# taz.de -- 30 Jahre Mölln-Anschlag: Das Zündeln der Mitte | |
> Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte nehmen wieder zu. Gegen die Gewalt | |
> braucht es politisches Durchgreifen – nicht nur am rechten Rand. | |
Bild: Bundesinnenministerin Faeser vor dem abgebrannten Hotel, das ukrainische … | |
In wenigen Tagen werden sich Politiker:innen [1][wieder in Mölln | |
versammeln]. Dort, wo genau vor 30 Jahren drei Menschen in ihrem Haus | |
verbrannten. Zwei Neonazis hatten in der Nacht des 23. November 1992 im | |
Flur des von zwei türkischen Familien bewohnten Hauses Benzin verkippt und | |
Molotowcocktails geworfen. Einige Bewohner konnten sich mit Sprüngen aus | |
dem Fenster retten und verletzten sich dabei schwer. Die 10-jährige Yeliz | |
Arslan, die 14-jährige Ayse Yilmaz und die 51-jährige Bahide Arslan aber | |
starben. | |
Die Tat war damals Ausgeburt einer ungebremsten Hasswelle, zuvor gab es | |
allein 1991 mehr als 330 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte. Einige Orte | |
wurden später zu Chiffren: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, später auch | |
Solingen. Am Freitag nun wird der Opfer des Anschlags von Mölln gedacht. | |
Und die Politik wird wohl wieder mahnen, so etwas dürfe nie wieder | |
geschehen. Dabei geschieht es längst wieder. | |
In Bautzen brannte zuletzt eine Unterkunft für Geflüchtete, davor eine in | |
Krumbach, [2][in Groß Strömkendorf] oder in Leipzig. In Groß Strömkendorf | |
waren 15 Ukrainer:innen im Haus, als der Brand gelegt wurde – es | |
hinderte den oder die Täter nicht. Tote gab es bisher nicht, zum Glück. | |
Noch ermittelt die Polizei. Aber die Signale sind gesetzt, Betroffene | |
wissen sie zu lesen. So wie in den vergangenen Tagen, als in Sehnde bei | |
Hannover ein Mann mit einer Luftdruckpistole auf eine Unterkunft schoss, | |
vor der ukrainische Kinder spielten. Oder in Nordhausen, wo an eine | |
Unterkunft Hakenkreuze geschmiert wurden. | |
65 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte zählt die Polizei bisher in den | |
ersten drei Quartalen diesen Jahres – fast so viele wie im gesamten | |
Vorjahr. Sachbeschädigungen, Schmierereien, aber eben auch Brandanschläge. | |
Dazu kamen 711 Straftaten gegen Geflüchtete außerhalb von Unterkünften. | |
Nach Jahren des Rückgangs solcher Taten ist es eine Trendwende. Und vieles | |
lässt befürchten, dass sich diese noch verschärfen wird. | |
## Mögliche Eskalation | |
Es mutet wie eine hässliche Dauerschleife an. Erst Anfang der Neunziger, | |
als bundesweit Brandsätze flogen und in Mölln ihr tödliches Ende nahmen. | |
Dann 2015, als Geflüchtete aus Syrien kamen, als Pegida, AfD und „Nein zum | |
Heim“-Kundgebungen hetzten und es mehr als 1.000 Straftaten gegen | |
Unterkünfte gab, im Folgejahr fast noch mal so viel. Und nun, da | |
Ukrainer:innen Schutz vor Krieg suchen und Menschen aus anderen Ländern, | |
folgt die nächste Gewaltwelle? | |
Noch ist die Stimmung nicht gekippt. In einer jüngsten Dezim-Befragung | |
zeigte sich knapp jeder zweite Befragte weiter offen dafür, sich | |
ehrenamtlich für ukrainische Geflüchtete zu engagieren. Und während 1992 | |
nach dem Mölln-Anschlag Kanzler Kohl eine Teilnahme an der Trauerfeier als | |
„Beileidstourismus“ ablehnte, reiste nach Bautzen der sächsische | |
Innenminister, nach Groß Strömkendorf auch die Bundesinnenministerin, beide | |
mit deutlichen Worten. | |
Aber die Zutaten für eine erneute Eskalation liegen parat. Kein Tag | |
vergeht, an dem die AfD derzeit nicht wieder über eine „Asylflut“ ätzt, d… | |
gestoppt werden müsse. CDU-Chef Merz warf ukrainischen Geflüchteten | |
„Sozialtourismus“ vor. Und montags gehen, vor allem in Ostdeutschland, | |
