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# taz.de -- Historiker Süß über Solidarität: „Kein Wohlfühlbegriff“
> Ob Pandemie oder Ukrainekrieg: Alle reden von Solidarität. Aber was
> bedeutet sie genau? Ein Gespräch mit Historiker und Buchautor Dietmar
> Süß.
Bild: Freiwillige Helfer*innen gibt es seit Kriegsbeginn viele – auch hier am…
taz: Wann waren Sie das letzte Mal solidarisch, Herr Süß?
Dietmar Süß: Wir haben uns als Familie finanziell und zeitlich in der
Unterstützung ukrainischer Geflüchteter engagiert. Aber mehr möchte ich
dazu gar nicht sagen, weil das unsere individuelle Entscheidung ist.
Der Revolutionär Kurt Eisner schrieb 1908, dass Solidarität nicht aus dem
Herzen, sondern aus dem Kopf kommt. Demzufolge müsste bei Ihnen zu Beginn
eine Überlegung gestanden haben, oder?
Bei mir – aber bei Kurt Eisner natürlich auch. Eisner redet über diese Idee
von Solidarität als „Baumeister einer neuen Welt“, in der etwas anderes
entsteht als das, was Eisner wahrscheinlich eine Form von gefühlsduseliger
Barmherzigkeit bei den Religiösen genannt hätte. Er hätte gesagt: Diese
Solidarität entsteht aus so etwas wie einem klassenspezifischen
Bewusstsein. Das meinte er, wenn er vom Kopf sprach, in dem die Solidarität
entsteht.
Und was braucht es noch?
Solidarität umfasst immer mindestens drei Dimensionen. Solidarität ist eine
Form von sozialer Beziehung zwischen Mitgliedern einer Gruppe, die sich
emotional verbunden fühlen. Diese Emotionalität gehört zum Kopf ganz
wesentlich mit dazu. Zweitens braucht sie so etwas wie eine gegenseitige
Erwartung von Hilfe im Bedarfsfall. Und drittens braucht es die Annahme,
dass das eigene Handeln eine besondere Form der Legitimität hat, also ein
kämpferisches oder politisches Bewusstsein.
Die Vorstellung, dass man innerhalb einer bestimmten Gruppe solidarisch
ist, zum Beispiel im Wohlfahrtsstaat, schließt andere notwendigerweise aus:
Ihr seid Geflüchtete, also partizipiert ihr nicht.
Solidarität ist kein Wohlfühlbegriff. Wir haben uns angewöhnt, ihn in der
öffentlichen Debatte als eine Umschreibung für das Gute, Gerechte, für ein
allgemeines Wohlfühlempfinden zu gebrauchen. Der Solidaritätsbegriff ist
aber alles andere als harmonisch. Und ja, in der Solidarität steckt immer
eine Annahme von „wir“ und den „anderen“. Diese Konstruktion prägt die
Geschichte dieses Begriffs und auch seiner sozialen Praktiken seit seiner
Entstehung als moderner Begriff mit, also seit dem 19. Jahrhundert.
Das heißt, Solidarität ist Eigennutz in einer Gruppe?
Es gibt ein Spannungsverhältnis, das diesem Begriff nicht erst heute,
sondern seit seiner Entstehung innewohnt: das Spannungsverhältnis zwischen
Universalität und Partikularität, also zwischen den gruppenbezogenen Formen
der Vergemeinschaftung von Nation, Familie, dem sozialen Milieu und dem
Anspruch, dass es jenseits dieser Gruppe auch noch andere Formen von
Bindungen gibt.
Es wird also immer jemand ausgeschlossen.
Das prägt schon die Geschichte der Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegung.
Wenn wir auf die frühen Darstellungen zur Geschichte des 1. Mai schauen,
dann sieht man da ein Heer tanzender Arbeiter, bisweilen auch den Globus
umspannend, also durchaus nationale Grenzen überschreitend. Aber zwei
Gruppen sieht man im späten 19. Jahrhundert nicht: Das sind Frauen und das
sind migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, also die nichtweißen
Arbeiter.
Noch einmal zu der verklärten Sicht auf die Solidarität: Es hat doch immer
wieder Solidarität gerade von denen gegeben, die selbst nicht viel haben,
also international von Arbeiter:innen für Streikende in England oder
für Hungernde in Russland. Liegt da nicht auch ein sehr idealistisches
Element jenseits von Hilfe, die man für sich erhofft?
