritrea. 2019 hatte Abiy Ahmed mit | |
Eritrea Frieden geschlossen und dafür den Friedensnobelpreis verliehen | |
bekommen. Im Frühjahr 2021 weitet sich der Krieg vom Bundesstaat Tigray | |
auch auf die Regionen Afar und Amhara aus, jener Bundesstaat, aus dem | |
Yezachew kommt. | |
In den Morgenstunden des 24. März landen Yezachew, Beyene und Eshetu in | |
Addis Abeba. Sie reisen in ein Land ein, das sie selbst kaum wiedererkennen | |
und von dem sie sagen, dass es ihnen fremd geworden ist. Zu viel Zeit ist | |
vergangen, seit sie von hier aufgebrochen sind. | |
Wenn man mit dem Flugzeug über Addis Abeba kreist, sieht man am Boden ein | |
Mosaik, das so recht nicht zusammenpassen will. Monotone, gleichförmige | |
Siedlungen, die am Stadtrand wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Hügel | |
der Stadt mit den hohen Eukalyptusbäumen. Man sieht die kugelförmigen | |
Dächer der orthodoxen Kirchen, die Wolkenkratzer der Banken und Tausende | |
von Wellblechdächern, die sich zwischen die Hügel und Hochhäuser quetschen, | |
in denen die meisten der Menschen leben. Äthiopien zählt noch immer zu den | |
ärmsten Ländern der Welt. Dann taucht man wie in einen trüben Teich in den | |
Smog der Großstadt ein, deren Straßen meist von hupenden Autos verstopft | |
sind. | |
## „Sie sind in der Nacht gekommen“ | |
Ein knappes Jahr später, im März 2022, treffen wir Lemlem Beyene zum ersten | |
Mal im Stadtzentrum von Addis, wie es hier alle nur nennen. Sie hat ein | |
Tuch um ihren Kopf gewickelt, eine Sonnenbrille auf, trägt eine Maske, | |
obwohl in Addis kaum jemand Maske trägt. Sie ist kaum zu erkennen, ein | |
wenig sieht sie aus wie eine Agentin auf geheimer Mission. „Ich bin nicht | |
gerne draußen“, sagt sie. „Ich habe Angst.“ | |
Vor drei Jahren sei ihr Bruder, ein regimekritischer Journalist, aus | |
Eritrea nach Äthiopien geflohen. Kurz darauf sei er tot in einem | |
Hotelzimmer aufgefunden worden. Die Umstände des Todes seien bis heute | |
nicht geklärt. Aber Beyene sagt: „Hier in Addis wimmelt es von eritreischen | |
Geheimdienstlern und ich fürchte mich davor, dass mir das Gleiche | |
widerfährt.“ Beyene war nachweislich selbst viele Jahre aktives Mitglied | |
der eritreischen Oppositionspartei EPDP, die sich gegen den Diktator Isaias | |
Afewerki stellt. | |
In der Lobby eines kleinen Hotels erzählt sie uns ihre Geschichte. Doch wer | |
sie verstehen will, muss versuchen, die Geschichte von Äthiopien und | |
Eritrea zu verstehen. Denn als Beyene 1960 als Tochter eritreischer Eltern | |
in Addis Abeba geboren wird, ist Eritrea kein eigener Staat, sondern kämpft | |
um seine Unabhängigkeit von Äthiopien, das die einstige italienische | |
Kolonie am Roten Meer nach dem Zweiten Weltkrieg in Besitz genommen hat. | |
Erst 1991 wird Eritrea nach jahrzehntelangem Krieg unabhängig. Kinder | |
eritreischer Eltern bekommen automatisch die eritreische Staatsbürgerschaft | |
– aber weil sie damals nicht in Eritrea lebt, bekommt Beyene keinen | |
eritreischen Pass. | |
Als 1998 ein Grenzkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea ausbricht, lässt die | |
äthiopische Regierung Tausende von Eritreern aus Addis Abeba nach Eritrea | |
deportieren; viele werden anschließend an die Front geschickt, um gegen | |
