| # taz.de -- Gedenken an den Anschlag von Mölln: Erinnern heißt nicht verzeihen | |
| > Trauer mischt sich mit Kritik. Mit „Mölln 92/22“ erinnert im Schauspiel | |
| > Köln Nuran David Calis an den tödlichen Anschlag in Mölln vor 30 Jahren. | |
| Bild: „Mölln 92/22“ am Schauspiel Köln – eine dokumentarische Inszenier… | |
| Deutschland im Herbst 1992. In der schleswig-holsteinischen Kleinstadt | |
| Mölln werden am 23. November von zwei neofaschistischen Tätern | |
| Brandanschläge auf zwei Häuser verübt. Im Haus der Familie Arslan sterben | |
| dabei drei Menschen. Die 51-jährige Großmutter Bahide Arslan, ihre | |
| zehnjährige Enkelin Yeliz Arslan und die vierzehnjährige Cousine Ayşe | |
| Yılmaz, die zu Besuch aus der Türkei ist. Weitere Familienmitglieder | |
| erleiden, wie neun Bewohner im zweiten Haus, auf das zuvor | |
| Molotowcocktails geworfen wurden, schwere Verletzungen. Seitdem hat sich | |
| das Leben der Angehörigen und Überlebenden dramatisch verändert. | |
| In die Trauer und den Schmerz über den Verlust ihrer Familienmitglieder | |
| mischen sich die Wut und der Zorn darüber, dass den Betroffenen ein | |
| selbstbestimmtes Gedenken an die Tat von offizieller Seite verweigert wird. | |
| Hier setzt die dokumentarische Inszenierung von Regisseur Nuran David Calis | |
| an. | |
| Die Schauspieler*innen İsmail Deniz, Kristin Steffen und Stefko | |
| Hanushevsky erinnern an die Ereignisse von Mölln und an eigene Erfahrungen | |
| in den frühen 1990er Jahren. Der Blick zurück zeigt noch einmal auf, in | |
| welchem historischen Kontext der Anschlag steht. Die Versäumnisse während | |
| der Wiedervereinigung, als ein aufblühender Nationalismus Ausgrenzung statt | |
| Vielfalt propagierte und so Rechtsextremismus und Rassismus gefährlichen | |
| Auftrieb verschaffte, führten zu zahlreichen Morden an Migrant*innen wie | |
| in Hoyerswerda, Rostock oder Solingen. | |
| Das Bühnenbild von Anne Ehrlich besteht aus weißen, beweglichen Wänden, die | |
| auch schon in früheren Inszenierungen von Calis wie „Die Lücke“ zum Einsa… | |
| kamen. Sie dienen als Projektionsfläche, auf denen im Laufe des Abends in | |
| Videos Interviews mit Betroffenen und Expert*innen (Video & Interviews: | |
| Karnik Gregorian) zu sehen sind. | |
| Gleichzeitig zeichnen die drei Schauspieler*innen Teile des | |
| Bühnengeschehens auf und setzen damit dramaturgische Akzente. So filmt | |
| Kristin Steffens beispielsweise Titelseiten von damaligen Ausgaben des | |
| Spiegels ab, auf denen rassistische Ressentiments noch befeuert wurden. | |
| ## Die Verletzbarkeit der Geborgenheit | |
| Im Zentrum der Bühne blickt das Publikum in ein komplett eingerichtetes | |
| Jugendzimmer mit Plakaten an den Wänden von beliebten Popgruppen und | |
| Fernsehstars der 1990er Jahre. Es ist ein Blick in ein ganz normales | |
| Zuhause. Ein Zuhause, in dem sich die Familie sicher und geborgen gefühlt | |
| hat. Eine Sicherheit, die ihr auf brutale Art und Weise von den Mördern | |
| genommen wurde. Wenn gegen Ende das Ensemble den Wohnkubus in drei Teile | |
| aufschiebt, wird die Verletzlichkeit besonders spürbar. Hier ist etwas | |
| unwiederbringlich zerstört worden. Die drei Wände, stellvertretend für die | |
| drei Toten, bleiben als Mahnmal zurück. | |
| Es ist eine diskursive Dynamik, die das Bühnengeschehen bestimmt und | |
| vorantreibt. Die Wortbeiträge sind dabei getragen von dem Willen, das | |
| gängige Narrativ im Umgang mit rassistischen Gewalttaten umzukehren. Eine | |
| neue Perspektive auf Täter*innen und Opfer wird eingenommen. Die | |
| angeblichen Einzeltäter werden eingeordnet in ein rassistisches und | |
| rechtsextremes Umfeld. Gleichzeitig bekommen die Opfer und ihre ganz | |
| persönlichen Schicksale Gesicht und Stimme. Die Mutter von Yeliz und ihr | |
| damals erst acht Monate alter Bruder kommen in ihrem Schmerz zu Wort. Beide | |
| wirken bis heute traumatisiert. | |
| Wehrhaft und wortgewandt zeigt sich Ibrahim Arslan in dem eingespielten | |
| Beitrag. Der damals Siebenjährige überlebte den Anschlag nur, weil ihn | |
| seine Mutter in nasse Decken wickelte. Eindringlich wiederholt der | |
| langjährige Aktivist in der Antirassismusarbeit seine Forderung, dass | |
| Deutschland endlich aufhören müsse, das Gedenken an die Taten Institutionen | |
| zu überlassen, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg hier | |
| Deutungshoheit demonstrieren. | |
| Wohin so eine Gedenkpolitik hinführt, die für [1][Ibrahim Arslan] keine | |
| Solidarität ist, sondern reine Imagepolitik, wird ganz zum Schluss der | |
| Premiere anschaulich. | |
| ## Ungelesene Briefe | |
| Die beiden Arslan-Brüder bekommen als Premierengäste die Gelegenheit, auf | |
| der Bühne zu sprechen, und Ibrahim Arslan erzählt von einem Skandal, der | |
| erst in jüngster Zeit sichtbar wurde. 27 Jahre lang lagen annähernd 1.000 | |
| Briefe, Solidaritäts- und Beileidsbekundungen an die Angehörigen im Archiv | |
| der Stadt Mölln. | |
| Erst durch einen Zufall bekam Ibrahim Arslan Einblicke in die | |
| Schriftstücke, die er mittlerweile alle gelesen hat. Die Chance, über die | |
| Briefe politische Kontakte aufzubauen, wurde für ihn durch das Zurückhalten | |
| unwiederbringlich vertan. Der Auftritt der beiden Gäste ist der würdige | |
| Schlusspunkt für einen aufwühlenden Theaterabend. „Erinnern ist nicht | |
| verzeihen“, bekräftigt Stefko Hanushevsky die Intention des | |
| dokumentarischen Stücks, das kein kathartisches Wohlbefinden beim Publikum | |
| auslöst, sondern es mit unangenehmen, aber wichtigen Wahrheiten und Fragen | |
| nach Hause schickt. | |
| 11 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Norbert Raffelsiefen | |
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