Unbedingt. Insbesondere in der Arbeiter- oder der Frauenbewegung können wir
beobachten, dass das Spezifische der Solidarität genau darin besteht,
solche Grenzen partikularer Vergemeinschaftung immer wieder zu
überschreiten. Das unterscheidet sie von Begriffen wie Kollegialität oder
Kameradschaft: dass es zu Kooperationen zwischen Menschen kommt, die sich
nicht unmittelbar persönlich kennen. Das hat der französische Soziologe
Émile Durkheim beobachtet, als er darüber nachdachte, wie
gesellschaftliches Zusammenleben in der modernen Welt funktioniert.
Dass es über Solidarität funktioniert, ist doch sehr optimistisch gedacht.
Es ist nicht unumstritten und eine vielleicht zu lineare Idee, aber ich
glaube doch, dass Durkheim einen wichtigen Mechanismus beschreibt: Die
Formen des Zusammenhalts, wie wir sie in vormodernen Gesellschaften etwa
von Familien her kennen, verändern sich in einer modernen kapitalistischen
Welt. Durkheim nimmt an, dass, wenn man in einer arbeitsteiligen
kapitalistischen Gesellschaft miteinander über Arbeitsprozesse verbunden
ist, auch neue Formen der Kooperation und Solidarität entstehen. Anders
gesagt: Wir sehen unser eigenes Schicksal im Schicksal anderer. Unser Leben
hat etwas mit dem Leben anderer zu tun, beispielsweise mit dem Schicksal
von Geflüchteten, das auch auf die globalen Ungerechtigkeiten verweist, für
die wir mitverantwortlich sind.
Hat die Idee der Solidarität andere Formen von Hilfe verdrängt?
Ich glaube nicht, dass die Solidarität die Caritas als Form von Hilfe
abgeschafft hat. Aber sie meint etwas anderes. Die Idee der Caritas, also
von der Barmherzigkeit in den christlichen Kirchen, meint eine Form von
Unterstützung, die, anders als bei der Solidarität, nicht auf dem Prinzip
der Augenhöhe basiert. Caritas kann immer auch eine Form von
paternalistischer Fürsorge sein. Deswegen muss sie nichts Schlechtes sein.
Aber sie meint eben eine andere Form von sozialer Interaktion. Wobei sich
in der Praxis von Hilfe für ganz unterschiedliche Probleme dieser Welt
diese Formen der Unterstützung auch oft überschneiden.
War es echte Augenhöhe oder eher Paternalismus, als sich westdeutsche
Studierende mit ArbeiterInnen aus Lateinamerika solidarisch erklärten?
Ich glaube, man macht es sich zu leicht, wenn man dieser Art der
Unterstützung den Wunsch nach und das Gefühl von Verbundenheit abspricht.
In der Praxis gibt es ja unglaublich viele Widersprüche, die Aktivistinnen
und Aktivisten der Dritte-Welt-Bewegung haben darüber selber intensiv
diskutiert. Das mag eine Geschichte sein, die von überzogenen Erwartungen
geprägt ist, die von Enttäuschungen begleitet ist, bisweilen auch von
mangelnder Sachkunde. Aber ich halte es für falsch, ihnen Zynismus zu
unterstellen.
Und worin liegt die Augenhöhe?
Die Fragen der ungerechten Landverteilung, der demokratisch-sozialistischen
Revolution wurden nicht nur als ein Problem Mittelamerikas, sondern als
Teil einer globalen Auseinandersetzung wahrgenommen. Insofern würde ich das
durchaus als eine Solidaritätsbeziehung sehen. Eine, die auch Ausdruck
einer Pluralisierung von Solidaritätsbeziehungen ist, wie wir sie seit den
70er Jahren beobachten können. Denn hier werden Gruppen aktiv, Studierende,
auch die Kirchen, die bis dahin nicht solidarisch mit der internationalen
Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegungen waren.
Wie zufällig sind diese Beziehungen? Warum erklären sich jetzt so viele
solidarisch mit der Ukraine, aber im Vergleich so wenige mit dem Jemen, wo
die Menschen ebenso in Not sind?