Äthiopien zu kämpfen. Einer von ihnen ist Beyenes Ehemann. „Sie sind in der | |
Nacht gekommen, wie bei meiner Abschiebung, und haben ihn verschleppt.“ Es | |
ist das letzte Mal, dass sie ihn sieht. | |
Beyene selbst wird damals nicht deportiert. Sie traut sich nicht nach | |
Eritrea zu ziehen, aus Angst selbst an die Front geschickt zu werden. Aber | |
in Äthiopien fühlt sie sich auch nicht mehr sicher. Über mehrere Jahre | |
wechselt sie regelmäßig ihre Unterkunft, zuletzt versteckt sie sich | |
monatelang bei Nonnen in einem Kloster. Im Jahr 2008 ermöglicht die | |
äthiopische Regierung allen Eritreern in Addis einen äthiopischen Pass zu | |
erwerben. Beyene nutzt die Möglichkeit, doch sicher fühlt sie sich trotzdem | |
nicht. Drei Jahre später kauft sie sich ein Flugticket. Am 24. März 2012 | |
landet sie in Deutschland. Eine Woche darauf stellt sie als Eritrerin einen | |
Antrag auf Asyl. | |
## Verhaftet, gefoltert und traumatisiert | |
Auch Hussen Eshetu treffen wir in Addis. Er sitzt unter einem | |
Coca-Cola-Schirm auf der Terrasse eines heruntergekommenen Cafés an einem | |
Platz im Zentrum. Von hier aus kann man Straßenkinder beobachten, die | |
zwischen den Autos hin und her laufen, versuchen Kaugummis und Masken zu | |
verkaufen. Frauen, die am Straßenrand Kaffee in mit Äthiopien-Fähnchen | |
bedruckte Tassen ausschenken. Businessmänner mit Sonnenbrillen. Eshetu | |
wirkt, als bekäme er von alldem nichts mit, als hätte er die Welt um sich | |
herum ausgeblendet. | |
Im Gymnasium und danach sei er politisch aktiv gewesen, erzählt er. Er habe | |
Demonstrationen organisiert und Gedichte geschrieben gegen die TPLF, die | |
das Land damals seit mehr als 20 Jahren beherrschte. Eines Tages hätten die | |
Sicherheitskräfte das Haus seiner Eltern gestürmt und vor seinen Augen | |
seine Mutter erschossen. Er sei verhaftet worden. Im Gefängnis in Addis | |
Abeba, wo er über zwei Jahre gefangen gehalten wurde, sei er mehrmals | |
gefoltert worden, bevor er 2014 über Nordafrika nach Europa fliehen konnte. | |
Im Oktober 2014 stellt er in Schweden einen Asylantrag. Als dieser | |
abgelehnt wird, flieht er weiter nach Deutschland, wo er im Oktober 2016 | |
erneut einen Asylantrag stellt. | |
Bereits vier Monate zuvor, am 27. Juni 2016, hatte auch Abere Yezachew | |
einen Asylantrag gestellt, so steht es auf einem zerknitterten Zettel, auf | |
dem er mit blauer Tinte die Eckpunkte seiner Biografie skizziert. Wir | |
treffen ihn Ende März in Gondar im Bundesstaat Amhara. Die Sonne brennt mit | |
30 Grad vom Himmel. Durch die Straßen schwirren Tuktuks, deren Rückscheiben | |
beklebt sind mit den verschiedenen Kaisern Äthiopiens: Haile Selassie, | |
Menelik, Tewodros. Und mit Stickern, auf denen #NoMore steht – in | |
Anspielung auf US-Militärinterventionen weltweit. | |
Die Menschen hier sind stolz darauf, dass Äthiopien das einzige | |
afrikanische Land ist, das nie kolonialisiert wurde. Viele beschuldigen den | |
Westen, die TPLF zu unterstützen, und machen die USA für die Eskalation des | |
Bürgerkriegs verantwortlich. Noch vor wenigen Monaten verlief die | |
Frontlinie nur 100 Kilometer von hier. Inzwischen ist die Anspannung der | |
