| # taz.de -- 30 Jahre nach Brandanschlag in Mölln: Idylle mit Brüchen | |
| > Der Brandanschlag von Mölln jährt sich zum 30. Mal. Wie blickt die Stadt | |
| > heute darauf? Und: Werden die Opferfamilien zu wenig einbezogen? | |
| Mölln taz | Schon wieder Mölln! Fast [1][30 Jahre nach den Brandanschlägen] | |
| auf die Häuser türkischer Familien wurde vor einigen Wochen erneut Feuer in | |
| der Kleinstadt östlich von Hamburg gelegt. Unbekannte hatten Flyer | |
| angezündet, die im Eingangsbereich der Moschee angebracht waren. Weil der | |
| Brand früh entdeckt wurde, entstand nur ein kleiner Schaden. | |
| Die Moschee befindet sich in der Altstadt, nur wenige Hundert Meter von den | |
| Orten der Anschläge 1992 entfernt. Bürgermeister [2][Ingo Schäper] (SPD) | |
| verurteilte die „abscheuliche“ Tat. Sie werfe „ein schlechtes Licht auf | |
| Mölln“. | |
| Dabei habe die Stadt „definitiv“ aus ihrer Vergangenheit gelernt. Es gebe | |
| eine offene und solidarische Gesellschaft mit hohem Migrationsanteil und | |
| einer aktiven Flüchtlingshilfe, das Verhältnis zwischen der türkischen | |
| Gemeinde und der Verwaltung sei freundschaftlich. | |
| Das empfindet auch [3][Bundestagsabgeordneter Konstantin von Notz] (Grüne) | |
| so, der in Mölln geboren wurde und seit 2000 wieder dort lebt. Die | |
| Ereignisse von 1992 seien im Bewusstsein der Stadt sehr präsent, sagt er. | |
| Dennoch müsse man sich weiterhin intensiv mit der Tat auseinandersetzen – | |
| auch um wachsam gegenüber aktuellen Bedrohungen zu bleiben. | |
| Besucht man die idyllische Kleinstadt am See, deckt sich der Eindruck mit | |
| den Aussagen der beiden Politiker. In der Haupteinkaufsstraße, in der sich | |
| auch die Moschee befindet, liegen türkische Geschäfte in enger | |
| Nachbarschaft mit Eisdielen und Kleidungsgeschäften. | |
| ## Konsequenzen gezogen | |
| Vordergründig scheint Mölln Konsequenzen aus den rassistischen | |
| Brandanschlägen vor fast 30 Jahren gezogen zu haben. Jährlich finden | |
| [4][Gedenkveranstaltungen] statt, die die Stadt organisiert. Kurz nach den | |
| Brandanschlägen 1992 wurde unter städtischer Mithilfe der Verein | |
| Miteinander leben gegründet. Er soll Menschen unterschiedlicher Kulturen | |
| zusammenbringen, leistet Bildungsarbeit und fungiert seither als | |
| Aushängeschild eines weltoffenen Mölln. | |
| Ali Aygün ist Vorstandsmitglied der türkisch-islamischen Gemeinde und lebt | |
| seit 1974 in Mölln. 1992 wohnte er mit seiner Familie in der Ratzeburger | |
| Straße – dort überlebte er einen der Brandanschläge. Wegen des Feuers in | |
| der Moschee komme er zwar ins Grübeln, Grund zur Panik sehe er jedoch | |
| nicht, sagt der 53-Jährige. Einen rechtsradikalen Tathintergrund könne man | |
| aber nicht ausschließen. | |
| Eine sichtbare rechte Szene existiere in Mölln zwar nicht, sagt Aygün, | |
| Anfeindungen gegenüber Gemeindemitgliedern habe er jedoch schon mehrfach | |
| mitbekommen: „Ich habe ab und zu gehört, dass Jugendliche oder Frauen auf | |
| der Straße angepöbelt wurden. Aber diese Situationen sind nie irgendwie | |
| eskaliert.“ Er selbst habe diese Erfahrungen nicht gemacht. | |
| Allerdings bleibt es nicht immer bei Pöbeleien: 2014 schütteten Unbekannte | |