Es gibt in der öffentlichen Wahrnehmung eine deutlich größere gefühlte Nähe
zur Ukraine als gegenüber Geflüchteten aus Syrien oder aus Afrika. Und das
hat ganz sicher auch etwas mit rassistischen Stereotypen zu tun – mit der
Annahme, dass man sich mit Europa näher als mit anderen Räumen dieser Welt
verbunden fühlt. Das ist aber, glaube ich, nur ein Teil. Ein zweiter Teil
gehört ganz sicher auch zu den Lernerfahrungen solidarischer Praktiken aus
den Jahren 2015 und 2016 – seitdem gibt es ein relativ großes
institutionelles Know-how bestimmter Formen der Unterstützung.
Manche Stimmen sagen: Echte Solidarität heißt, die Strukturen, die dem
Problem zugrunde liegen, zu verändern. Geldspenden für die Ukraine seien
daher keine echte Solidarität. Benutzen wir den Begriff zu inflationär
und verwässern damit seinen auch umstürzlerischen Charakter?
Der Begriff hat nicht zuletzt durch die Pandemie eine fast unerträgliche
Form des inflationären Gebrauchs erfahren, die kaum mehr zu erkennen gibt,
was damit denn eigentlich gemeint ist. Wir können die Widersprüche, die in
diesem Begriff stecken, in der Pandemie nicht zuletzt ja auch daran
erkennen, dass es einen großen Ausbruch an Solidaritätsappellen und
nachbarschaftlicher Hilfe gab. Und zugleich aber einen spürbaren
Impfnationalismus und eine ungleiche Verteilung von sozialen
Ressourcen. Oder daran, wie hitzig die Debatten über die Aufnahme einiger
weniger geflüchteter Kinder aus Moria waren, bei denen die Mauern ziemlich
schnell wieder hochgezogen wurden.
Was macht Solidarität wirklich glaubwürdig?
Ich könnte gar nicht genau definieren, was denn nun eine echte und was eine
falsche Solidarität ist. Ich würde auch ungern die Hilfe für Geflüchtete
aus der Ukraine ausspielen gegen andere Unterstützung. Gleichzeitig hätte
ich mir persönlich 2015 eine ähnliche Unterstützung, beispielsweise in der
Frage der Übernahme in die Grundsicherung, gewünscht, wie wir sie jetzt
ziemlich schnell erlebt haben. Da erkennt man eben auch die politischen
Kämpfe, die damit verbunden sind.
Waren Solidaritätserklärungen immer schon ein Mittel, um sich in
politischen Flügelkämpfen abzugrenzen?
Solidarität als politischer Kampfbegriff und die Appelle zur
Vergemeinschaftung sind aus meiner Sicht überhaupt nichts Neues, sondern
eine Kontinuität, die wir seit dem 19. Jahrhundert beobachten können, auch
innerhalb der Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegung in den 20er Jahren
zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Die ist voll von solchen
Solidaritätsappellen.
Während der Pandemie hören wir auch viele solcher Appelle.
Die Pandemie hat die Konjunktur dieses Begriffs noch mal beschleunigt. Aber
es ist nicht lange her, dass auch die alten sozialen Bewegungen, die
Solidarität ursprünglich so groß gemacht haben – also Gewerkschaften und
Arbeiterbewegung –, ihn nicht mehr in das Zentrum ihres Nachdenkens
gestellt haben. Ab und zu ist er in den programmatischen Debatten innerhalb
der Sozialdemokratie in den 2000er und 2010er Jahren aufgetaucht, aber er
hat doch an Bedeutung verloren. Noch vor fünf Jahren wäre das etwas
gewesen, womit Sie wahrscheinlich selbst in der taz kaum mehr jemand
hinterm Ofen hervorgeholt hätten.
Warum ist das jetzt anders?
Ich würde argumentieren, dass die Konjunktur des Solidaritätsbegriffs
zusammenfällt mit der Erosion sozialer Milieus. Wir reden immer häufiger
über Solidarität: jetzt, wo es die lebensweltliche Bindung wie in der alten
Arbeiterbewegung oder den kirchlichen Milieus zunehmend weniger gibt. Aber
erstens ist weder die alte Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung immer
dauerhaft solidarisch gewesen. Und nur, weil Solidaritätsbekundungen
zunehmend als individuelle Entscheidungen gefällt werden, bedeutet das
nicht, dass sie qualitativ weniger wert sind. Daraus können ganz
unterschiedliche Formen von Kooperationsbeziehungen entstehen, die sich
viel stärker an die ganz praktischen Umstände unserer Zeit anpassen.