Normalität gewichen, aber dennoch sind die Folgen des Krieges an jeder Ecke | |
zu spüren. Die Preise für Öl und Mehl sind bis um 200 Prozent gestiegen. | |
Die Straßen in Gondar sind gesäumt von Bettlern. „Seit dem Krieg ist die | |
Wirtschaft am Boden und es gibt keine Arbeit mehr“, sagt Yezachew. Auch für | |
ihn nicht. | |
Auf einem Zettel steht: „Ich war auf dem College vom 16-10-2011 bis | |
7-07-2014. Einen Monat später, Ende August, bin ich von der Polizei aus | |
politischen Gründen eingesperrt worden und bin für 6 Monate im Gefängnis | |
geblieben vom 27. August 2014 bis zum 24-02-2015. Ende Februar konnte ich | |
mit Glück aus dem Gefängnis fliehen, habe sofort mein Land verlassen und | |
bin in den Sudan gezogen.“ Dort habe er gearbeitet, bevor er weiter | |
geflohen sei. Nach Libyen, übers Mittelmeer. Von Italien nach Deutschland. | |
## „Ich habe niemandem etwas genommen“ | |
Beyene, Eshetu und Yezachew – sie alle hofften, dass ihre Flucht in | |
Deutschland ein Ende findet. Sie ahnten nicht, dass ihre Ankunft bloß der | |
Beginn eines neuen Kapitels sein würde. Eines, in dem es um Anerkennung | |
geht, um Hoffnung und Angst. Um Kämpfe mit Behörden, die sie wieder | |
loswerden wollen. Kämpfe für eine rechtskräftige Entscheidung, die für | |
Äthiopier:innen im Jahr 2019 im Schnitt 32 Monate dauern. | |
Nur etwa 30 Prozent erhalten einen Status, der ihnen ein Recht auf Schutz | |
in Deutschland gewährt. Rund ein Drittel der Asylanträge werden negativ | |
entschieden. Zwischen 2015 und 2021 wurden 71 Menschen nach Äthiopien | |
abgeschoben. Alle anderen leben mit der Duldung und der Angst, dass es | |
jederzeit so weit sein könnte. Dass es ihnen so ergeht wie den 17 am 23. | |
März. | |
Abere Yezachews Asylantrag wird 2017 abgelehnt, erzählt er. Die Unterlagen | |
liegen uns nicht vor, da sein Anwalt sie nicht herausgeben will – Yezachew | |
habe die Rechnung nicht bezahlt. „Wir können davon ausgehen, dass es war | |
wie bei vielen äthiopischen Männern“, sagt Sonja Berg vom Verein „Bündnis | |
für faires Asylrecht“, der äthiopische Geflüchtete unterstützt. | |
„Normalerweise sagt das Gericht, man könnte woanders in Äthiopien hingehen, | |
da sei ja genug Platz. Man muss einen ganz individuellen Grund haben, dass | |
man nicht nach Äthiopien kann. Bei Frauen ist Beschneidung ein Grund, | |
Männer müssen schon hochpolitisch aktiv sein, es reicht nicht, einfach auf | |
Facebook zu schreiben ‚Ich habe was gegen Abiy Ahmed‘ oder wen auch immer.�… | |
„Ich habe alles getan“, sagt Yezachew. Zu unserem Treffen hat er alle | |
Dokumente mitgebracht, die er für den Termin beim Amt zusammengestellt und | |
die er in den Monaten danach gesammelt hat: eine Teilnahmebestätigung der | |
Maßnahmen-Kombination „Perspektive für Flüchtlinge“ vom Bildungswerk der | |
hessischen Wirtschaft. Eine weitere des Kurses „Perspektive für Jugendliche | |
Flüchtlinge“ vom Bildungszentrum Bau Osthessen. Der Nachweis für ein | |
Praktikum im Bereich Lagerlogistik. | |
Zweieinhalb Jahre arbeitete er nach dem Praktikum für eine Zeitarbeitfirma, | |
die ihn als Lageristen vermittelte. Erst ein halbes Jahr im Lager von | |
Amazon, dann bei einem lokalen Bauunternehmen, später bei Hermes, zuletzt | |
bei der GLS in Bad Hersfeld. „Ich habe niemandem etwas genommen“, sagt er. | |