| Tierinnereien in den Eingang der Moschee. „Einen Monat hat es gedauert, bis | |
| wir den Geruch wegbekommen haben“, sagt Aygün. Einige Jahre später seien | |
| Zeitungsabschnitte bei der Gemeinde eingeworfen worden, auf denen | |
| „Ausländer raus“ und handschriftlich ergänzt „Alle Türken raus aus Mö… | |
| geschrieben stand. Kurz vor dem Interview lag ein Zettel mit Hakenkreuz im | |
| Briefkasten der Moschee. | |
| Für Aygün sind all das Einzelfälle. Dennoch nagen an ihm Zweifel. Mit Blick | |
| auf den baldigen Jahrestag der Anschläge kämen natürlich Gedanken auf: | |
| „Geht das jetzt wieder los? Bisher sind es aber nur Kleinigkeiten, über die | |
| ich schmunzle.“ | |
| ## Immer wieder rassistische Taten | |
| Ganz anders schätzt Ibrahim Arslan die Lage ein. Der 37-Jährige überlebte | |
| den Brandanschlag in der Mühlenstraße als Siebenjähriger lediglich dadurch, | |
| dass seine Großmutter Bahide ihm nasse Decken um den Körper legte. Seine | |
| Großmutter, seine Schwester Yeliz und seine Cousine Ayşe starben bei dem | |
| Anschlag. | |
| Für Arslan ist es leicht zu erklären, warum Menschen mit | |
| Migrationshintergrund rassistische Vorfälle nicht so hoch hängen wollen: | |
| Sie seien schlicht abgehärtet, weil sie in Mölln immer wieder rassistische | |
| Taten registrierten. Auch er selbst sei bei Gedenkveranstaltungen schon | |
| verbal angegriffen worden. „Es kam vor, dass Passanten angefangen haben | |
| rumzuschreien oder auch zu weinen, weil sie meinten, dass wir sie durch | |
| unsere Veranstaltung stigmatisieren“. Auch hätten Leute „Heil Hitler“ | |
| gerufen und seien dann weggelaufen. | |
| Als Arslan 2019 ein Fernsehteam in Mölln begleitete, habe sie ein | |
| vorbeigehender Passant angeschrien, dass sie nicht die Wahrheit über das | |
| Geschehen 1992 wüssten und Arslans Vater das Haus selbst angezündet habe. | |
| „Das ist so eine Geschichte, die in Mölln immer wieder erzählt wurde. Das | |
| ist diese typische Täter-Opfer-Umkehr. So was kommt auch von der | |
| Bevölkerung, die dort lebt.“ | |
| Dass in Mölln viel darüber spekuliert worden sei, ob nicht die Familien | |
| selbst hinter dem Anschlag steckten „ist für uns ein zweiter Anschlag“, | |
| sagt Arslan. Und das Phänomen gebe es nicht nur in Mölln: „Dass nach | |
| solchen Taten immer Familienangehörige aus der migrantischen Community | |
| gesucht werden, die man kriminalisieren kann, ist ein bundesweites | |
| Problem.“ | |
| ## Bündnis Möllner Willkommenskultur | |
| Der nach den Anschlägen gegründete [5][Verein Miteinander leben] besitzt | |
| eine Begegnungsstätte im Bahide-Arslan-Gang. Das Gebäude, die | |
| „Lohgerberei“, befindet direkt am Kurpark, hinter dem zweiten Brandhaus in | |
| der Mühlenstraße, in dem die 51-jährige Bahide Arslan und ihre Enkelinnen, | |
| die Zehnjährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe Yılmaz starben. Das | |
| Bündnis Möllner Willkommenskultur betreibt dort eine Fahrradwerkstatt, ein | |
| Café International und bietet Deutschkurse an. | |
| Mit der Willkommenskultur und dem Verein Miteinander leben hat Ali Aygün | |
| viel Kontakt: „Ich finde, sie machen eine sehr gute Arbeit“, sagt er. „Sie | |
| laufen nicht weg und versuchen wirklich, etwas auf die Beine zu bringen.“ | |