Wie systemverändernd ist eine Solidarität, die im Kapitalismus zum Beispiel
darin besteht, einfach eine Marke zu wechseln, wenn sie unseren Idealen
widerspricht?
Es stabilisiert natürlich das System, wenn das System der Solidarität der
Kapitalismus an sich ist. Wenn man es aber vielleicht eine Nummer kleiner
macht und Solidarität nicht darauf reduziert, am Ende den Kapitalismus
abzuschaffen, dann steckt im Konsument:innenboykott eine große
politische Entscheidung. In den Boykottkampagnen der 70er und 80er Jahre
gegen das südafrikanische Apartheidregime zum Beispiel wurde nicht der
Kapitalismus gestürzt, aber doch eine ziemlich große Reichweite der
politischen Bewegungen über Grenzen hinaus mobilisiert. Im digitalen
Zeitalter können sich Solidarbeziehungen auch über Klicks und Likes äußern.
Natürlich ist das für jemand, der Solidarität nur in Ortsgruppen oder in
großen kollektiven Aktionen denkt, ziemlich dürftig. Wenn man sich die
soziale Wirklichkeit von Usern ansieht, in der Klicks und Likes durchaus
eine reale Bedeutung haben, dann würde ich das nicht als zu gering
erachten.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch vom beunruhigenden Element der
Solidarität. Was meinen Sie damit?
Dass Praktiken der Solidarität am Status quo, auch an den Verhältnissen
rütteln können, an den Ungerechtigkeiten dieser Welt, könnte man etwas
pathetisch sagen. Sie kostet auch, wenn man beispielsweise über gerechte
Produktion von Gütern oder die Veränderung von Lebensweisen spricht. Und
das ist unbequem. Das tun nicht alle gleichermaßen. Aber es ist doch ein
wichtiger Teil von Solidaritätsbewegungen. Sie haben ein utopisches
Potenzial, und darin unterscheiden sie sich von anderen sozialen
Bewegungen.
Solidarisch nennen sich auch rechtsextreme Gruppierungen, die in der
Pandemie Nachbarschaftshilfe nur für Deutsche anboten.
Die versuchen, den Solidaritätsbegriff mit einem völkischen
Wohlfahrtsstaat neu zu kodieren. Wobei ich der Überzeugung bin, dass es so
etwas wie völkische Solidarität nicht gibt, weil sie mit dem eigentlichen
Kern, mit dem universalen Aspekt, nichts zu tun hat.
Was macht den Solidaritätsbegriff immer wieder so populär?
Ganz sicher das Versprechen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dahinter
steckt die ja auch berechtigte Hoffnung, dass eine zerklüftete, sich
zunehmend ungleichartig empfindende Gesellschaft irgendwie wieder
zusammenhalten könnte. Deshalb verwenden ihn auch ganz unterschiedliche
politische Kräfte – im Übrigen unabhängig davon, was denn ganz konkret mit
gesellschaftlichem Zusammenhalt gemeint ist. Denn das ist ja eine hoch
umstrittene Frage. Aber der Begriff ist in gewisser Weise eine
Konsensmaschine geworden, deren Gebrauch ganz verschiedene politische
Konzepte zu integrieren scheint.
Das heißt, wenn wir uns für die Ukraine engagieren, tun wir das nicht nur
für die Ukraine? Es geht gleichzeitig auch um uns als Gesellschaft, die
dadurch das Gefühl hat, das Richtige zu tun?
Ganz sicher. Solidarisch mit der Ukraine zu sein bedeutet auch eine
gesellschaftliche Konsensfindung. Zugleich werden aber auch die Spannungen
deutlich, in der Frage beispielsweise, wie weit die Solidarität noch
reicht: Sind Waffen Ausdruck von Solidarität? Hier endet der Konsens.
5 Jun 2022
## AUTOREN
Friederike Gräff
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Solidarität
Arbeiterbewegung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Pandemie
Historiker
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Ukraine
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