„Ich hatte Freunde, ich habe gearbeitet und Steuern gezahlt.“ | |
Was Abere Yezachew nicht weiß: Er hätte trotz seines abgelehnten | |
Asylbescheids eine Chance gehabt. Die Chance auf Beschäftigungsduldung. Ein | |
Jahr nach Ablehnung seines Asylbescheids und nach eineinhalb Jahren | |
Vollzeitbeschäftigung hätte er einen Antrag stellen können. „Er hätte gute | |
Chancen gehabt“, sagt Sonja Berg. Doch die Ausländerbehörde hat Yezachew | |
nicht über diese Möglichkeit informiert. | |
## Psychologische Gutachten lassen das Gericht kalt | |
Auch Hussen Eshetus Asylantrag wird zunächst abgelehnt. Das Gericht hielt | |
seine Schilderungen für unglaubwürdig. Bereits in Schweden sei sein Antrag | |
abgelehnt worden, damals habe er nichts von seiner toten Mutter erzählt. | |
Auch wenn er sagt, dass er damals zu traumatisiert gewesen sei, um die | |
volle Wahrheit zu erzählen: Das Gericht glaubt ihm nicht mehr. Doch Eshetu, | |
damals 31, schöpft neue Hoffnung, als er einen Mann kennenlernt, der bald | |
wie ein Vater für ihn wird: Hanns-Georg Schmidt. | |
An einem Nachmittag Anfang März sitzt Eshetu in Addis Abeba mit einem | |
Laptop auf dem Schoß und wippt nervös mit dem Fuß. Als auf dem Bildschirm | |
das Gesicht eines älteren Mannes mit brüchiger Stimme und weißem Haar | |
erscheint, ruft er: „Hanns-Georg, Hanns-Georg, wie geht es dir, | |
Hanns-Georg? Ich vermisse dich, Hanns-Georg“. Fast vier Jahre ist es her, | |
dass das Gericht in Bayreuth ihm Hanns-Georg Schmidt als gesetzlichen | |
Betreuer zur Seite stellte. Da hatte Eshetu bereits mehrere mehrmonatige | |
Psychiatrieaufenthalte und einen Selbstmordversuch hinter sich. „Der junge | |
Mann war am Boden zerstört“, sagt Schmidt. „Aber wir haben geschafft, ihn | |
zu stabilisieren.“ Zwischendrin habe er sogar ehrenamtlich bei der | |
Stadtmission in Bayreuth mitgearbeitet. | |
Schmidt trifft sich nicht nur mehrmals pro Woche mit Hussen Eshetu, er | |
bemüht sich auch, das Asylverfahren wieder aufzunehmen mit einem | |
Asylfolgeverfahren, in dem er neue Gründe anführt, warum Eshetu bleiben | |
darf: Es geht jetzt um seine psychische Erkrankung. Schmidt beauftragt zwei | |
Gutachterinnen, die feststellen, dass die Inhaftierung, die körperliche | |
Folter, der Tod seiner Mutter sowie der Tod von anderen Geflüchteten | |
während der Fahrt über das Mittelmeer als traumatische Situationen gewirkt | |
haben. Mit der Belastungsstörung sei auch eine immer wieder auftretende | |
ernsthafte Suizidalität verbunden. | |
„Es war klar, dass man ihn auf keinen Fall dorthin abschieben kann“, sagt | |
Schmidt. Doch das Gericht lässt die Gutachten kalt. Sie hätten keine | |
Gültigkeit, da sie nicht von einem Facharzt erstellt worden seien, heißt | |
es. Zwar ist die Gutachterin promovierte Psychologin, Psycho- und | |
Traumatherapeutin – doch das reicht nicht. Im Dezember 2020 schreibt das | |
Bayreuther Verwaltungsgericht in seinem Urteil zum Asylfolgeverfahren, dass | |
sich auch das zweite von einer Fachärztin für Psychiatrie erstellte | |
Gutachten auf persönliche Eindrücke, vage Anhaltspunkte oder vorherige | |
ärztliche Stellungnahmen stütze und damit ungültig sei. Seine Medikamente | |
könne Eshetu in Addis Abeba umstellen. | |