Menschen auf die Straße, die ihre Ressentiments auch gegen Geflüchtete | |
richten – und die in Telegramkanälen noch sehr viel deutlicher werden. Es | |
sind nicht wenige, die den Diskurs derzeit vergiften. Und: Krisenzeiten | |
sind von jeher Sündenbockzeiten. | |
## Populismus bekämpfen | |
Dazu beunruhigen die Befunde der gerade veröffentlichte | |
[3][Autoritarismusstudie der Universität Leipzig], die alle zwei Jahre | |
erhoben wird. Zwar wird dort ein Niedergang von geschlossenen, | |
rechtsextremen Weltbildern konstatiert, auf kaum noch messbare 2,7 Prozent | |
der Befragten. Aber deren ideologische Versatzstücke sind keineswegs | |
verschwunden, im Gegenteil. So erklärte fast ein Drittel der Befragten, | |
„Ausländer“ kämen nur hierher, „um unseren Sozialstaat auszunutzen“. … | |
ebenso viele sehen die Bundesrepublik „durch die vielen Ausländer in einem | |
gefährlichen Maß überfremdet“. Und, nicht weniger beunruhigend: Jeder | |
vierte Ostdeutsche erklärte sich bereit, die eigenen Interessen mit Gewalt | |
durchzusetzen. Jeder fünfte Westdeutsche akzeptiert den Einsatz von Gewalt | |
durch andere – beide Werte stiegen zuletzt an. Faustrecht statt | |
demokratischer Aushandlungsprozesse also. Wohin das führen kann, zeigte | |
sich in seiner übelsten Ausprägung schon einmal: „Taten statt Worte“ war | |
auch der Leitspruch des mörderischen NSU. | |
All das zeigt: Rassismus braucht keine Neonazis – die Mitte beherrscht ihn | |
auch. Schon die Bielefelder Mitte-Studien zeugten davon, auch das stete | |
Wiederwählen der AfD in die Parlamente weist darauf hin. Oder zuletzt auch | |
die Befunde der Soziologen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, die | |
bürgerlichen Querdenkern einen „libertären Autoritarismus“ attestierten, | |
deren Freiheitsstreben sich in Demokratiefeindlichkeit wendet. | |
Hass aus der Mitte ist nicht neu. Für eine Anschlagsserie im sächsischen | |
Freital wurden 2015 zwei Busfahrer, ein Altenpfleger, Paketzusteller oder | |
Pizzabote verurteilt. Andere Brandanschläge wurden von einem Finanzbeamten | |
oder Feuerwehrmann verübt, nur ein Drittel der Verdächtigen war der Polizei | |
zuvor bekannt. „Ich dachte, ich tue etwas Gutes“, erklärte der Finanzbeamte | |
nach seiner Tat. | |
## Alltäglicher Kampf | |
Es braucht ein Ende der populistischen Zündeleien und ein promptes Kontra, | |
wo immer die Gewalt auftritt. Es braucht forcierte Ermittlungen – zu den | |
aktuellen Bränden ist noch kein Täter gefasst. Den ersten Hasswellen wurde | |
von Politik und Sicherheitsbehörden lange zugesehen, der ersten gar mit | |
Asylrechtsverschärfungen nachgegeben. Die Welle von 2015 aber ebbte erst | |
dann ab, als Täter hohe Haftstrafen erhielten oder in Freital die | |
Bundesanwaltschaft mit einer Terroranklage einschritt. | |
Ibrahim Arslan drängt seit vielen Jahren darauf, diese Dauerschleife zu | |
durchbrechen. Er überlebte den 23. November 1992 in Mölln, als 7-Jähriger. | |
Seine Großmutter Bahide hatte ihn in nasse Handtücher gewickelt – bevor sie | |
in den Flammen starb. Heute kämpft Ibrahim Arslan gegen das Vergessen, er | |
wird auch beim Gedenken am Freitag sprechen. Warum der Hass auch nach Mölln | |
nicht endete, wie sich danach ein mordender NSU bilden konnte, fragte ihn | |
die taz einmal. „Weil es in diesem Land einen Rassismus gibt, der | |
alltäglich ist“, antwortete Arslan. Der Kampf muss dort beginnen. Im | |
Alltag. In der Mitte. | |
11 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gedenken-an-den-Anschlag-von-Moelln/!5848349 | |
[2] /Brandanschlag-in-Mecklenburg-Vorpommern/!5889841 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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