| Ibrahim Arslan dagegen sieht die Arbeit dort kritisch. Seine Familie hat | |
| beim Entstehungsprozess der „Lohgerberei“ mitgeholfen. „Als wir 2007 | |
| angefangen haben, eigene Gedenkveranstaltungen zu organisieren, haben wir | |
| festgestellt, dass die Begegnungsstätte kein solidarischer Ort für unsere | |
| Familie ist“, sagt er. Sie sei eine Begegnungsstätte für die etablierten, | |
| elitären, weißen Deutschen der Stadt. Bei ihren eigenen | |
| Gedenkveranstaltungen hätten die Arslans bei der „Lohgerberei“ vor | |
| verschlossenen Türen gestanden. „Nicht einmal die Toiletten haben sie für | |
| uns zugänglich gemacht.“ | |
| Arslan, der bei der Kraftfahrzeugbehörde in Hamburg arbeitet, organisiert | |
| seit 2013 mit anderen die „[6][Möllner Rede im Exil]“, eine alternative | |
| Gedenkveranstaltung an wechselnden Orten, bei der die Betroffenen im | |
| Mittelpunkt stehen. Zuvor war die „Möllner Rede“ Teil der offiziellen | |
| Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln gewesen, die Familie Arslan war daran | |
| beteiligt, die Redner:innen auszusuchen. Der Stadt, sagt Arslan, seien | |
| die Reden „zu politisch“ geworden. | |
| Auch die Möllner Begegnungsstätte habe nie das Bedürfnis gehabt, sich | |
| „unsere Sichtweise anzuschauen“, sagt Arslan, der seit über fünf Jahren | |
| selbst Bildungsarbeit betreibt, indem er etwa an Schulen geht oder | |
| Workshops gibt. Anlässlich des 30. Jahrestags sei er in diesem Jahr das | |
| erste Mal für einen gemeinsamen Workshop angefragt worden. | |
| „Es ist total witzig zu beobachten: Wann immer die Jahrestage sich runden, | |
| gibt es das besondere Bedürfnis, uns einzubeziehen.“ Arslan fühlt sich für | |
| die Imagepolitik der Stadt ausgenutzt. Diese habe es nach 30 Jahren | |
| [7][immer noch nicht geschafft], gemeinsam mit den Opferfamilien „eine | |
| Gedenkveranstaltung auf Augenhöhe“ zu organisieren. | |
| Mark Sauer vom Vorstand von Miteinander leben weist den Vorwurf, der Verein | |
| arbeite nicht mit den Anschlagsopfern zusammen, zurück: Man habe das | |
| Gedenken „bereits vor vielen Jahren in den Händen gelassen, in die es nach | |
| unserer Meinung gehört, in die Hände der Familien, die von den | |
| Brandanschlägen unmittelbar betroffen waren, und der Stadt Mölln“. | |
| Bürgermeister Schäper will sich zu den „unterschiedlichen Sichtweisen“ | |
| nicht äußern. Der SPD-Mann, der erst seit dem Frühjahr 2022 im Amt ist, | |
| sagt aber, er wolle bei der zukünftigen Gestaltung des Gedenkens „alles | |
| daransetzen, vertrauensvoll und würdevoll mit den Betroffenen | |
| zusammenzuarbeiten“. | |
| Ob das gelingt, müssen dann die Betroffenen entscheiden. | |
| 22 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /30-Jahre-Moelln-Anschlag/!5891887 | |
| [2] https://www.ingo-schaeper.de/ | |
| [3] https://von-notz.de/schlagwort/molln/ | |
| [4] /Die-Morde-von-Moelln-vor-25-Jahren/!5462457 | |
| [5] https://www.verein-miteinander-leben.de/seite/580327/internationale-begegnu… | |
| [6] /Erinnerung-an-den-Anschlag-von-Moelln/!5766784 | |
| [7] /Gedenken-an-den-Brandanschlag-in-Moelln/!5078719 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Fründt | |
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