Den Brief mit der Zurückweisung der Berufung bekommt seine Anwältin am 22. | |
März 2021; das Bamf hatte in einer früheren Begründung geschrieben: „Er | |
kann auf den Familienclan zurückgreifen“, die elf Geschwister könnten sich | |
um ihn kümmern. Noch bevor Hanns-Georg Schmidt Eshetu über das Schreiben | |
informieren kann, wird der abgeschoben. | |
## Neu-Eichenberg, die Heimat | |
Lemlem Beyenes Hände zittern, als sie die zerknitterten DIN A4-Bögen aus | |
ihrer Tasche zieht. Draußen rasen auf der Stadtautobahn Lastwagen vorbei. | |
Drinnen versucht sie gegen den Lärm der Stadt anzukommen. Auf Deutsch liest | |
sie die Zeilen der Briefe vor, die ihre Freundinnen aus Hessen geschickt | |
haben: | |
Liebe Lemlem, auch wenn schon einige Wochen vergangen sind, es ist in | |
unserer Runde immer wieder das Gespräch von Deiner so brutalen Abschiebung, | |
für die man keine Worte und keine Erklärung findet? Das “warum“ bleibt und | |
vor allem versteht niemand, warum ein Mensch, der sich so gut in der | |
Gemeinschaft eingelebt hatte, der jederzeit hilfsbereit für andere da | |
gewesen ist, auf einmal – nach fast zehn Jahren – ausgewiesen wird. | |
Immer wieder erzählt Beyene von ihrer Heimat, wie sie Neu-Eichenberg mit | |
seinen alten Fachwerkhäusern nennt. Und davon wie sie kurz nach ihrer | |
Ankunft in der Geflüchtetenunterkunft am Sonntag 40 Minuten zu Fuß zur | |
Kirche lief. Sie erzählt von ihren Besuchen bei den Schwestern von | |
Bethlehem im Kloster Wollstein und davon, wie sie selbstgebackenes Brot | |
mitgebracht hat. Von ihrem Praktikum im Kindergarten und dem in der | |
Pflegeeinrichtung. Wie zum Beweis zeigt sie die Fotos von ihrem | |
Beurteilungsbogen des Seniorenwohnheims Hospital St. Elisabeth auf ihrem | |
Smartphone: | |
Frau Beyene ist pünktlich ++ motiviert ++ zuverlässig ++ erledigt Aufgaben | |
selbstständig ++ teamfähig ++ belastbar ++ kontrolliert ihre | |
Arbeitsergebnisse ++ ist handwerklich geschickt ++ hat Ordnung am | |
Arbeitsplatz ++ | |
Überall steht ein [4][„]sehr gut“. Dennoch wird auch Lemlem Beyenes | |
Asylantrag abgelehnt. Obwohl sie angibt, Eritreerin zu sein und die | |
äthiopische Botschaft zunächst bestreitet, dass sie Äthiopierin ist, gehen | |
die deutschen Behörden von einer äthiopischen Staatsbürgerschaft aus, und | |
außerdem davon, dass sie sicher dorthin zurückkehren kann. Sollte Beyene | |
doch Eritreerin sein, könne sie sich in Äthiopien problemlos eine | |
unbefristete Aufenthaltserlaubnis besorgen. Eritreer:innen wurden in | |
Deutschland 2021 im Gegensatz zu Äthiopier:innen in 84 Prozent der Fälle | |
Schutz gewährt. | |
Wenn Beyene von den deutschen Behörden spricht, verengen sich ihre Augen. | |
Da ist Trauer und Wut. In einem Mix aus Englisch und Deutsch sagt sie: „Und | |
das ist der Grund, warum sie mich behandeln wie eine Verbrecherin? Meine | |
Heimat ist Deutschland, nicht Addis Abeba.“ Gemeinsam mit ihrer Anwältin | |
will sie beweisen, dass Deutschland sie unrechtmäßig abgeschoben hat. Sie | |
will den Albtraum zurückdrehen. Bis zum 23. März, dem Tag ihrer | |
Abschiebung. | |
## Von Warteschleife zu Warteschleife | |
Claire Deery hat damals den ganzen Tag an Beyenes Fall gearbeitet, als nach | |
vielem Hin und Her um 16.28 Uhr das Fax mit dem positiven Eilbeschluss des | |
Verwaltungsgerichts Kassel bei ihr eingeht. Darin steht, dass Beyene erst | |
abgeschoben werden darf, wenn das Bamf über den Asylfolgeantrag entschieden | |
hat. Deery freut sich, sie ist sich sicher: Jetzt muss die Bundespolizei | |
Beyene am Flughafen in München freilassen. Dies fordert sie auch per Fax | |
von der Bundespolizei in München, dann ruft sie dort an, insgesamt vier Mal | |
zwischen 16.30 und 21 Uhr, bevor das Boarding des Fliegers beginnt. | |
Doch die Polizisten halten sie hin. „Ich wurde von Warteschleife zu | |
Warteschleife geschickt. Ich habe mich echt verschaukelt gefühlt.“ | |
Gleichzeitig ist es zu spät, um einen Richter zu erreichen, der den | |
Beschluss durchsetzen könnte. Die Polizei lässt Beyene nicht gehen. Um | |
17.23 Uhr wird der Asylfolgeantrag vom Bamf als unzulässig abgelehnt. Doch | |
das erfahren Claire Deery und Beyene erst, als ihnen am 30. März das | |
Schreiben zugestellt wird. Deery sagt: „Das bedeutet aber, dass die | |
Abschiebung vor der Zustellung des Bescheids des Bamf erfolgte und wir | |
somit gar keine Möglichkeit hatten, rechtlich dagegen vorzugehen.“ | |
Ist es das wert? Die Abschiebung von 17 Personen in ein Land, in dem zu | |
diesem Zeitpunkt ein Bürgerkrieg herrscht, dessen Verlauf nur schwer | |
abzuschätzen ist. Darunter ein schwerkranker Menschenrechtsaktivist mit | |
Schwerbehindertenausweis. Eine 60-jährige Frau, die seit neun Jahren in | |
Deutschland lebt, die Äthiopien zunächst nicht mal als Staatsbürgerin | |
anerkennen wollte. Und ein junger Mann, der seit Jahren auf dem deutschen | |
Arbeitsmarkt integriert ist. 17 Abschiebungen zum Preis von 430.000 Euro, | |
gezahlt von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex – und somit von | |
europäischen Steuergeldern. | |
„430.000 Euro! Die schaden Deutschland. Die hätten das Geld besser den | |
Armen oder den Hungernden geben können, stattdessen schieben sie uns ab!“, | |
sagt Lemlem Beyene. Währenddessen versuchen die jeweils zuständigen | |
Ausländerbehörden das Geld von den Abgeschobenen einzutreiben. Wenige Tage | |
nach der Abschiebung bekam Hussen Eshetu eine Rechnung über 4.813,02 Euro, | |
die er für seine Abschiebung zu zahlen habe. | |
## Zu viert auf 10 Quadratmetern | |
Inzwischen hat die Bundesregierung im Koalitionspakt Änderungen | |
beschlossen: Nach sechs Jahren Duldung sollen abgelehnte | |
Asylbewerber:innen die Möglichkeit bekommen, ein Bleiberecht zu | |
beantragen und die Beschäftigungsduldung soll entfristet werden. In der | |
Vergangenheit musste man ein Jahr geduldet sein, bevor eine | |
Beschäftigungsduldung beantragt werden konnte – ein Jahr, das den Behörden | |
blieb, um abzuschieben. Wäre letzteres bereits umgesetzt worden, oder hätte | |
Abere Yezachew von der Beschäftigungsduldung gewusst, dann hätte zumindest | |
er eine solche beantragen können, sagt Unterstützerin Sonja Berg. | |
Stattdessen versuchen Abere Yezachew, Hussen Eshetu und Lemlem Beyene zu | |
verstehen, wie es weitergehen soll. Noch immer herrscht Krieg im Norden | |
Äthiopiens. Yezachew lebt inzwischen im Erdgeschoss eines Rohbaus in einem | |
Vorort von Gondar auf rund 10 Quadratmetern, die er sich mit drei Freunden | |
teilt. Bei seiner Ankunft hatten ihm Mitarbeiter einer Hilfsorganisation am | |
Flughafen einen Flyer in die Hand gedrückt, darauf die Zeichnung einer | |
Schwarzen Frau, die einer anderen in die Arme fällt. Darüber steht: | |
„Reintegration Assistance Guide for Returnees – Nothing is like home!“ | |
Yezachew hat niemanden hier. Seine Eltern leben in einem Dorf außerhalb der | |
Stadt, er trifft sie nur selten. „Ich schäme mich, ich habe nichts“, sagt | |
er. Nach seiner Rückkehr habe er einen Antrag bei der EU-Initiative ERRIN | |
gestellt, um Unterstützung zu beantragen. Er sagt, er brauche Bargeld für | |
die Miete, aber das gibt es nicht. Stattdessen bekommt Yezachew einen | |
Rasierapparat und einen Plastikstuhl. „Sie haben gesagt, ich soll einen | |
Friseursalon aufmachen.“ Er lacht müde. „Ich habe noch nie vorher Haare | |
geschnitten.“ Er weiß: Es gibt keinen Weg zurück. Er wird nicht noch einmal | |
sein Leben auf dem Mittelmeer riskieren. | |
Auch Hussen Eshetu ist bei Freunden untergekommen. Seit seiner Rückkehr hat | |
er seinen Vater erst einmal gesehen. Auch er spricht von der Scham, die ihn | |
daran hindert, den Verwandten unter die Augen zu treten. Und den | |
„Familienclan“, den das Gericht beschrieb? Den gibt es nicht. Zu den | |
Geschwistern hat er keinen Kontakt mehr. | |
Dafür braucht er jeden Tag seine Tabletten gegen die Depressionen, die | |
Posttraumatische Belastungsstörung. 300 mg Quatipin, 100 mg Seratalin, 50mg | |
Quatipin retard. Alle drei Monate schickt ihm Hanns-Georg Schmidt ein | |
Päckchen mit den Medikamenten, weil Hussen sie in Addis Abeba nicht findet. | |
Wenn er von seiner Zeit in Deutschland spricht, treten ihm die Tränen in | |
die Augen, wenn er von der Abschiebung spricht, zittert er. Seine einzige | |
Hoffnung ist Schmidt. Der hat zuletzt eine Petition beim deutschen | |
Bundestag eingereicht, in der Hoffnung, dass dieser überprüft, ob das | |
Asylverfahren korrekt durchgeführt wurde. Schmidt sagt: „Es ist die letzte | |
Möglichkeit, die uns noch bleibt“. | |
Lemlem Beyene geht nur von der Wohnung ihrer Freundin in die Kirche. Wenn | |
sie an den Kaffeeständen mit ihren bunten Plastikschemeln vorbeiläuft, an | |
den Schuhputzerjungen und den Arbeiter:innen, die morgens und abends in | |
hundert Meter langen Schlangen auf die Kleinbusse warten, die sie in die | |
Stadt hinein- oder aus ihr hinaustragen, dann spürt sie die Blicke | |
vermeintlicher Agenten. Bildet sie sich das ein, oder sind sie wirklich da? | |
Beyene will den Blicken entkommen. | |
Zwei Verfahren sind noch anhängig, sagt Beyenes Anwältin Claire Deery. Das | |
Asylfolgeverfahren gegen dessen negativen Entscheid sie Klage eingelegt | |
hat. Und das Rückführungsverfahren, mit dem sie gegen die unrechtmäßige | |
Abschiebung vorgeht. Deery rechnet sich gute Chancen aus, die Verfahren zu | |
gewinnen, doch bis sie entschieden sind, können Jahre vergehen. | |
Währenddessen läuft Beyene ängstlich durch Addis Abeba. Den Glauben an den | |
Rechtsstaat hat sie verloren. Gott sei der Einzige, auf den sie sich | |
verlassen könne. | |
24 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bartholomäus von Laffert | |
Caroline Laakmann | |
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